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Migrationsgeschichte(n) als Citizen Science: Ostdeutsche Migrationsgesellschaft selbst erzählen

Luise Böhm ist Europäische Ethnologin mit einem Schwerpunkt auf kritischer Migrations- und Rassismusforschung und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt MigOst am Zentrum für Integrationsstudien der TU Dresden. Paolo Le van ist Philosoph, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt MigOst am Zentrum für Integrationsstudien der TU Dresden und politischer Referent im Dachverband sächsischer Migrantenorganisationen e.V. Dr. Karoline Oehme-Jüngling ist Kultur- und Sozialanthropologin, Koordinatorin des Zentrums für Integrationsstudien am Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften der TU Dresden und Leiterin des Projekts MigOst.  Katharina Warda ist Soziologin, Mitarbeiterin im Projekt MigOst und arbeitet als freie Autorin zu marginalisieren Positionen in Ostdeutschland. Nick Wetschel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) im Bereich Volkskunde/Kulturanthropologie. Das ISGV ist Kooperationspartner des Projekts MigOst.  

Luise Böhm, Paolo Le van, Karoline Oehme-Jüngling, Katharina Warda, Nick Wetschel

Wie sprechen wir über die Vergangenheit? Wer ist dabei Teil dieses ‚Wirs‘? Wessen Erinnerungen werden gehört? Und wie lassen sich hier Mitspracherecht und Teilhabe gestalten und vergrößern? Das Citizen Science-Projekt ‚Ostdeutsche Migrationsgesellschaft selbst erzählen‘ (MigOst) nähert sich diesen Fragen im Hinblick auf die jüngere Geschichte Ostdeutschlands. Denn obwohl auch die ostdeutsche Gesellschaft eine kontinuierliche Geschichte der Migration hat, dominieren weiße, mehrheitsgesellschaftliche Perspektiven in der Erzählung ihrer Vergangenheit. Perspektiven von Menschen, die Migration und Migrantisierung erfahren, fehlen oder werden überhört. Ihnen und ihren lebensgeschichtlichen Erfahrungen soll im Projekt Raum gegeben werden. Das Projekt möchte sie ermutigen, ihre eigenen Geschichten zu teilen, an gemeinsamen Narrativen zu arbeiten und diese weiter zu vermitteln. Im Sinn einer engagierten Forschungspraxis dient MigOst damit als Forum, in dem teilnehmende Zeitzeug:innen und das Wissen über ihre Geschichte vernetzt, gemeinsam Hierarchien und Ausschlüsse in Erinnerungskultur und Wissensproduktion hinterfragt und neue Perspektiven entwickelt werden sollen. MigOst verfolgt einen partizipativen Forschungsstil (vgl. von Unger 2014), der eine einseitige wissenschaftliche Aneignung der Lebensgeschichten von Zeitzeug:innen versucht zu vermeiden bzw. reflektiert. Eine gleichberechtigte Mitbestimmung der Forschungsbeteiligten und die kontinuierliche Reflexion der Rolle und Positionalität des Projektteams wird daher in allen Phasen des Forschungsprozesses angestrebt.

Formate der partizipativen Forschung

Die partizipative Forschung bzw. die Vermittlung hierüber entwickelter Erkenntnisse wird in MigOst im Wesentlichen über zwei Formate ermöglicht: Im Format des Erzählcafés arbeiten Forscher:innen und migrantische Vereine mit Zeitzeug:innen, die Migration oder Migrantisierung erlebten oder erleben, und geben Raum für die gemeinsame Produktion von Wissen. Hierüber gewonnene Perspektiven werden im Format von Stadtlaboren reflektiert und in noch zu bestimmenden kulturellen Formaten (z.B. Theater, Ausstellungen, Stadtführungen) einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Die Erzählcafés in Cottbus, Halle und Dresden sind in erster Linie als Austauschforen konzipiert, in denen gemeinsam neue Narrative erprobt und ‚anderen‘ Erzählstrukturen Raum gegeben wird. MigOst lehnt sich methodisch an die ‚Oral History‘ an, deren Ziel die subjektive Deutung von Geschichtsprozessen ist: Im Fokus steht hier die lebensweltliche Alltagsgeschichte, eine situierte ‚Geschichte von unten‘. Ziel der Erzählcafés ist somit das offene Erzählen und Erschließen von Lebenswegen und biographischen Erinnerungen der Teilnehmer:innen. Beim methodischen Vorgehen bietet sich daher die Kombination unterschiedlicher qualitativer Vorgehensweisen an, die kontextsensibel eingesetzt werden, um trotz des wissenschaftlichen Anspruchs die vertrauensvolle Atmosphäre in der Zusammenarbeit mit den Zeitzeug:innen zu bewahren. Ihr Vertrauen bildet einen zentralen Baustein des partizipativen Vorgehens und ist eine Voraussetzung für das Teilen persönlicher, teils traumatischer Erinnerungen und Erfahrungen. Die Erzählcafés werden in offenen Vorbereitungsgruppen  thematisch, teils methodisch und organisatorisch vorbereitet und gestaltet. Die Ideen und Bedürfnisse der Teilnehmer:innen stehen dabei im Vordergrund. Seit September 2021 finden die Erzählcafés als Gruppengespräche statt, um einen individuellen und kollektiven Erinnerungsprozess zu ermöglichen. Dabei werden biografische Erfahrungen und Geschichten, Gegenstände und Dokumente des Alltags aus der DDR, der Wende- und Nachwendezeit sowie auch des gegenwärtigen Alltags gesammelt und gemeinsam ausgewertet. Ab Frühjahr 2022 treten die Erzählcafés in eine zweite Phase, mit der die Gruppe der Teilnehmer:innen weiter geöffnet wird. Im Sinn eines postmigrantischen Gesellschaftsverständnisses, das Migrationsgeschichte als gemeinsame Geschichte versteht (vgl. Foroutan 2019), werden über migrantische Zeitzeug:innen hinaus weitere Menschen aus Cottbus, Halle und Dresden stärker einbezogen, die beispielsweise als Kolleg:innen, Nachbar:innen oder Freund:innen migrationsbezogene Erfahrungen gemacht haben und sich darüber austauschen möchten. Die Erzählcafés sollen damit einen multidirektionalen Erinnerungsprozess (vgl. Rothberg 2012) ermöglichen, der die Gleichzeitigkeit verschiedener Perspektiven in ihrer Unterschiedlichkeit und in ihren Ähnlichkeiten anerkennt.

Außerdem sind in dieser zweiten Phase auch öffentliche Formate wie etwa Stadtspaziergänge, Radiosendungen oder (digitale) Podiumsdiskussionen möglich, bei denen interessierte Teilnehmer:innen als Expert:innen und Referent:innen ihrer Geschichte auftreten können. Darüber hinaus werden begleitend biografische Interviews geführt: mit Teilnehmer:innen der Erzählcafés bzw. weiteren Zeitzeug:innen, die ihre eigene Geschichte ausführlicher bzw. fokussierter teilen möchten. Auch hier soll ein Setting geschaffen werden, das eine weitgehend selbstbestimmte Erzählung zulässt, soweit wie möglich auf steuernde Elemente (wie Leitfragen oder Erklärungen) verzichtet und die Fragenden als Zuhörende versteht. Darauf aufbauend werden ab Anfang 2023 Stadtlabore stattfinden, die der weiteren Auswertung der Ergebnisse und der Entwicklung von kulturellen Formaten dienen. In Kooperation mit Kultureinrichtungen soll die lokale Stadtgeschichte um Migrationsgeschichten erweitert und eine breitere Öffentlichkeit angesprochen werden.

Die Auswertung der Erzählcafés wie Stadtlabore erfolgt in einem kontinuierlichen Prozess. Zum Ausklang der Veranstaltungen werden Ablauf und Ergebnisse gemeinsam mit der Gruppe reflektiert und dokumentiert. Anmerkungen und Rückmeldungen der Teilnehmer:innen werden in den Vorbereitungsgruppen ausgewertet und in die Vorbereitung der folgenden Veranstaltungen einbezogen. Ebenfalls in enger Abstimmung mit den Teilnehmer:innen werden unterschiedliche in den Veranstaltungen erhobene Materialien und die Interviewtranskripte im Lebensgeschichtlichen Archiv des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden auch künftigen Projekten in Wissenschaft und Praxis zur Verfügung stehen.

Die Rolle des MigOst-Projektteams

Um ein partizipatives Vorgehen in allen Schritten des Projekts zu gewährleisten, liegt die Verantwortung des MigOst-Projektteams während der Erzählcafés wie Stadtlabore hauptsächlich bei der Bereitstellung von Infrastruktur und Ressourcen und bei der Organisation und Kommunikation der Veranstaltungen. Ein kontinuierlicher Reflexionsprozess, in den die forschungsethischen Schwierigkeiten eines partizipativen Forschungsvorhabens und die Gefahr einer einseitigen, akademischen Appropriation der Lebensgeschichten aktiv einbezogen werden, wird sowohl persönlich als auch in der Gruppe gefördert; ein aktueller Stand der Überlegungen wurde in Leitsätzen festgehalten. Das Projektteam liefert mit den Erzählcafés demnach vor allem einen Raum, der einen offenen Erfahrungsaustausch unter Zeitzeug:innen zulässt, biographische Kontinuitäten sichtbar macht und die Vernetzung der Teilnehmenden ermöglicht. Das Projektteam kann dies unterstützen, indem es seine theoretische und methodische Expertise mit den Teilnehmenden als Expert:innen ihrer eigenen Geschichte teilt.

MigOst ist ein Projekt des Zentrum für Integration der TU Dresden, des Dachverbands der Migrant:innenorganisationen in Ostdeutschland e.V. und der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg in Zusammenarbeit mit dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde Dresden und dem Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsfroschung (DeZIM).

Das Projekt wird im Rahmen des Förderbereichs Bürgerforschung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Es gehört zu 15 Projekten, die bis Ende 2024 die Zusammenarbeit von Bürger:innen und Wissenschaftler:innen inhaltlich und methodisch voranbringen und Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen geben sollen.

Weitere Informationen zu MigOst finden Sie unter: https://www.damost.de/projekte/migost/

Informationen für Personen, die sich vorstellen können als Zeitzeug:innen am Projekt mitzuwirken, unter: https://www.damost.de/projekte/projekte-migost-/mitmachen/

Literatur

Foroutan, Naika (2019): Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld.

Rothberg, Michael (2009): Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford.

Von Unger, Hella (2014): Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Wiesbaden.

 

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