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2.1 Welche Erklärungsansätze liefern sozialpsychologische Zugänge für ein Verständnis von Verschwörungserzählungen in der Moderne?

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Von Nicola Graage, Bettine Rau, Johanna Schubert und Sören Waack

Will man der Frage auf den Grund gehen, warum Verschwörungserzählungen bei immer mehr Menschen auf Interesse stoßen, so ist unseres Erachtens eine Herangehensweise unerlässlich, die die Verantwortung der Gesellschaft in den Fokus nimmt und nicht ausschließlich die einzelnen Individuen (vgl. dazu in Bezug auf Autoritarismus: Decker 2018: 37/57; Decker 2010: 39f.). Um subtile Formen gesellschaftlicher Herrschaft und Prozesse von deren Internalisierung im Individuum nachvollziehen zu können, bedarf es einer gesellschaftskritischen sozialpsychologischen Theorie (vgl. Decker 2018: 57). Zentrale Fragen, die mit einer solchen Theorie gestellt werden können, sind: "Welches Unbehagen veranlasst Menschen, sich die Welt mit Verschwörungsmythen zu erklären?“ und „Was wäre nötig, um der Verbreitung von Verschwörungsideologien ursächlich entgegenzuwirken?". Im Folgenden werden diese und weitere Fragen schlaglichtartig beantwortet.

Das Leben in einer parlamentarischen Demokratie unter kapitalistischen Produktionsbedingungen bringt konstant Enttäuschungen und gesellschaftliche Widersprüche (Ambivalenzen) hervor, indem das mit ihr einhergehende Glücksversprechen systematisch enttäuscht wird, z.B. in Form konkreter politischer und ökonomischer Ohnmachtserfahrungen (vgl. Hessel 2020: 19/21).
Verschwörungsideologien bieten an dieser Stelle komplexitätsreduzierende und personalisierende Erklärungen und Weltanschauungen an (vgl. Hessel 2020: 16,18,20f.) und stellen Vorschläge für die Bekämpfung der ‚Verschwörer‘ vor. Diese entsprechen dem Prinzip einer konformistischen Rebellion, insofern sie nicht abstrakte Herrschaftsverhältnisse kritisieren, sondern einzelnen Personen oder Gruppen die Verantwortung für gesellschaftliche Missstände zuschreiben (vgl. Hessel 2020: 20/22/24; Tsenekidou 2015: 288f.).

Zentrales Merkmal von Verschwörungsideologien ist die Rede von ‚den Mächtigen‘. Verschwörungsideologien zielen jedoch nicht darauf ab, das Ordnungsprinzip von Herrschaft an sich und die damit einhergehende ungleiche Verteilung von Macht einer emanzipatorischen Kritik zu unterziehen. Vielmehr ist es Ziel vieler Verschwörungsideologien, ‚die Guten‘ an die Macht zu bringen, also Angehörige der Gruppe der ‚Durchschauenden‘, die als wahre Volksvertreter imaginiert werden. Ein zentraler Begriff der kritischen Sozialpsychologie in diesem Zusammenhang ist der der Projektion. Bereits Horkheimer und Adorno schrieben über den antisemitischen Verschwörungswahn: „Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Ihr Gelüste ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis“ (Horkheimer / Adorno 1944 [2016]: 177). Gemeint ist damit, dass Menschen unbewusst Anteile ihres Selbst (bestimmte Wünsche, Phantasien, Ängste, etc., die sie sich nicht erlauben können, da sie z.B. gesellschaftlich sanktioniert werden), von sich weisen und auf andere projizieren (vgl. Hessel 2020: 21). Gesellschaftlichen oder eigenen inneren Widersprüchen/Ambivalenzen (z.B. in privaten oder gesellschaftlichen Krisensituationen) wird dabei mit einem Abwehrmechanismus begegnet, um eine schmerzhafte Auseinandersetzung zu meiden und die eigene soziale Handlungsfähigkeit zu wahren.
Das Ergebnis dieses Vorgangs ist ein für Verschwörungsideologien idealtypisches dichotomes Schwarz-Weiß-Denken oder Gut-Böse-Schema (vgl. Pohl 2009: 57f.).

Um stereotypem Schwarz-Weiß-Denken, Projektivität und damit den psychosozialen Lebensadern von Verschwörungsideologien präventiv zu begegnen, haben sich in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit folgende Konzepte bewährt:
Die Stärkung der individuellen Widerspruchstoleranz (vgl. Frenkel-Brunswik 1950: 461; KIgA 2017: 10) und Reflexivität (vgl. Horkheimer/Adorno 1944 [2016]: 198-200; Salzborn 2010: 111f.), die Unterstützung also der „kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen inneren Konflikten“ (Tsenekidou 2015: 289) und eines empathischen Umgangs sich selbst und anderen gegenüber. Beide wären langfristig eine Voraussetzung für die Utopie der Versöhnung, der „Befreiung des Gedankens von der Herrschaft, [der] Abschaffung der Gewalt“ (Horkheimer/Adorno 1944 [2016]: 209).

Literatur

Decker, Oliver (2010): Das Veralten des Autoritären Charakters. In: Decker, Oliver / Weißmann,

Marliese / Kiess, Johannes / Brähler, Elmar (2010): Die Mitte in der Krise. Bonn: Brandt, S.29-41.

Decker, Oliver (2018): Flucht ins Autoritäre. In: Decker, Oliver / Brähler, Elmar (Hg.): Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag, S.15-63.

Frenkel-Brunswik, Else (1950): Dynamic and cognitive personality organization as seen throughthe interviews. In: Adorno, Theodor W. / Frenkel-Brunswik, Else / Levinson, Daniel J. / Sanford, R.

Nevitt: The Authoritarian Personality. New York, S.442-467.

Hessel, Florian (2020): Elemente des Verschwörungsdenkens. Ein Essay. In: Luy, Mischa / Hessel, Florian / Chakkarath, Pradeep (Hg.): psychosozial, 43. Jahrgang, Heft I (Nr. 159). Schwerpunktthema: Verschwörungsdenken, S.15–26.

Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. (1944 [2016]): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M.: Fischer.

KIgA - Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (2017): Widerspruchstoleranz 2. Ein Methodenhandbuch zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit. Online unter: https://www.kiga-berlin.org/uploads/Widerspruchstoleranz_2_Ansicht.pdf.

Pohl, Rolf (2009): Der antisemitische Wahn. Aktuelle Ansätze zur Psychoanalyse einer sozialen Pathologie. In: Wolfram Stender/Guido Follert/ Mihri Oezdogan (Hg.) (2009): Konstellationen des Antisemitismus. Theorie - Forschung - Praxis, Wiesbaden: VS Verlag. Online unter: http://www.agpolpsy.de/wp-content/uploads/2009/05/rolf-pohl-der-antisemitische-wahn.pdf.

Salzborn, Samuel (2010): Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich. Frankfurt/New York: Campus.

Tsenekidou, Maria (2015): Vom Buckeln zum Treten. Leistungsdruck und konformistische Rebellion. In: Hawel, Marcus / Doppler, Lisa / Fischer-Schröter, Paul / Schröder, Martin: Work in Progress. Work on Progress. Doktorand_innen-Jahrbuch 2015 der Rosa-Luxemburg Stiftung, S. 280-296. Online unter: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VSA_RLS_Studienwerk_Jahrbuch_2015.pdf.

 

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