Dialogue

6.3 Der Große Austausch

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Von Katharina Federl und Timon Strnad

„Ich brauche nicht mehr zu tun, als meine Augen zu öffnen“, schreibt Renaud Camus in seinem 2011 veröffentlichten Buch „Le Grand Remplacement“. Dessen deutsche Übersetzung „Revolte gegen den Großen Austausch“ wurde 2016 im Antaios Verlag unter Leitung des neurechten Publizisten und Verlegers Götz Kubitschekherausgebracht. Wenn Camus seine Augen öffnet, sieht er im Geheimen agierende Eliten, die „europäische Stammvölker“ gegen muslimische oder nicht-weiße Migranten ersetzen. Er sieht, wie sie gezielt nach Frankreich geholt werden, um etwa den Bevölkerungsschwund aufgrund sinkender Reproduktionszahlen auszugleichen und dem Land seine “Identität” zu nehmen. Seine Gedanken leitet der Autor nicht etwa aus wissenschaftlichen Untersuchungen oder Statistiken ab, vielmehr können sie als Produkt einer tiefen Verwurzelung in einem rechtsextremistischen intellektuellen Milieu gedeutet werden. Camus beruft sich dabei auf Schriften von Maurice Barrés, Edouard Drumont, Jean Raspail, dessen 1973 veröffentlichtes Werk „Le Camps des Saints“ (auf Deutsch: „Das Heerleger der Heiligen“) bis heute als Referenzwerk für die extremen Rechten in Frankreich gilt, und auf René Binet, der der Theorie des Großen Austauschs Ende des 19. Jahrhunderts zu internationaler Bekanntheit verhalf. Laut dem Historiker Nicolas Lebourg entwickelten ehemalige Soldaten der Waffen-SS, zu denen auch Binet gehörte, nach 1945 die Vorstellung, dass ganz Europa durch afrikanische Zuwanderer „kolonisiert“ werden sollte und dass der Kontinent durch eine „neue Widerstandsbewegung“ von der „Besatzung“ befreit werden müsse. Während damals noch jüdische Finanzspekulanten als Drahtzieher eines Austauschs der Bevölkerung gesehen wurden, beschreibt Lebourg, die Theorie habe sich nach dem 11. September 2001 zu einem „mobilisierenden Mythos für Rassismus und Islamfeindlichkeit“ entwickelt: Nicht mehr die jüdische Bevölkerung werde für die „Umvolkung“ verantwortlich gemacht, sondern die „Multikulturalisten“, die die Völker zerstören würden, wie es auch in dem Buch von AfD-Politiker Björn Höcke steht. 

Im deutschen Sprachraum wurden die Vorstellungen von Vertretern der Identitären Bewegung wie Martin Sellner oder Martin Lichtmesz eingeführt und weiterentwickelt, Michael Butter beschreibt den Großen Austausch als im rechtsextremen Spektrum „sicher die derzeit wirkmächtigste Verschwörungstheorie“. So findet sich die Ideologie eines „Großen Austausches“ bei allen relevanten Akteuren der letzten Jahre. Von PEGIDA über AfD und Identitären Bewegung bis hin zum Dritten Weg wird fabuliert, dass die europäische (weiße) Bevölkerung gegen Migrant*innen ausgetauscht werden solle, um eine leichter zu regierende Bevölkerung zu erschaffen. Nicht zuletzt das interne Schulungsmaterial der Identitären Bewegung belegt, dass die Rechte sich in oder kurz vor einem finalen Abwehrkampf wähnt. Dabei wird immer wieder auf Kriegsrhetorik zurückgegriffen, wie sich anhand verschiedener Publikationen wie z.B. des Compact Magazins, der Jungen Freiheit, Arcadi und Co. belegen lässt. Migration wird beispielsweise als „Waffe“ bezeichnet und auch die Redner*innen bei PEGIDA machen zunehmend rhetorisch scharf. Parallel dazu versichert die Identitäre Bewegung in ihren Video Internet-Auftritten wiederholt, die erste Reihe in der letzten Schlacht zu bilden. Die Konsequenz aus dieser Ideologie und ihrer Inszenierung ist zwangsläufig physische Gewalt gegen die benannten Feinde. Der Attentäter von Christchurch, der am 15. März 2019 50 Menschen tötete, schrieb ein Manifest mit dem Namen „The great replacement“ („Der große Austausch“). Und auch Anders Breivik, der Mörder von 77 Menschen, begründet seine Tat mit Verweisen auf einen vermeintlichen Bevölkerungsaustausch. Gleiches lässt sich bei den Attentätern von Halle und Hanau lesen. Sie muss daher als Verschwörungsideologie benannt und ihre Wirkungsweise analysiert werden.  

Glossar

Renaud Camus: Renaud Camus ist ein französischer Schriftsteller. Er wurde 1946 in Chamalières geboren, studierte Rechtswissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft in Paris und Oxford und lebt heute auf der Burg Chateau de Plieux in Südfrankreich. Seit 1975 publiziert er überwiegend Essays, Tagebücher und Romane. Bis in die frühen 1980er Jahre war er bei den französischen Sozialist*innen aktiv, wandte sich dann aber allmählich von der politischen Linken ab und ist heute führendes Mitglied der rechtsnationalistischen Partei Souveraineté, identité et libertés. Er gilt als der „Einflüsterer“ (Frankfurt Allgemeine Zeitung) von Marine le Pen, Politikerin der rechtsextremen Partei Rassemblement National. Bekannt ist Camus zudem für seine oft von seitens der rechtsextremen Szene rezipierten Vorstellung, dass technokratische Eliten gezielt Einwanderer ins Land holen, um die Vorherrschaft der Weißen allmählich zu beenden und Frankreich seine Identität zu nehmen. Diese Idee der Auswechselbarkeit („remplacisme“) beschreibt er als menschenverachtend. In seinem 2011 veröffentlichten Werk „Le Grand Remplacement“ schlägt er mehrere Lösungen vor, um diesen „geheimen Plan“ zu stoppen: die französische Staatsangehörigkeit verschärfen, den Familiennachzug verbieten und Sozialleistungen ausschließlich an Europäer auszahlen. 

Götz Kubitschek: Götz Kubitschek ist ein deutscher Publizist und Verleger. Er ist 1970 in Ravensburg geboren und wohnt heute auf dem ehemaligen Rittergut Schnellroda in Steigra. Seit 2002 leitet er den ebenfalls in Schnellroda ansässigen Antaios-Verlag, der von Wissenschaftler*innen dem Netzwerk der Neuen Rechten zugeordnet wird und als „Hausverlag“ der neurechten Denkfabrik Institut für Staatspolitik (IfS) gilt. Außerdem war Kubitschek federführend an der Fundierung der rechtsextremen Identitären Bewegung in Deutschland beteiligt. Bis heute ist er ein wichtiger Machtfaktor in der AfD und pflegt engen Kontakt mit Vertretern des ehemaligen „Flügels“ wie Björn Höcke. 

Jean Raspail: Jean Raspail war ein französischer Schriftsteller und Generalkonsul von Patagonien. Er ist 2020 im Alter von 94 Jahren in Paris gestorben. Mehrere seiner Werke handeln davon, dass Ideologien des Kommunismus und Liberalismus scheitern und daraufhin eine von ihm herbeigewünschte, katholische Monarchie errichtet wird. In seinem bekanntesten Werk „Das Heerlager der Heiligen“ beschreibt er den Untergang des Abendlandes, der in naher Zukunft an der französischen Mittelmeerküste spielt. Über Nacht seien „die verchromten Yachten“ und „sonnengebräunte Mädchen“ durch „eine verrostete Flotte vom anderen Ende der Welt“ ausgetauscht. Die Passagiere: eine Million ausgehungerte Inder*innen, die als „wimmelnde Insekten“ beschrieben werden, die Mönche töten und Einheimische zur Kapitulation zwingen. Raspail kritisiert hier vor allem Politiker*innen, die das Volk verraten, weil sie die Bedrohung durch die Fremden verharmlosen würden. 

Identitäre Bewegung: Die Identitäre Bewegung (kurz IB) entstand in Frankreich aus der Nouvelle Droite heraus und bildete in den folgenden Jahren Organisationen in verschiedenen europäischen Staaten. In Österreich und Deutschland bestehen sie offiziell seit 2012 bzw. 2014. Die IB versucht durch einen Habitus jenseits klassischer Neonazi-Organisationen neurechte Ideen diskursfähig zu machen. Dazu setzte sie in der Vergangenheit auf Aktionsformen des zivilen Ungehorsams sowie eine breite und professionelle Social Media Marketing Strategie, in der eine junge und moderne Bewegung inszeniert wird. Das zentrale Thema der IB ist die Sorge vor einer angeblichen „Islamisierung“ und des „Großen Austauschs“. 

Der Dritte Weg: Der Dritte Weg ist eine neonazistische Kleinstpartei, die besonders in Süd- und Ostdeutschland tätig ist. Sie entstand 2013 aus ehemaligen NPD-Mitgliedern und Mitgliedern des 2012 verbotenen „Freien Netzes Süd“. Der Dritte Weg fungiert als Sammelbecken für völkische Nationalist*innen und ist in den vergangenen Jahren besonders durch bundesweite Demonstrationen aufgefallen, in denen es wiederholt zu rassistischen und antisemitischen Vorfällen kam. Ebenfalls ist die Partei in starker Nähe zur Szene der Holocaust-Relativierung zu verorten. 

Compact Magazin: Das Compact-Magazin ist eine seit Dezember 2010 monatlich erscheinende Publikation der extremen Rechten. Chefredakteur ist Jürgen Elsässer. Auch Szenegrößen wie Götz Kubitschek oder Martin Sellner publizieren hier regelmäßig.  

Arcadi Magazin:  Das Arcadi Magazin ist ein publizistisches Medium der neuen Rechten mit engen Verbindungen zur “klassischen” Rechten. In gedruckter Form erscheint das Magazin seit 2017 und soll besonders junge Menschen ansprechen. Neben politischen Inhalten setzt das Magazin dazu auch vermehrt auf „Lifestyle“-Themen. Die Autor*innen des Magazins stammen aus der neuen Rechten, schwerpunktmäßig aus der Identitären Bewegung. 

Attentäter Christchurch: Am 15. März 2019 wurden in zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch 51 Menschen getötet und 50 weitere schwer verletzt. Der rechte Attentäter bezog sich auf die Verschwörungsideologie des „Großen Austauschs“ und gab diese als Motiv für die Morde an. B. T. stand vor dem Attentat in Kontakt mit Martin Sellner und spendete eine höhere Summe an die Identitäre Bewegung. 

Attentäter Halle: S. B. erschoss am 09. Oktober 2019 zwei Menschen in Halle (Saale) auf offener Straße und in einem Döner-Imbiss. Zuvor hatte er versucht, am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, in die Synagoge von Halle einzudringen und die sich dort befindenden Menschen zu ermorden. B.s Motive waren antisemitische und rassistische Narrative. 

Attentäter Hanau: T. R. tötete am 19. Februar 2020 neun Menschen in Hanau aus rassistischen Motiven. Auch R. begründete seine Tat in einem Manifest in dem er sich als „Retter“ inszeniert.  

A. Breivik: A. Breivik ist ein norwegischer Terrorist und Rechtsextremist. Am 22. Juli 2011 erschoss er auf der Insel Utøya 69 Menschen. Die meisten davon waren Jugendliche, die an einem Sommercamp der Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei teilnahmen. Zuvor hatte er einen Bombenanschlag in Oslos Regierungsviertel verübt, bei dem acht weitere Menschen starben. 
B. verfasste unter Synonym Andrew Berwick ein Manifest, in dem er seine Motive für die Anschläge ausführte. In dem Manifest imaginiert er eine „islamische“ und „kulturmarxistische“ Bedrohung für Europa, gegen die er ankämpft. Das Manifest enthält eine Vielzahl antisemitischer und rassistischer Aussagen. 

Literatur

Bermbach, Udo (2016) „Vom Untergang des weißen und christlichen Abendlandes: Zur Dystopie des Jean Raspail”. Wiesbaden: Springer.

Bertolaso, Marco (2019), „Der Attentäter und die Verschwörungstheorie vom “Großen Austausch”. Deutschlandfunk. Online unter: https://www.deutschlandfunk.de/nachgefragt-der-attentaeter-und-die-verschwoerungstheorie.2852.de.html?dram:article_id=443921

Camus, Jean-Yves (2017), „Die Identitäre Bewegung oder die Konstruktion eines Mythos europäischer Ursprünge”. Wiesbaden.

Camus, Renaud (2016), „Revolte gegen den großen Austausch”. Schnellroda: Verlag Antaios.

Götzke, M. (2020), „Rechtsextreme nutzen allgemeine Verunsicherung aus“ Deutschlandfunk, 23.03.2020. Online unter https://www.deutschlandfunk.de/verschwoerungstheorien-rechtsextreme-nutz...

Gugenberger / Petri / Schweidlenka (1998), “Weltverschwörungstheorien. Die neue Gefahr von rechts”. Wien 1998.

Heim, Joe; McAuley, James (2019), „New Zealand attacks offer the latest evidence of a web of supremacist extremism“. The Washington Post. Online unter: https://www.washingtonpost.com/world/europe/new-zealand-suspect-inspired-by-far-right-french-intellectual-who-feared-nonwhite-immigration/2019/03/15/8c39fba4-6201-4a8d-99c6-aa42db53d6d3_story.html

Höcke, Björn (2018), „Nie zweimal in denselben Fluß”. Manuscriptum.

Holzapfel, Matthias (2019), Verschwörungstheoretiker mit Verbindungen in die rechte Ecke? Merkur, 07.04.2009. Online unter https://www.merkur.de/lokales/regionen/verschwoerungstheoretiker-verbindungen-rechte-ecke-157971.html

Köln gegen Rechts - Antifaschistisches Aktionsbündnis (2018). Das Arcadi-Magazin: Identität.Rechts.Antifeministisch. In: Antifaschistischen Infoblatt, Nr. 119 Sommer 2018. 

Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung: Langzeituntersuchung zur rechtsextremen und antidemokratischen Einstellung in Deutschland seit 2002 (2019). Universität Leipzig, 24.03.2019. Online unter: https://www.kredo.uni-leipzig.de/die-leipziger-autoritarismus-studie/

Lamberty,Pia / Rees, Jonas (2018 / 2019), „Mitreißende Wahrheiten: Verschwörungsmythen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhang”. In: Andreas Zick, Beate Küpper, Wilhelm Berhan (Hrsg.): Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/2019 (S. 203 – 222) Berlin.

Lebourg, Nicolas (2019), “Attentat islamophobe de Christchurch: retour historique sur le “grand remplacement””. Mediapart 2019. Online unter: https://www.mediapart.fr/journal/international/150319/attentat-islamophobe-de-christchurch-retour-historique-sur-le-grand-remplacement?onglet=full

Lelle, Nikolas (2018), Das Selbstbild der Täter. In: Der Rechte Rand, Ausgabe 284, Mai/Juni 2020. 

Nocun, Katharina/Lamberty, Pia (2020), „Wie Verschwörungstheorien rechte Gewalt befeuern”. Morgenpost, 2020. Online unter: http://www.morgenpost.de/politik/article228502851/Nach-Hanau-Wie-Verschwörungstheorien-rechte-Gewalt- befeuern.html

Onishi, Norimitsu (2019), „The man behind a toxic slogan promoting white supremacy“. New York Times. Online unter: https://www.nytimes.com/2019/09/20/world/europe/renaud-camus-great-replacement.html

Peitz, Dirk (2020), „Alles ist so, wie du denkst”. Interview mit Michael Butter. Zeit. Verfügbar unter: https://www.zeit.de/kultur/2020-02/verschwoerungstheorien-michael-butter-hanau/seite-3

Puls, Hendrik (2018), Rechtsterroristische “Einzeltäter”. In: Der Rechte Rand, Ausgabe 184 Mai/Juni 2020. 

Quent, Matthias (2019), „Der schuldabwehrende Antisemitismus hat zugenommen”. Zeit. Online unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-10/antisemitismus-halle-rechtsextremismus-matthias-quent

Salzborn, Samuel (2018), „Identitäre Heimatideologie zwischen Fiktion und Propaganda”. Amadeu Antonio Stiftung, Berlin.

Salzborn, Samuel (2018), Globaler Antisemitismus. Basel: Verlagsgruppe Beltz. 

Speit, Andreas (Hrsg.) (2018), das Netzwerk der Identitären. Berlin: Christoph Links Verlag. 

Theweleit, Klaus (2015), Das Lachen der Täter: Breivik u.a. - Psychogramm der Tötungslust. Wien: Residenz Verlag. 

Walter, Michael (2014), „Der Kampf um die Wirklichkeit. Mediale Legitimationsstrategien gegenüber Verschwörungstheorien zum 11. September”. In: “Konspiration”.

Weitzmann, Marc (2019), „The global language of hatred is French“. Foreign Affairs Verfügbar unter: https://www.foreignaffairs.com/articles/new-zealand/2019-04-01/global-language-hatred-french

 

 

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