Dialogue

Themen, Programmatik und Selbstverständnis des Arbeitskreises Homosexuelle Selbsthilfe Lesben in der Kirche. Bericht aus dem Forschungsworkshop II

Judith Geffert hat Literaturwissenschaft und Osteuropastudien in Berlin und Frankfurt (Oder) studiert und arbeitet als freie Radioautor:in zu queerfeministischen und kulturellen Themen. Ihre Masterarbeit verfasste sie zu dem Thema "Lesbisch-feministische Gegenöffentlichkeit in der DDR und Umbruchszeit zwischen 1988 und 1990".

Von Judith Geffert und Ulrike Rothe

 

Das Thema

Die Gruppe „Lesben in der Kirche“ (LiK) entstand 1982 innerhalb des neuen Ost-Berliner Arbeitskreises Homosexuelle Selbsthilfe. Einige der Frauen engagierten sich in der DDR-Friedensbewegung und der Initiative Frauen für den Frieden, bevor sie sich wieder abspalteten und eine eigenständige Gruppe bildeten. Die Geschichte der LiK als erste und bis etwa 1985 einzige Lesbengruppe in der Frauenbewegung der DDR ist im Vergleich zu anderen Frauen- und Lesbengruppen relativ gut aufgearbeitet. Einführende Essays zu den LiK aus dem aktuellen Forschungsprojekt der Kulturwissenschaftlerin Maria Bühner bietet das Digitale Deutsche Frauenarchiv (Bühner, Feministisch, 2018). Zu nennen sind zudem die Ausstellung „Rosarot in Ost-Berlin. Erkämpfte Räume im Umbruch“ am Schwulen Museum in Ost-Berlin, Zeitzeug*innen- und Expert*innengespräche (etwa an der Gedenkstätte Berliner Mauer oder am Lernort Keibelstraße) und natürlich die Oral History-Projekte am FFBIZ Das Feministische Archiv, in denen Interviews mit ehemaligen Akteur*innen geführt und digital präsentiert werden.

Dank dieser und weiterer Erzählungen über die nach ihrem Treffpunkt benannten „Gethsemanelesben“ kennen wir einzelne Akteur*innen, die Orte und die Bedingungen ihres Wirkens, haben eine Vorstellung von den Strukturen und Aktionen dieser Gruppe und können ihre Position in der Gemengelage der oppositionellen Szene einordnen. Ihre Bedeutung als im Vergleich zu anderen Frauengruppen radikal bzw. konsequenter feministisch denkende Formation ist kein der öffentlichen Wahrnehmung völlig fremdes Insiderwissen mehr. Der Forschungsworkshop setzte hier an mit dem Ziel, einen Schritt weiterzugehen und tiefergehend zu fragen: Worin bestand das radikale feministische Denken und Agieren der LiK? Was waren ihre Ideen und Forderungen in ihren programmatischen Schriften? Das von Maria Bühner aufgegriffene Zitat aus einem zentralen Dokument der Gruppe „Wir haben einen Zustand zu analysieren, der uns zu Außenseitern macht“ (Bühner, Zustand, 2017) ließ uns erkunden, wie sie die DDR-Gesellschaft und das Leben als Frauen und Lesben in ihr analysiert haben. Das zentrale Motiv der Gruppe, nämlich den Prozess der Marginalisierung von Lesben in der DDR zu benennen und die eigene Identität mit Hilfe der Gruppe erst einmal zu finden, sollte auch hinsichtlich eines kritischen Potentials befragt werden, das die Situation aller Frauen in der DDR-Gesellschaft spiegelt und widerständig bewertet.

Recherchewege und Quellenauswahl

Resultierend aus dieser skizzierten Fragestellung waren vor allem die Schriften und Dokumente aus der Arbeit der Lesben in der Kirche – interne Programmatiken, Plakate, Flugblätter oder Veröffentlichungen im oppositionellen Rahmen (graue Literatur, kircheninterne Verlautbarungen) – von Interesse. Die wichtigste Anlaufstelle dafür sind die Bestände der GrauZone der Robert Havemann Gesellschaft, der größten und bedeutendsten Sammlung zur DDR-Frauenbewegung. Erneut „gefunden“ wurde hier das bekannte und im Digitalen Deutschen Frauenarchiv bereits veröffentlichte 15-seitige Arbeitspapier aus der Feder von Marina Krug und Gabi Baum. Dieser Text hat den Charakter eines Grundsatzpapiers, das im November 1983 – und damit früh nach Entstehen der Gruppe – innerhalb des programmatisch tätigen Vorbereitungskreises diskutiert und dann von zwei Frauen verfasst wurde.

Als sehr gut für einen zweitägigen Workshop geeignet erwies sich das anderthalbseitige Dokument „das schweigen der frauen ist die macht der männer“, das am Stand der LiK auf der Friedenswerkstatt 1984 ausgelegt wurde. Das Papier wurde nach Auskunft der Zeitzeugin Bettina Dziggel vorab im Vorbereitungskreis der LiK diskutiert und dann von Claudia Radzioch verfasst. Es liefert eine Zustandsbeschreibung von Gewaltverhältnissen, denen Frauen zum Opfer fallen, und erhebt angesichts dessen anschließend Forderungen.

Neben weiteren Funden erwies sich das Dokument „Gespräch“ vom 8. März 1985 aus dem Bestand von Marina Krug als sehr interessant: Sechs Frauen aus dem Vorbereitungskreis, die bekanntesten Namen aus der Anfangszeit der LiK, diskutieren über ihr feministisches Selbstverständnis, über die Bedeutung feministischen Engagements und was unter einer Frauenbewegung zu verstehen ist. Dieses Dokument mutet zwar wie ein Gesprächstranskript an, zeigte dem Forschungsworkshop jedoch seine Grenzen auf, denn trotz komplexer Bemühungen im Vorfeld konnte der Entstehungszusammenhang nicht entschlüsselt werden.

Eine weitere aussagekräftige Quelle stellen die Halbjahresprogramme der regelmäßig stattfindenden Gesprächsabende und Veranstaltungen dar, die vom Vorbereitungskreis organisiert wurden.  

Interviews mit den Protagonist*innen bieten ebenfalls eine wichtige Quellengruppe, allerdings stand früh fest, dass sie – in Auszügen – nur ergänzend oder illustrierend herangezogen werden können, denn die vorhandenen umfänglichen Textquellen sollten im Zentrum des Workshops stehen. Von den Interviews, die in den letzten Jahren vom FFBIZ Das feministische Archiv geführt wurden, lieferte das mit Marinka Körzendörfer wichtige Kontextinformationen zu einzelnen ausgewählten Schriftquellen.

Der Forschungsprozess

Anhand der Quelle „das schweigen der frauen ist die macht der männer“ soll im Folgenden unser Vorgehen exemplarisch beschrieben werden. Um uns der Quelle zu nähern, bestimmten wir zunächst die äußeren Parameter – das Was, Wer, Warum? –, um dann tiefer in die Textarbeit einzusteigen. Der mit Schreibmaschine geschriebene Text lässt sich inhaltlich in drei Teile einteilen. Zuerst werden die Motive der Autorin benannt – über Gewalt gegen Frauen und Mädchen öffentlich zu sprechen und somit die Tabuisierung des Themas durch Staat und Gesellschaft zu kritisieren sowie den Austausch unter betroffenen Frauen zu fördern. Das öffentliche Sprechen wird als Möglichkeit verstanden, sich aktiv gegen die Gewalt zu wehren. Zweitens werden Formen der Gewalt gegen Frauen analysiert, die als Mittel zur Aufrechterhaltung patriarchaler Macht beschrieben wird. Dabei manifestiert sie sich auf körperlicher und psychischer Ebene, sowohl in Form von Geschlagen werden und Vergewaltigungen als auch von Beschämung von Frauen, die Gewalt erfahren haben. Sie zeigt sich im öffentlichen Verschweigen der Thematik, in der Abwesenheit von Beratungsstellen oder belastbarer Forschung, in der Allgegenwart von alltagssexistischen Handlungen und in der Sprache, in der Frauen nicht benannt oder objektifiziert werden. In einem dritten Teil stellt die Autorin Forderungen: Öffentliche Untersuchungen zu Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die Entwicklung von Strukturen wie Frauenhäusern, Frauennachttaxis und Beratungsstellen und vor allem das Schaffen von Räumen („räume, räume, räume, für frauen“), in denen Austausch geschehen und Selbstverteidigung geübt werden kann. Am Ende des Dokuments steht Radziochs Adresse mit der Bitte um Kontaktaufnahme, um gemeinsam zu überlegen, wie die genannten Forderungen durchgesetzt werden könnten.

So aufschlussreich diese inhaltliche Beschreibung ist, so wenig verrät die Quelle, welche Rolle der Text für die weitere Arbeit der LiK gespielt hat, ob er auch auf anderen Veranstaltungen als der Friedenswerkstatt zirkulierte und ob der Aufruf zur Kontaktaufnahme erfolgreich war. Um also nicht nur zu mutmaßen, zogen wir die Programmzettel der LiK aus den Jahren 1984 bis 1990 hinzu. Dort tauchen die Inhalte des Flugblatts regelmäßig auf: Sowohl in den Programmankündigungen, wo immer wieder von „Sprechen statt Schweigen“ oder „Wehren wir uns gemeinsam“ die Rede ist, als auch in wiederkehrenden Gesprächsveranstaltungen zu „Gewalt gegen Frauen“ (19. Mai 1985, 11. Mai 1989), oder zu Vorträgen wie dem von Bärbel Klässner zum Thema „Das Deutsche als Männersprache“ (10. Dezember 1987). Dass es zudem auch eine Selbstverteidigungsgruppe gegeben hat, zeigt ein Foto aus dem Jahr 1986, auf dem zwei Frauen sich mit erhobenen Fäusten gegenüberstehen.

Schlussfolgerungen und Thesenentwicklung

Die Quellenanalyse erfolgte in Kleingruppen. Dabei begleiteten uns folgende Fragestellungen: Welche (queer-)feministischen Ideen und Forderungen formulierten die LiK und was verstanden sie unter Feminismus? Wie beschreiben sie den Prozess ihrer eigenen Marginalisierung als Lesben in der DDR und wie versuchen sie, diese Marginalisierung zu überwinden? Wie betrachten und wie beschreiben sie die DDR-Gesellschaft und das Leben von Frauen in ihr?

Anschließend trafen wir uns in großer Runde, um unsere Ergebnisse zu diskutieren. Eine zentrale Frage, die sich uns stellte, war die nach der Bedeutung von Feminismus für die Lesben in der Kirche. Sahen sie sich selbst als feministisch? Die Standpunkte dazu waren widersprüchlich: Im Zeitzeug*innengespräch, das im Rahmen der Forschungswerkstatt durchgeführt wurde, konnten wir Bettina Dziggel als wichtige Akteurin der LiK direkt fragen und erhielten die Antwort, dass sich die LiK nicht als Feminist*innen verstanden hätten, obgleich sie sich auf „feministisches Terrain“ begaben. Die in den Arbeitspapieren besprochenen Themen seien hauptsächlich in den Vorbereitungskreisen diskutiert worden und in der großen Gruppe kaum auf Interesse gestoßen. In den gesichteten Quellen hingegen taucht der Begriff „Feminismus“ immer wieder auf. Und auch die Themen der LiK finden sich in heutigen feministischen Diskursen wieder.

In unserer Forschungsarbeit konnten wir herausarbeiten, dass sich die feministische Dimension der LiK vor allem in ihrem kritischen Blick auf die DDR-Gesellschaft spiegelte. Die LiK sahen die DDR als einen patriarchalen und gewaltvollen Staat an, in dem Frauen alltäglich die Unsichtbarkeit ihrer Bedürfnisse und realen Erfahrungen erlebten. Sie benennen die Mehrfachmarginalisierung von Lesben: u.a. als Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft, als Homosexuelle in einer heteronormativen Gesellschaft und nicht zuletzt als homosexuelle Frauen, die in dieser Gesellschaft noch einmal unsichtbarer sind als homosexuelle Männer.

Als feministische Strategien, mit denen die LiK diesem gewaltvollen System entgegenzuwirken versuchten, konnten wir folgende benennen: Sie analysierten die herrschenden Verhältnisse und versuchten, nach ihren Möglichkeiten Wissen zu generieren, nachzuforschen und sich zu bilden. Sie nutzten das private Sprechen (im Gesprächskreis) und das öffentliche Sprechen (auf Tagungen, auf Friedenswerkstätten) über tabuisierte und marginalisierte Themen als wichtige Strategie, um die Isolation zu durchbrechen, mit der viele Lesben und Frauen konfrontiert waren. Und sie schufen sich selbst Strukturen, an denen es mangelte, wie Gesprächskreise, Beratungsangebote oder Selbstverteidigungskurse. Auch wenn diese Arbeit unter den politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der DDR, etwa staatlichen Repressionen, knappen finanziellen Ressourcen und einer hohen Fluktuation von Teilnehmenden in der Gruppe, nur in einem eng abgesteckten Rahmen gelingen konnte, verstehen wir die theoretische und praktische Arbeit der Lesben in der Kirche als feministische Arbeit. Die Positionspapiere, die wir analysieren durften, wirkten direkt und indirekt in die Gruppentreffen hinein und konnten so bei jeder einzelnen Teilnehmerin einen Selbsterkenntnisprozess in Gang setzen. Durch diese Arbeit konterkarierten die Lesben in der Kirche das Bild der angeblich gleichberechtigten Frau in der DDR und stellten den patriarchalen Staat und die patriarchale Gesellschaft in Frage. In der Quelle „Gespräch“ wird deutlich, dass das auch den Teilnehmer*innen der LiK bewusst gewesen zu sein scheint, wenn eine von ihnen sagt: „Eine Frauenbewegung, die hier entstehen würde, würde ja die bestehende Gesellschaft jetzt hier in Frage stellen.“ (Gespräch 1985, S.19)

Weiterführende und offengebliebene Fragen

Die Untersuchung der LiK auf ihre feministische Dimension hin zeigt, dass die Weitergabe feministischen Wissens prekär ist. So hat uns erschüttert, wie aktuell der Text „das schweigen der frauen ist die macht der männer“ fast 40 Jahre später noch immer ist. Bei dem Versuch der LiK, eine öffentliche Diskussion über (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen und Kinder, insbesondere über Gewalt in der Ehe, in Gang zu setzen, handelt es sich um Pionierarbeit. In der DDR gab es um dieses Thema keinerlei Diskurs, wie Bettina Dziggel in einem Vorgespräch zum Workshop betonte. Ende der 80er Jahre wurde diese Arbeit von den in der Frauenteestube Weimar aktiven Frauen in Form einer selbstorganisierten qualitativen Befragung weitergeführt. Dieser Text lässt außerdem vermuten, dass sich die Lesbengruppen in der DDR als Teil der Frauenbewegung verstanden und sich in ihrer Radikalität nicht ausschließlich auf das eigene Lesbischsein beschränkt haben.

Was aus den Quellen nicht deutlich wird ist, inwiefern in der Lesbengruppe wiederum Ausschlüsse produziert wurden. Wie steht es mit innerhalb der Community marginalisierten Menschen wie Müttern, trans Personen, Schwarzen Frauen, Butches, Bisexuellen? Welche aus heutiger Sicht intersektional einzuordnenden Thematiken waren damals präsent bzw. unsichtbar?

Einen kritischen Blick richten wir auf unsere eigene in der Forschungsarbeit eingenommene Perspektive. Wir sehen das Risiko, die Bedeutung von Quellen überzubewerten oder ihnen anachronistische Interpretationen überzustülpen, indem wir Begriffe anwenden, die in den 80er Jahren in der DDR eine ganz andere Bedeutung hatten oder die erst viel später in einem westdeutschen/US-amerikanischen Kontext geprägt wurden (wie z.B. der Begriff „queerfeministisch“). Hohe Erwartungen und Ansprüche an eine ostdeutsche Lesbengruppe, die sich ja nur in einem gewissen Rahmen entwickeln konnte, können uns außerdem den Blick verstellen auf das, was die Frauen der LiK tatsächlich geleistet haben.

Einen lohnenswerten weiteren Forschungsansatz sehen wir in einer diskursanalytischen Betrachtung der Quellen rund um die LiK: Welche Begrifflichkeiten wurden verwendet und was bedeuteten sie im damaligen Kontext? Woran orientierten sich die LiK und in welchen Diskurs lassen sich ihre Texte einordnen? Weiterhin sehen wir Forschungspotential in einem vergleichenden Blick zwischen der ostdeutschen und der westdeutschen Frauen- und Lesbenbewegung. Allerdings sollte die westdeutsche Bewegung nicht als Blaupause herhalten, gegen die die Spezifika der ostdeutschen Bewegung abgeglichen werden. Wünschenswert wäre ein anerkennender Forschungsblick auf beide Bewegungen, um die Ausprägungen von patriarchalen Strukturen in verschiedenen Gesellschaftssystemen besser analysieren zu können. 

Quellen und Literatur:

Maria Bühner: Feministisch, lesbisch und radikal in der DDR: Zur Ost-Berliner Gruppe Lesben in der Kirche, https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/feministisch-lesbisch-und-radikal-der-ddr-zur-ost-berliner-gruppe-lesben-der-kirche, letzter Zugriff: 9.02.2022

Maria Bühner: „[W]ir haben einen Zustand zu analysieren, der uns zu Außenseitern macht.“ Lesbischer Aktivismus in Ost-Berlin in den 1980er-Jahren, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2017, www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1702, letzter Zugriff am 14.02.2022.

RHG/GZ_MKr_03_54-68: Lesben in der Kirche. Arbeitspapier des Arbeitskreises Homosexuelle Selbsthilfe, 15 S.

RHG/GZ_MKR_04_202: „das schweigen der frauen ist die macht der männer“, 2 S.

RHG/GZ_MKr_03_193-214: Gespräch 8. März 1985, 22 S.

RHG/GZ_SK_05_4-5, 8-10, 29-31, 34, 37, 40-43 Halbjahresprogramme

RHG_FO_GZ_2033: Gruppenabend in der Gethsemane-Gemeinde. Die private Selbstverteidigungsgruppe stellt ihre Arbeit vor.

 

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