Dialogue

Partizipative Forschung in der Erwachsenenbildung. Ein Bericht aus der Projektpraxis

Von Ulrike Rothe 

 

Citizen Science – Bürgerschaftliche Forschung

Kollaborativ angelegte Forschungsprozesse außerhalb der institutionalisierten Forschung sind nicht unbedingt ein alltägliches Format, zumal nicht im geistes- und sozialwissenschaftlichen Feld. Die Methode der bürgerschaftlichen Citizen Science scheint bisher vor allem für naturwissenschaftliche Forschungsprojekte genutzt zu werden: Mittels quantitativ orientierter Datensammlungen zu einem Forschungsthema etwa kann interessierten Lai*innen die Teilhabe an Forschungsprozessen ermöglicht werden. Die Sammlung quantitativer Daten war aber für die Forschungswerkstatt nicht das erklärte Ziel, denn eine historische Fragestellung zu bearbeiten verlangt immer die Kenntnis mindestens der neuesten Darlegungen dazu sowie auch das Heranziehen und Auswerten der zur Verfügung stehenden, meist umfänglichen Quellen. Eine der zentralen methodischen Fragen für die forschende Geschichtswerkstatt war also von Beginn an, was im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit denn umsetzbar ist bzw. wieviel Zeit für die entdeckend forschende Bearbeitung einer Frage eingestellt werden sollte. Dabei zu berücksichtigen ist, dass eine zwei- oder dreitägige Geschichtswerkstatt en bloc von ihren Teilnehmenden sehr viel zeitlichen und sonstigen Einsatz erfordert, den diese in der Regel nicht als Arbeitszeit oder Weiterbildung, sondern in ihrer Freizeit erbringen. Dem entgegen kann gehalten werden, dass der ergebnisorientierte Umgang mit Primärquellen zu einem bisher kaum bearbeiteten Thema auch ein Privileg sein kann. Zudem werden die Teilnehmer*innen aktiv und selbstständig tätig und können, etwa bei der Auswahl einer Quelle, auch persönlichen Vorlieben nachgehen.

Die Geschichtswerkstatt zu unangepassten Frauen in der DDR war das Folgeprojekt einer Veranstaltungsreihe zum selben Thema, in der verschiedene Frauen und Frauengruppen, die Marginalisierungs- und Kriminalisierungsprozessen unterlagen, aufgefächert wurden. Der Befund dieser Reihe war zunächst, dass die Erfahrungen dieser Frauen in wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussionen unterrepräsentiert sind – es taten sich regelmäßig verschiedene Leerstellen auf, die zu dem Bedürfnis führten, das genauer zu untersuchen. Des Weiteren fand im konzeptionellen Vorfeld fast jeder Veranstaltung ein Ringen darum statt, was denn nun die richtungsweisenden und relevanten geschlechtsspezifischen Fragestellungen an das gegebene Thema sind. Diese Gemengelage an Fragen passte zum Anspruch von Citizen Science-Projekten, auf ein noch ungenügend bearbeitetes Problem hinzuweisen, es aufzugreifen und gesellschaftlich eine Veränderung in der Praxis von Geschichtsaufarbeitung, in den herrschenden Erzählungen zum Erinnerungsort DDR anzuregen.

Überlegungen zur Zielgruppe

Ein Vorhaben mit diesen Rahmenbedingungen spricht zunächst einmal Personen an, die sich im wissenschaftlichen Feld selbst mit ähnlich gelagerten Fragestellungen beschäftigen und daher die fachlichen und methodischen Voraussetzungen in hohem Maße mitbringen. Ein weiterer Personenkreis kommt aus Institutionen wie Gedenkstätten, Museen, Archiven, NGOs und Vereinen, in denen an Geschichte erinnert wird, nicht nur DDR-bezogen, auch stadtgeschichtlich, (queer-)feministisch oder mit anderen Arbeitsschwerpunkten. Eine wichtige Zielgruppe stellen freischaffende Autor*innen, Künstler*innen oder Journalist*innen dar, aber auch Aktivist*innen, die initiativ eigene Projekte umsetzen, sowie Lehrende und Bildungsarbeiter*innen, die sich Anregungen für neue Themen und Methoden holen. Nicht zu vergessen sind die Zeitzeug*innen selbst, die auch in fast allen schon erwähnten Teilzielgruppen vertreten sein können. Absichtsvoll offen war das Projekt auch für die* inhaltlich interessierte* Teilnehmer*in, die weder eine fachliche noch umfänglichere wissenschaftliche Vorerfahrung vorweist. Dieser niedrigschwellige Zugang zieht methodische Konsequenzen nach sich, löst aber andererseits den partizipativen Anspruch ein. Zudem hat intrinsische Motivation an einem Thema einen Eigenwert bei der Umsetzung von arbeitsintensiven, textlastigen und faktenreichen Workshops.

Die Forschungsfrage(n)

Ziel der Forschungsworkshops war es, im Rahmen einer gegebenen Forschungsfrage Teilfragen und -aspekte im Feld zu identifizieren, weiterhin erste Thesen anhand der Quellenanalyse zu formulieren und in einem dritten Schritt darzulegen, was widersprüchlich, ambivalent oder offengeblieben ist und wie Forschung dazu weitergehen sollte. Findet ein Forschungsworkshop zu einem Thema statt, das bis dato nur sehr wenig bis gar nicht bearbeitet wurde, haben die Forschenden die anregende Aufgabe, dieses weiße Blatt Papier mit ersten Gedanken, Ideen, Reflexionen oder Erinnerungen zu beschreiben. Dafür bietet sich als erster Zugang ein gemeinsames Brainstorming an, für das die gegebene Forschungsfrage möglichst allgemein und offen in die Runde gegeben wird. Bildliche Quellen oder kurze filmische Abschnitte dazu erleichtern den assoziativen Zugang zum Thema. Ergebnis dieses Prozesses waren geschlechtsspezifische Aspekte, Teilthemen und Detailfragen innerhalb des Themas, mit denen die Gruppe dann sehr gut in die Auseinandersetzung mit den Quellen starten konnte, da hier schon einmal Richtungen vorgegeben wurden, wonach wir in den Quellen überhaupt suchen. Da die Teilnehmenden ein hohes Interesse mitbrachten, entfaltete sich bereits in dieser Etappe des Workshops die erste spannende Diskussion zu verschiedenen fachlichen Aspekten. Ein solcher diskursiver Austausch an mehreren Stellen im Workshop wurde von den Teilnehmenden begrüßt und eignet sich für diese Zielgruppe besonders gut. Von Vorteil ist hier, wenn die Gruppe eher klein ist, also deutlich unter zehn Personen.

Die Quellen

Ein Einblick in die Recherchewege im Vorfeld ist unabdingbar: Wo und wie wurden die Quellen gefunden? Warum wurden gerade diese Quellen ausgewählt und keine anderen? Für die Workshops wurden verschiedene Quellengattungen herangezogen: 1) klassische Textquellen, darunter Ego-Dokumente wie Briefe, aber auch Haftakten oder gruppeninterne programmatische Texte/Positionspapiere; 2) Interviews mit Zeitzeuginnen (hier vor allem die Transkripte, aber auch die audiovisuellen Aufnahmen); 3) Bildquellen/künstlerische Quellen wie Fotoaufnahmen und Zeichnungen. Der Umfang des zur Verfügung stehenden Materials will gut überlegt sein: Bei fünf oder sechs Personen einer Workshopgruppe können sich etwa drei Kleingruppen jeweils eine Quelle vornehmen. Die Quellen müssen im Vorfeld erst einmal in verschiedenen Archivbeständen gesucht und gefunden werden – idealerweise von der Workshopleitung selbst. Darüber hinaus sind sie einer Voranalyse zu unterziehen: Gibt es genug Informationen, um sie kontextualisieren und damit auch deuten zu können? Sind sie für die Fragestellung des Workshops ausreichend aussagekräftig? Je größer eine Workshopgruppe ist und je mehr Quellen herangezogen werden, umso mehr Zeit braucht es auch in der Vorbereitung und dann während des Workshops selbst, wenn die Quellen gemeinsam diskutiert, verglichen und ausgewertet werden.

Forschungsprozess en miniature

Kern der Forschungsworkshops war in einem ersten Schritt das Sammeln kontextualisierender Informationen (äußere Quellenkritik) und in einem zweiten Schritt die inhaltliche Analyse der Quelle. Für die Kontextualisierung war nur sehr begrenzt Zeit im Programm vorhanden, daher wurde einerseits entdeckendes Recherchieren ermöglicht durch die Bereitstellung von Publikationen bzw. Textabschnitten in ihnen, Gesprächsprotokolle, biografische Übersichten oder Hinweise auf Links zur online-Recherche. Alternativ stellte die Workshopleitung die Kontextinformationen bereit. Bei der inneren Quellenkritik ist es zunächst wichtig, sich einen Gesamteindruck von der Quelle, ihrem Inhalt, ihren besonderen Eigenschaften zu verschaffen und zudem auch unklare Begrifflichkeiten oder etwa dialektale Ausdrücke zu klären. Im Folgenden ging es darum, wichtige Teile oder Sequenzen der Quellen genauer zu untersuchen und sie hinsichtlich der Forschungsfrage sowie der schon formulierten Teilfragen zu analysieren. Diese deduktive Vorgehensweise sollte durch das induktive Prinzip ergänzt werden, denn aus dem Quellenstudium ergeben sich auch neue geschlechtsspezifische Fragen und Aspekte, die bisher nicht gefunden bzw. gefragt wurden.

Zeitzeug*innen und Interviews als Quelle

Die Analyse von Zeitzeug*innen-Interviews erwies sich als besonders anspruchsvoll: Wie kann ein mehrstündiges Interview mit einem Transkript von 80 Seiten und mehr innerhalb weniger Stunden so ausgewertet werden, dass Thesen formuliert werden können? Hier wie auch bei anderen längeren Textquellen sollten die Dokumente vorstrukturiert werden, so dass die Kleingruppe schnell zu den relevanten Abschnitten gelangen und diese analysieren kann. Vorteilhaft ist auch, umfängliche Dokumente etwa durch drei Personen bearbeiten zu lassen, die sich die Lektüre entsprechend aufteilen können. Dann bleibt auch noch die Zeit, zentrale Sequenzen mit der audiovisuellen Aufnahme abzugleichen oder nicht vormarkierte Abschnitte zu lesen, um nicht überall an der Hand der Workshopleitung gehen zu müssen. Generell eignen sich kürzere Textquellen besser für Forschungsworkshops en bloc, andererseits sind Interviews eine wichtige und manchmal sogar die einzige Quelle, um Erfahrungen und Perspektiven von marginalisierten Personengruppen zu betrachten. Es versteht sich von selbst, dass die Analyse von Bildquellen gesondertes Handwerkszeug verlangt, was an dieser Stelle aus Platzgründen nicht eigens dargelegt werden kann.

Die Einladung von Zeitzeug*innen in einen Forschungsworkshop mit dem Ziel, diese zum gegebenen Thema zu befragen und ihre Selbstaussagen mit in die Analyse einzubeziehen, kann sehr schnell zu einer Überfrachtung des Programms führen. Ein Zeitzeug*innengespräch in der Gruppe sollte immer vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet werden, was im Rahmen eines zweitägigen Workshops zu einer Überforderung aller Beteiligten führen würde. Da aber zu einem DDR-bezogenen und damit zeitgeschichtlichen Thema sich oft von allein Zeitzeug*innen in einem solchen Workshops einfinden, ist generell zu reflektieren, wie mit subjektiven Aussagen von Zeitzeug*innen im Workshopgeschehen umzugehen ist. Hier kann es zu herausfordernden Situationen kommen, wenn die Aussage einer Zeitzeugin dem Befund in einer Quelle oder einer formulierten These entgegensteht. Es kommt hier auf das vorbereitete und sensible Agieren der Workshopleitung an, solche Situationen auch auf der persönlichen Ebene einzufangen und gleichzeitig von Beginn an den wissenschaftlichen Charakter der Workshoparbeit klar zu kommunizieren.   

Die Ergebnisse

In einem letzten Arbeitsschritt erhalten die Teilnehmenden den Auftrag, die relevanten Textabschnitte/Sequenzen/Bilder zu interpretieren und dabei möglichst zu den schon diskutierten einzelnen Teilaspekten/Fragen jeweils eine These zu formulieren, soweit die eigene Quelle das ermöglicht. In diesem Prozess waren die drei zentralen Ziele des Forschungsprozesses s.o. (die Teilfragen, die Antworten/Thesen dazu, Was bleibt offen?) für jede Kleingruppe handlungsanleitend. Ausgesprochen interessant ist dann, alle Forschungsergebnisse zusammen in eine Übersicht zu stellen und diese inhaltlich nach den Teilfragen und -aspekten zu ordnen. Dadurch ergibt sich ein ansehnliches Spektrum von geschlechtsspezifischen Teilaspekten des Themas. Darüber hinaus können die gefundenen Thesen miteinander verglichen, diskutiert und noch einmal zu einer Synthese verifiziert, mit einem Fragezeichen versehen oder verworfen werden.

Zu einem solchen Forschungsworkshop können noch sehr viel mehr Details vermittelt und methodische Fragen aufgeworfen werden, u.a. wie die Forschungsergebnisse dann präsentiert bzw. mit unbeteiligten Dritten als critical friends diskutiert werden. Unabdingbar ist es jedoch, die Ergebnisse eines solchen temporären Forschungsprozesses mit beteiligendem Format öffentlich für Interessierte zur Verfügung zu stellen (open science) und auch an diesem Punkt Teilhabe zu ermöglichen.  

 

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