Johannes Leicht verantwortet als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Lindenstraße die Bereiche Forschung und Sammlung.

von Johannes Leicht

In der Gedenkstätte Lindenstraße wird an die Betroffenen von politischer Verfolgung und Gewalt in den unterschiedlichen Diktaturen des 20. Jahrhunderts am historischen Ort erinnert. Das ursprünglich 1734–1737 im Potsdamer Stadtzentrum als Wohnhaus für den militärischen Stadtkommandanten errichtete Gebäude in der Lindenstraße 54 beherbergte ab 1820 zunächst das Stadtgericht mitsamt Gefängnistrakt im Hinterhof und nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 das Untersuchungsgefängnis des Amts- und Landgerichtes Potsdam.

Ort der Diktaturgeschichte

Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten entwickelte sich die Lindenstraße 54/55 zu einem Ort ideologisierter und rassistischer Strafjustiz: Ein sogenanntes Erbgesundheitsgericht entschied von 1934–1944 in mehr als 4.000 Fällen über Zwangssterilisationen. Das im selben Haus ansässige Amtsgericht verurteilte seit 1939 hunderte Zivilist:innen und Zwangsarbeiter:innen selbst wegen geringsten Verstößen wie Lebensmitteldiebstahl oder Handel mit gestohlenen Nahrungsmitteln zu unverhältnismäßig hohen Strafen. Zudem waren viele der vor dem seit Herbst 1943 auch in Potsdam tagenden Volksgerichtshof Angeklagten in der Lindenstraße inhaftiert. Das Sondergericht verhängte in menschenunwürdigen Prozessen mindestens 55 Todesurteile. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs beschlagnahmte der sowjetische Geheimdienst den Gebäudekomplex und nutzte ihn bis 1952 als zentrales Untersuchungsgefängnis im Land Brandenburg und als Verhandlungsort von Militärtribunalen, die langjährige Haftstrafen und mehr als 120 Todesurteile fällten. Verurteilt wurden die Betroffenen als Nationalsozialist:innen, Kriegsverbrecher:innen, Vaterlandsverräter:innen, Profiteur:innen sowie als vermeintliche und tatsächliche Gegner:innen der sowjetischen Besatzungsmacht. Im Anschluss übernahm das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR den Haftort als zentrales Untersuchungsgefängnis für den Bezirk Potsdam. Bis 1989 litten hier 6.000–7.000 Inhaftierte, denen zumeist politische Delikte vorgeworfen wurden, an menschenrechtswidrigen Haftbedingungen und Verhörmethoden.

Ort der Demokratiegeschichte

Die fast 170-jährige Nutzung des Ortes als Gerichts- und Gefängniskomplex wird gerahmt von zwei eindeutig demokratischen Verwendungen des Gebäudes: Von 1809 bis 1817 tagte in ihm die erste von Potsdamer Bürgern gewählte Stadtverordnetenversammlung, die einen wichtigen demokratischen Schritt auf dem Weg zur kommunalen Selbstverwaltung bildete. Nach der Rückgabe des Hauses durch das MfS an die Stadt Potsdam zum Jahreswechsel 1989/90 zogen schließlich politische Gruppen und neu gegründete Parteien mit ihren Büros ein, um die ersten freien Wahlen im März 1990 vorzubereiten. Sie verwandelten das „Lindenhotel“, wie es von den Inhaftierten ironisch bezeichnet wurde, in ein „Haus der Demokratie“.

Ort des Gedenkens und Erinnerns

Der Gebäudekomplex in der Lindenstraße (heute: 54/55) vereint die dunkelsten Kapitel deutscher Diktaturgeschichte mit lokalen Höhepunkten der Demokratiegeschichte. Diesen einzigartigen historischen Ort erhob die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung 1995 zur Gedenkstätte und überführte ihn 2015 in eine Stiftung bürgerlichen Rechts. Die Lindenstraße erinnert als ein zentraler Gedenk- und Bildungsort in Brandenburg an die politische Verfolgung sowie Haft in der NS-Diktatur, der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR, aber auch an die Überwindung der SED-Diktatur durch die Friedliche Revolution 1989/90.

Ort des Vermittelns und Forschens

Die Gedenkstätte eröffnet mit partizipativen Bildungsformaten und dialogischen Angeboten multiperspektivische, transparente und kontroverse Zugänge zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte politischer und rassistischer Verfolgung und Haft im 20. Jahrhundert. Methodische Vielfalt und kreative Präsentationsformen wecken vor Ort das Interesse für diese Themen. Aktivierende Methoden stärken die Kompetenzentwicklung der wichtigsten Zielgruppen, insbesondere Schüler:innen und Gruppen der Erwachsenenbildung, aber auch ehemalige Inhaftierte, Betroffene und deren Angehörige sowie die Stadtgesellschaft. Im historischen Gebäude beleuchtet eine Dauerausstellung dessen wechselvolle Geschichte. Sonderausstellungen, Zeitzeug:innengespräche, Veranstaltungen, Projekttage und Weiterbildungen ergänzen das Angebot. Das Fundament des individuellen Erinnerns, des würdigen Gedenkens und der historisch-politischen Bildungsarbeit sind die themenbezogene Sammlung, die dokumentarische Erschließung sowie wissenschaftliche Erforschung von Quellen, Objekten und lebensgeschichtlichen Erinnerungen im Kontext von Diktatur- und Demokratiegeschichte.

 

Literatur

Hertle, Hans-Hermann/Schnell, Gabriele: Gedenkstätte Lindenstraße. Vom Haus des Terrors zum Potsdamer Haus der Demokratie, Berlin 2014.

 

Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße

Lindenstraße 54

14467 Potsdam

Tel.: 0331 971 89 000

E-Mail: info [at] gedenkstaette-lindenstrasse [dot] de

Homepage: www.gedenkstaette-lindenstrasse.de

 

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