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Digitalbasierte Citizen-Science-Ansätze in den Geschichtswissenschaften am Beispiel des Projekts „Kino in der DDR“

Anna-Rosa Haumann, M.Ed., ist seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Citizen Science-Projekt „Kino in der DDR - Rezeptionsgeschichte von unten“ an der Universität Erfurt. Ihr Forschungsinteresse gilt vor allem der Umsetzung von digitalen Themenfeldern im Kontext des historischen Lernens. Darüber hinaus forscht sie seit 2018 als Promotionsstipendiatin im Bereich der empirischen Geschichtsdidaktik zur narrativen Kompetenz im Geschichtsunterricht.  Marcus Plaul, M.A., hat in Leipzig und Oslo Kommunikations- und Medienwissenschaft studiert. Er ist seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Kino in der DDR“ an der Universität Erfurt und promoviert dort zum Thema Wissenschaftskommunikation im Kontext von Citizen Science.      

Von Anna-Rosa Haumann und Marcus Plaul

In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Debatten über mehr gesellschaftliche Teilhabe am wissenschaftlichen Forschungsprozess im Sinne der Citizen Science geführt. Darüber hinaus wurden durch digitale Technologien neue Möglichkeiten geschaffen, um in den Dialog mit einer interessierten Öffentlichkeit als festen Bestandteil des Forschungsprozesses zu treten (vgl. Pettibone & Ziegler 2016: 58-59; Bonney et al. 2014: 1436-1437). Wissenschaft soll somit in Anlehnung an die Public History „for the public, about the public and by the public“ (Cole 1994: S. 11) realisierbar werden.

Durch das Mitwirken von interessierten Bürger*innen bei Forschungsprozessen wie der Datenerhebung, -aufbereitung und -auswertung entstehen sowohl bedeutende Innovationspotentiale für die Generierung neuer gesellschaftsrelevanter Forschungsfragen als auch zusätzliche Chancen für die Erschließung neuer Quellen-, und Materialbestände. Citizen Science wird daher vor allem als eine Zusammenarbeit verstanden, in dem nicht-institutionell gebundene Personen an wissenschaftlichen Prozessen mit ihrem eigenen Wissen und Inhalten partizipieren (Bonn et al. 2016: S. 13-14).

Projektidee

Auf dieser Grundlage entstand Mitte 2019 das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Kino in der DDR - Rezeptionsgeschichte ‚von unten‘“ zur Entwicklung einer Citizen Science-Plattform an der Universität Erfurt. Die Interdisziplinäre Forschungsstelle für historische Medien, die einen Bestand mit rund 150.000 Einheiten an Filmplakaten, Szenenfotos und weiteren Werbematerialen über Kinofilme in der DDR enthält, bildet die Grundlage für die thematisch gebundene Auseinandersetzung mit der Alltagsgeschichte des Kinos in der DDR. Der Bestand umfasst bis auf wenige Ausnahmen alle Filme, die ab etwa Mitte der 1950er Jahre in der DDR gezeigt wurden. Darunterfallen sowohl die DDR-eigenen DEFA-Produktionen als auch alle Produktionen aus dem östlichen und westlichen Ausland, die über den zentralen Progress-Filmverleih zur Vorführung zugelassen waren. Die Sammlung umfasst außerdem die sogenannten „Verbotsfilme“, die von der SED-Führung aufgrund staatlicher Zensur keine Freigabe erhielten.

Forschungsplattform

Forschungsmethodisch bildet die digitale Citizen Science-Plattform, die im Zuge des Projekts entwickelt und evaluiert wurde, das zentrale Werkzeug für die virtuelle Forschungsumgebung. So wird nicht nur der eigene Bestand der Forschungsstelle, sondern vor allem die Wissensbestände und „Wissensdinge“ der Menschen, welche auf der Plattform hochgeladen und kontextualisiert werden, in der viergeteilten interdisziplinären Auseinandersetzung berücksichtigt. Die technische Grundlage zu einer virtuellen Forschungsumgebung als Web-Schnittstelle wird durch die erste Säule der Interdisziplinarität, der Informatik, zur Verfügung gestellt und stetig weiterentwickelt. Die Kommunikationswissenschaft stellt mit einem Zugang über den filmhistorischen Hintergrund die Basis der Öffentlichkeitsarbeit im Sinne der Wissenschaftskommunikation und der anschließenden Projektevaluation dar und bildet damit die zweite Säule. Die Geschichtswissenschaft nutzt sodann, als dritte Säule, die Möglichkeit des Citizen Sciencs-Ansatzes (vgl. Bonn et al. 2016: S. 13-14), um relevante historische Quellen, wie Fotos, Briefe und Zeitungsberichte, persönliche Geschichten zu Kinoerlebnissen und ganz konkrete Fakten über die Standorte von Kinos ausfindig zu machen und diese dann im Anschluss durch die wissenschaftliche Bearbeitung historisch zu kontextualisieren. Die vierte Säule stellt die interessierte Öffentlichkeit dar, die mithilfe der entwickelten Tools auf der Citizen Science-Plattform ihre Wissensbestände und Inhalte teilen kann, zugleich aber auch Zugriff auf bereits vorhandenes Wissen in Form von Dokumente, Statistiken und Daten hat (vgl. Bonney et al. 2014: 1436-1437).

Interessierte Bürgerwissenschaftler*innen

Die Plattform ermöglicht es einer interessierten Öffentlichkeit zum einen, erlebte oder gehörte Kino-Geschichte aus der Zeit zwischen 1949 und 1990 über die digitale Plattform in den Forschungsprozess einzuspeisen. Zum anderen wird ein Quellen- und Informations-Netzwerk über eine Alltagsgeschichte der DDR-Kinos entwickelt, welches anders nicht oder nur kaum erschlossen werden kann, da viele dieser Dokumente nur in den privaten Beständen der Zeitzeug*innen vorhanden sind. Darüber hinaus wäre der Aufwand, dieses Quellenmaterial mit klassischen historischen Methoden zu sammeln und zu erschließen, viel zu groß.

Schließlich ist ein wesentlicher Teil des Projektes zugleich Grundlage einer der zentralen Forschungsfragen, die sich mit den Chancen und Herausforderungen des Citizen-Science-Ansatzes in der Geschichtswissenschaft auseinandersetzt: Es wird die Frage nach den Potenzialen   gesellschaftlicher Partizipation in der Wissenschaft gestellt. Es sollen die unterschiedlichen Narrative und Sinnkonstruktionen, in die das Wissen eingebettet ist, rekonstruiert und zueinander in Bezug gesetzt werden. Inwiefern unterscheiden sich die fach- und nichtfachwissenschaftlichen Sphären? Gibt es jeweils Binnendifferenzierungen? Und auf welche Weise prägt dies den angestrebten Prozess des gemeinsamen Forschens und Interpretierens?

Öffentlichkeitsarbeit

Einhergehend mit der Ausrichtung des Projekts und den damit verbundenen Fragestellungen hängt der Erfolg des Vorhabens maßgeblich von der Beteiligung einer ausreichenden Zahl interessierter Bürger*innen ab, die dem Forscherteam private Zeugnisse und Quellen zur Verfügung stellen. Aus diesem Grund ist es wichtig, eine proaktive Kommunikationsarbeit zu leisten, die gemäß des Citizen Science-Gedankens auf offene, dialog- und beteiligungsorientierte Formate setzt (vgl.  Bonn et al. 2016: 24). Dabei beschränkt sich das Ziel nicht nur darauf, eine außeruniversitäre Öffentlichkeit über das Projekt zu informieren, sondern beabsichtigt gleichzeitig, interessierte Personen in den Forschungsprozess miteinzubeziehen. Bei der Ausgestaltung einer entsprechenden Kommunikationsstrategie musste daher vor allem das Alter der zu erreichenden Zielgruppe berücksichtigt werden. Da zwischen dem Ende der DDR und dem Beginn des Projekts bereits knapp 30 Jahre liegen, war zu erwarten, dass die zu adressierenden Bürgerwissenschaftler*innen mit eigenen Erinnerungen an das DDR-Kino mindestens 45 Jahre und älter sein müssen.

Mit Blick auf diese Zielgruppe und dem digitalen Zugang des Forschungsvorhabens setzten und setzen die Projektinitiator*innen daher auf verschiedene Instrumente der Wissens- und Wissenschaftskommunikation. Diese umfassen zum einen ganz klassische Kommunikationsangebote wie beispielsweise Präsenzveranstaltungen, Workshops, Projektbroschüren und Flyer. Um weite Bevölkerungskreise zu erreichen, spielte auch die traditionelle Pressearbeit in Kooperation mit regionalen und überregionalen Print- und Online-Medien eine wichtige Rolle im Instrumentenkasten.   

Zum anderen bilden elektronische Kommunikationsformen einen weiteren Schwerpunkt in der Projektkommunikation. Hierzu zählt sowohl die Bereitstellung eines Projektblogs als vermittelnde Instanz zwischen virtueller Forschungsplattform und interessierter Öffentlichkeit als auch die Nutzung von Twitter und Facebook im Rahmen einer zielgruppengerechten Online-Kommunikation. Die verschiedenen digitalen Kommunikationsangebote richten sich dabei nicht nur an potenzielle Bürgerwissenschaftler*innen, sondern auch an mögliche Multiplikator*innen der professionellen Medienarbeit sowie weitere Initiativen der Citizen Science-Bewegung (hier vor allem "Bürger schaffen Wissen") oder wissenschaftliche und nicht wissenschaftliche Institutionen, die sich mit der Geschichte der DDR auseinandersetzen.  

Obwohl die bestehende Divergenz in der digitalen Ausrichtung des Projekts und der zu erreichenden Zielgruppe einige Herausforderungen mit sich brachte, ist es den Projektverantwortlichen im Ergebnis gelungen, eine notwendige Schnittmenge zwischen der Projektkommunikation, den Projektzielen und einer interessierten Öffentlichkeit ausfindig zu machen. Dies zeigt sich vor allem in den kontinuierlich wachsenden Nutzerzahlen der Forschungsplattform, die seit ihrem Online-Start im Oktober 2020 inzwischen mehr als 150 Anmeldungen von Bürger*innen verbuchen kann. So wurden bislang rund 400 Kinoeinträge vorgenommen und rund 80 Fotografien von Lichtspielhäusern der DDR sowie technischem Gerät ins Archiv hochgeladen. Außerdem erreichte das Projektteam mehr als 90 Anfragen von Bürger*innen per E-Mail und Telefon, die sich als Zeitzeug*innen unabhängig von der Plattform einbringen möchten. Darunter finden sich nicht nur Kinogänger*innen und -fans, sondern auch Filmvorführer*innen, Kinoangestellte sowie Filmschaffende aus der ehemaligen DDR. Die aus den Gesprächen und privaten Zeugnissen gewonnenen Erkenntnisse über die Rolle des Kinos in der DDR werden in Form eines Blogs auf der Projektseite in regelmäßigen Abständen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die so zur Verfügung gestellten (Zwischen-)Ergebnisse sollen abseits der wissenschaftlichen Debatte auch eine außeruniversitäre Diskussion mit Bürgerwissenschaftler*innen anregen, um damit die digitalen Barrieren ein wenig aufzulösen und neues Wissen auf der Citizen Science-Plattform zu generieren.

Literatur

Bonn, A.; Richter, A.; Vohland, K.; Pettibone, L. et al. (2016): Grünbuch Citizen Science Strategie 2020 für Deutschland. Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Deutsches Zentrum für Integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig, Leipzig; Museum für Naturkunde, Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung (MfN), Berlin-Brandenburgisches Institut für Biodiversitätsforschung (BBIB), Berlin, online abrufbar unter: https://www.buergerschaffenwissen.de/sites/default/files/assets/dokument...

Bonney, R.; Shirk, J. L.; Phillips, T. B.; Wiggins, A.; Ballard, H. L.; Miller-Rus- hing, A. J.; Parrish, J. K. (2014): Next Steps for Citizen Science. Science 343, 1436–1437, online abrufbar unter: http://dx.doi.org/10.1126/science.1251554.

Cole, C. C. (1994): Public History: What Difference Has It Made?, in: The Public Historian 16 (4), 9–35.

Pettibone, Lisa/ Ziegler, David (2016): Citizen Science: Bürgerforschung in den Geistes- und

Kulturwissenschaften, In: Kristin Oswald und René Smolarski (Hrsg.): Bürger Künste Wissenschaft, S. 57-69, online abrufbar unter: https://www.computus-druck.com/press/wp-content/uploads/2017/07/02_Pettibone.pdf 

 

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