Dr. Katja Makhotina ist promovierte Osteuropahistorikerin und vertritt derzeit die Professur für osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn.

von Dr. Katja Makhotina

Wozu erinnern? Einmal hielt ich einen Vortrag über den Holocaust in Osteuropa vor einer Schulklasse in Köln. Ich erzählte von den Schicksalen jüdischer Menschen aus Litauen, die im gleichen Alter wie meine Zuhörer:innen waren, als der Holocaust begann. Die Jugendlichen waren tief berührt, als sie über die Selbstzeugnisse der Überlebenden hörten – vom Leid der Trennung der Familien im Ghetto, vom Überleben und ihrer Flucht, von der Zeugenschaft am Mord an den eigenen Eltern. Von den Massenerschießungen insbesondere von Juden und Jüdinnen durch die Deutschen mit Unterstützung lokaler Helfer hinter der Ostfront – dem Holocaust by bullets – hörten die Jugendlichen zum ersten Mal. Das Wissen über die blutige Spur der Wehrmacht an der Ostfront während des Zweiten Weltkrieges – und dazu gehört auch die Vernichtung des litauischen Judentums – ist bis heute kaum verbreitet.

Die Überlebenden hingegen wussten genau, warum sie erinnerten. Es ist die gefühlte Pflicht, Zeugnis abzulegen für jene, die tot sind. Fania Brancovskaja, eine Holocaustüberlebende aus Litauen, erklärte es so: „Ich werde oft gefragt: Ist es nicht schwer für dich? Ich meine, ja, es ist schwer für mich. Aber diejenigen, die in Ponar (Massenerschießungsstätte vor Vilnius, K.M.) liegen, die können nicht mehr aufstehen. Solange ich noch kann, halte ich es für meine Pflicht, Zeugnis abzulegen.“ Oft spielt auch die empfundene Schuld darüber, dass man selbst überlebte, die anderen aber nicht retten konnte, eine Rolle. Die unvorstellbare Grausamkeit der Erlebnisse während des Krieges hat sich bei den Überlebenden als wiederkehrendes Trauma eingebrannt und wird immer wieder durch Trigger präsent. Dennoch stellten sich die Überlebenden diesem Trauma bewusst, schonungslos gegen sich selbst, denn sie verstanden ihre Erzählung als Mahnung: gegen den Krieg, als Appell für den Frieden. Doch immer wieder wurden sie damit konfrontiert, dass ihre Geschichten nicht gehört werden wollten. Sie wurden stattdessen belächelt, nicht ernst genommen, bemitleidet.

Alle, die sich mit der Geschichte des Holocaust wissenschaftlich oder erinnerungskulturell beschäftigen, kennen dieses Unverständnis. Die jüdische Philosophin Simone Weil schrieb einmal, dass es sehr schwierig sei, einem Leidenden Aufmerksamkeit zu schenken (Weil 1961: 108). Auch das Leiden an sich ist äußerst schwer zu kommunizieren – und noch schwerer wahrzunehmen, wenn es um das Leiden der Anderen geht (Wiedemann 2022). Das zeigt sich auch im Umgang mit frühen Zeugnissen des Holocaust nach Kriegsende: Elie Wiesel fand im Frankreich der 1950er keinen Verleger für seine Erinnerungen „Die Nacht“, Primo Levis Erstveröffentlichung „Ist das ein Mensch?“ blieb in Italien nahezu unbeachtet, und in der US-amerikanischen Bühnenfassung des „Tagebuchs der Anne Frank“ wurde alles Jüdische Anne Franks gestrichen, um eine Geschichte des Triumphs des menschlichen Geistes zu erzählen. Man war auch im Westen nicht bereit, in die Vergangenheit zurückzublicken. Die „Kultur der Wunde“, also die Bereitschaft, den Kriegsopfern Empathie entgegenzubringen, entwickelte sich erst in den letzten dreißig Jahren.

Nie wieder?

Zurück zu den Schüler:innen in Köln. Wissen sie, warum diese Erinnerung so wichtig ist? Damit es „nie wieder“ passiert, sagen sie. Was aber bedeutet das genau? Leitet es uns, die Nachgeborenen, durch den Alltag? Warum erforschen wir Historiker:innen immer wieder die Geschichte von Gewalt, Verfolgung und Tod? Welche Perspektiven auf das Heute liefert die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit? Was können wir aus der Geschichte lernen? All diese Fragen haben seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine eine neue Aktualität gewonnen.

Die Kritik an der Botschaft „Nie wieder“ ist nicht neu. Die Geschichte dieses Aufrufes geht auf die Überlebenden des Holocaust zurück: In ihren ersten Ausstellungen, Mahnmalen und Gedenkstätten verewigten sie in ihren jeweiligen Sprachen ­– Never Again, Ne Jamais Plus, Nie Wieder, Nikogda bolsche – die Beschwörung, die Menschheit möge sich erinnern und Auschwitz nie wieder zulassen. Ihr Eintreten für die Erinnerung war ein Kampf; das Erzählen über die KZ-Schrecken verband sich mit der Kritik an den Nichts-Wissen-Wollenden der Nachkriegsgesellschaft. Doch bald wurde die Beschwörung zu einer Floskel, mit der man die eigene moralische Überlegenheit demonstrierte. Hannah Arendt kritisierte scharf, dass die Intellektuellen ihrer Zeit durch das Sich-Zurückziehen auf das „Nie wieder“ eine Entscheidung für die Bequemlichkeit trafen (Arendt 1986b). Viel aufrichtiger wäre der Satz Primo Levis: „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen“ (zit.n. Martin 2018).

Die Aushöhlung des „Nie wieder“ zielt auf das Kernproblem der gegenwärtigen Erinnerungskultur: Konkret für Deutschland bedeutet es die Floskelhaftigkeit der Gedenkkultur, die sich mit staatstragenden Ritualen und Kranzniederlegungen zufriedengibt. Doch die Monumentalität der Gedenkstätten bedeutet nicht, dass man mit der Auseinandersetzung mit der Kriegs- und Holocaustgeschichte „fertig“ ist, und die ironische Sentenz des britischen Historikers Timothy Garton Ash von der deutschen „DIN-Norm“ (zit.n. o.V. 2004), nach der Vergangenheitsaufarbeitung abgespult werde, weist auf aktuelle Missstände hin.

Krieg „im Osten“ als Leerstelle

Der Holocaust by bullets auf osteuropäischem Gebiet ist eine Leerstelle im öffentlichen Bewusstsein. Die zahllosen Massaker sind ein Verbrechenskomplex, über den kaum Selbstzeugnisse zur Verfügung stehen. Zudem wird er – obwohl gut erforscht – nicht als integraler Teil des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion erinnert. Und obwohl heutige Schüler:innen meinen, sie würden sich hinsichtlich der „Nazi-Zeit“ sehr gut auskennen, wissen sie kaum etwas vom Raub- und Versklavungskrieg, der Bestandteil des Nationalsozialismus war. Der Holocaust ist im öffentlichen Bewusstsein noch immer ein „Auschwitz-Holocaust“, d.h., ein anonymes, abstraktes, industriell durchgeführtes Verbrechen, dessen Täter (insbesondere in Führungspositionen) zur Verantwortung gezogen wurden. Die Verantwortung der Wehrmachtssoldaten hingegen wurde lange ausgeklammert und verschwiegen.

Klar definierte Bevölkerungsgruppen wurden sofort vernichtet: Juden:Jüdinnen, Sowjetfunktionäre, psychisch Kranke und Behinderte (oder als solche geltende), Sinti:ze und Rom:nja sowie „Partisanen“. Auch Frauen und Kinder wurden als „Partisanenhelfer“ zu Tausenden gequält und ermordet. Der flächendeckende hemmungslose Terror in den Partisanengebieten kostete etwa eine halbe Million Menschen das Leben, vor allem in Belarus und im westlichen Teil Russlands. Auch in den nicht-jüdischen Sowjetbürger:innen sah die deutsche Führung vor allem ein „Seuchen- und Ernährungsproblem“ – wenn diese sich nicht als Arbeitssklav:innen ausbeuten ließen, wurden sie gezielt durch Aushungern getötet, wie bei der Blockade Leningrads oder in den Hungerghettos des besetzten Charkiws und Wizebsk (vgl. Makhotina a). All diese Gewaltstrukturen haben konkrete geografische Namen: Ponar, Malyj Trostenez, Bikierniki, Salaspils, Kaunas Neuntes Fort, Babyn Jar, Berditschiw, Lviv, Chatyn, Korjukivka, Zmievska Balka und so weiter. Doch wer stellt sich freiwillig diesem Schmerz? Viele haben noch nie von diesen Orten gehört.

Wollen wir wissen?

Dass das Interesse an diesen Themen in der deutschen Öffentlichkeit kaum ausgeprägt ist, war zuletzt wieder 2021 zu beobachten, als sich der Beginn des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion zum achtzigsten Mal jährte. Viele Ideen zu medialen Projekten zu diesem Jahrestag stießen bei politischen Entscheidungsträger:innen auf Desinteresse. Es zeigte sich erneut, dass das Problem der Erinnerungskultur nicht das Zu-wenig-Wissen ist, sondern ein Nicht-wissen-Wollen. Eine Ausnahme bildete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der mehrere Orte der NS-Gewalt und des Leids der sowjetischen Kriegsgefangenen besuchte. Mit seiner Rede im Museum Berlin-Karlshorst, in der er den Krieg der Deutschen an der Ostfront als Vernichtungskrieg benannte, setzte er einen gedenkpolitischen Meilenstein.

Insgesamt wird der deutsche Vernichtungskrieg im Osten jedoch immer noch als „Russlandfeldzug“ verstanden, nicht als Krieg gegen den Vielvölkerstaat Sowjetunion (vgl. Makhotina b). Die Russifizierung des Gegners führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der historischen Verantwortung angesichts der Verbrechen, die die Deutschen in der Sowjetunion begangen haben. Eine angemessene Folgerung aus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs bestünde jedoch in der Einsicht, dass Deutschland nicht nur Russland gegenüber die Pflicht zur Übernahme historischer Verantwortung hat, sondern in gleichem Maße gegenüber der Ukraine.

Diese zwei Kernprobleme – Leerstellen der deutschen Erinnerungskultur und Russifizierung der Sowjetunion als Opfer, Feind und Gegner – machen den heutigen Umgang mit der Geschichte des Krieges und des Holocaust zu einem schwierigen Unterfangen. Sie verkürzen auch das Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges in unzulässiger Weise. Sich aufrichtig dieser Erinnerung zu stellen, würde bedeuten, in Bildungsprojekte an den Orten der NS-Gewalt „vor der Haustür“ zu investieren, so wie die Jugendprojekte der Stiftung EVZ es tun. Denn der deutsche Vernichtungskrieg im Osten ist nicht so weit weg, wie man glauben mag: In deutschen Städten gibt es Gräberfelder für mehr als eine halbe Million Menschen (darunter Kinder) aus der Sowjetunion: Diese Menschen – auch Zwangsarbeiter:innen und sowjetische Kriegsgefangene, die als Arbeitssklav:innen ausgebeutet wurden – sind hier überwiegend an menschenunwürdigen Lebensbedingungen gestorben. Diese Erinnerungen tun weh, doch darum geht es: Um die Sichtbarmachung konkreter Lebensgeschichten sowie um konkrete Unternehmen, die Menschen ausgebeutet haben. Es sollte daran erinnert werden, dass es mit der Erinnerung an diese Opfer viel zu lange gedauert hat.

Die Realität tut weh: Wege zur Empathie

Wie können wir also vor dem Hintergrund des Angriffskrieges gegen die Ukraine in Deutschland den Opfern des Zweiten Weltkrieges angemessen gedenken? Zunächst einmal müssen wir zugeben, dass man sich erst dann für die ukrainischen NS-Opfer zu interessieren begann, als die Ukraine durch die extreme Gewalt der russischen Angriffe und Besatzung stärker in den Fokus rückte. Es liegt nun an uns, den deutschen Krieg im Osten präsenter zu machen. Aber wir müssen auch den neuen Geschichten der Gewalt Aufmerksamkeit und Empathie schenken.

Denn heute müssen etliche Menschen aus der Ukraine fliehen. Sie fliehen vor russischen Bomben nach Deutschland, ihre Häuser werden zerstört, Männer verwundet, ihre Kinder haben auch Monate später Angst, wenn sie in Deutschland eine Alarmanlage oder Fluglärm hören. Hinter diesen Panikattacken lässt sich ein Postmemory-Phänomen vermuten: eine transgenerationale Weitergabe der Erfahrungen der Kriegszeug:innen auf die zweite und dritte Generation, so dass auch jene, die den Krieg nicht unmittelbar erlebt haben, ihn auf einer psychischen und physischen Ebene doch „erinnern“ (Hirsch 2012).

Als ich einer befreundeten Holocausthistorikerin, die ebenfalls fliehen musste, schrieb, dass ich sie für ihre Auseinandersetzung mit der grausamen Geschichte deutscher Massenmorde in der Ukraine bewundere, berichtete sie, dass es ihr angesichts der Kriegsrealität heute sehr viel schwerer falle, diese historischen Quellen zu analysieren. Dennoch sehe sie es als ihre Pflicht an, weiter zu forschen, trotz tagespolitischer Konjunkturen. Ukrainische Historiker:innen sorgen sich, wie der aktuelle Krieg gegen die Ukraine unsere Erinnerung an den Holocaust verändern wird; sie fürchten, dass das jüdische Leid während der deutschen Besatzung dadurch in den Schatten gestellt werden könnte. Doch sind sie ebenfalls davon überzeugt, dass eine Erinnerung an die Verbrechen der Deutschen und ihrer lokalen Helfer:innen während des Zweiten Weltkriegs möglich ist, ohne durch Tagespolitik mit all ihren Verzerrungen überlagert zu werden. Indem wir den Betroffenen zuhören, beginnt die Empathie. Denn es ist nicht nur die Erinnerung, die weh tut: Die Realität tut weh.

 

Literatur

Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986a.

Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus und Totalitarismus, München 1986b.

Davies, Franziska/Makhotina, Katja: Offene Wunden Osteuropas. Reisen zu den Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs, Darmstadt 2022.

Hirsch, Marianne: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust, New York City 2012.

Makhotina, Ekaterina: Erinnerungen an den Krieg – Krieg der Erinnerungen. Litauen und der Zweite Weltkrieg, Göttingen 2017.

Makhotina, Ekaterina (a): Der präzise geplante Raub- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, in: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, URL: https://www.asf-ev.de/de/infothek/themen/80-jahre-nach-dem-ueberfall-auf-die-sowjetunion/der-praezise-geplante-raub-und-vernichtungskrieg-gegen-di/ [eingesehen am 05.12.2022].

Makhotina, Ekaterina (b): Leerstellen – Lehrstätten. Über die Orte der Gewalt vor der Haustür, in: Bonner Leerstellen, URL: https://bonnerleerstellen.net/leerstellen-lehrstatten/[eingesehen am 05.12.2022].

Makhotina, Katja: Die Blockade Leningrads in den Selbstzeugnissen der Familie Mojshes, Berlin 2022.

Martin, Marko: Rhetorischer Kitsch verbietet sich, in: Deutschlandfunk Kultur, 26.01.2018, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/holocaust-gedenken-rhetorischer-kitsch-verbietet-sich-100.html [eingesehen am 05.12.2022].

Nelson, Deborah: Denken ohne Trost. Arbus, Arendt, Didion, Mc Carthy, Sontag, Weil, Berlin 2022.

o.V.: Die DIN-Norm des Gedenkens, in: Tagesspiegel, 30.10.2004, URL: https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-din-norm-des-gedenkens-1166728.html [eingesehen am 05.12.2022].

Weil, Simone: Die Gottesliebe und das Unglück, in: dies.: Das Unglück und die Gottesliebe, 2. Aufl., München 1961, S. 108.

Wiedemann, Charlotte: Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis, Berlin 2022.

 

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