3.0 Vom Brand von Rom zu den “Reichsbürgern”. Verschwörungserzählungen im historischen Wandel
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Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Von Julia Bastian, Kolja Buchmeier, Lea Fennekoldt, Marielle Hermstrüwer und Clara Ancila Schaefer
Ob Kaiser Nero, der Illuminatenorden, jüdische Bankiersfamilien wie die Rothschilds oder Politiker*innen wie Angela Merkel: Sie alle haben gemein, dass sie in Vergangenheit wie Gegenwart von Verschwörungstheoretiker*innen für die Übel dieser Welt verantwortlich gemacht werden.
Der Glaube an die Verschwörung dunkler Mächte findet sich bereits in der Antike. Jedoch wurden die daraus gesponnenen Geschichten erst mit der Aufklärung zu dem, was wir heute gemeinhin als Verschwörungstheorien bezeichnen. Vor der Epoche der Aufklärung handelte es sich dabei einfach um legitimes Wissen. Erzählungen, die hinter einem Ereignis eine Verschwörung vermuteten, waren meist stark von religiösen Denkmustern geprägt. Karl Popper (1948) erklärte das Aufkommen von Verschwörungstheorien mit der fortschreitenden Säkularisierung. Mit dem Bedeutungsverlust der Religion füllten Verschwörungstheorien für viele Menschen das entstandene Defizit bei der Sinn- und Identitätsstiftung.
Erzählungen von mächtigen Geheimgesellschaften, die die Geschicke der Welt im Hintergrund steuern, erfreuten sich so bereits Ende des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit.
Durch den erstarkenden Antisemitismus in Deutschland wurde der Glaube an die Existenz übermächtiger Geheimbünde wie dem Illuminatenorden oder dem Freimaurerbund bald auch zum Glauben an eine jüdische Weltverschwörung. Jüdinnen*Juden wurden als die eigentlichen Drahtzieher ausgemacht, geschichtliche Ereignisse als Ergebnis der Manipulation durch jüdische Mächte gedeutet. Antisemitische Pamphlete wie die auch heute noch populären “Protokolle der Weisen von Zion” fielen angesichts des verbreiteten Antisemitismus auf fruchtbaren Boden. Im Nationalsozialismus schließlich wurde der Judenhass zur Staatsdoktrin. Die Verschwörungsideologie vom „Weltjudentum“ war ein Grundbestandteil der nationalsozialistischen Ideologie. In dieser werden alte wie auch neuere antijudaistische und antisemitische Mythen und Erzählungen zu einem komplexeren Gebilde zusammengefügt.
So ist es nicht verwunderlich, dass sich die nationalsozialistische Propaganda dieser antisemitischen Verschwörungsideologie bediente, um die Judenverfolgung zu rechtfertigen. Der Massenmord an den europäischen Jüdinnen*Juden stellte schließlich den negativen Höhepunkt des antisemitischen Wahns dar.
Nach 1945 gab es zwar einen Bruch im Umgang mit Verschwörungsideologien, jedoch sind sie heute wieder umso sichtbarer. Nicht zuletzt, weil es immer wieder Schlagzeilen über sogenannte Reichsbürger gibt, die aktuell einen deutlichen Zulauf verzeichnen können. Sie erkennen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland nicht an und begründen dies mit allerlei kruden Verschwörungserzählungen und -mythen.
Dass diese alles andere als neu sind, verrät ein Blick auf die verschiedenen Verschwörungserzählungen von der Antike bis heute. Allerdings unterliegen auch sie einem Wandel, was sich vor allem an der Art der Verbreitung zeigt.
Der Brand von Rom: Wie Kaiser Nero zum Vorbild des Antichristen wurde
Als eines der wenigen Beispiele für Verschwörungserzählungen in der Antike gilt die Brandstiftertheorie, die sich rund um den Brand von Rom und die neroische Christenverfolgung entwickelte (vgl. Wetzel 2018: 335).
In der Nacht des 18. Juli 64 n. Chr. brach ein Feuer in einem Teil des Circus Maximus aus. Daraus entwickelte sich ein großflächiger Brand, der Rom zum größten Teil zerstörte und als Brand von Rom in die Geschichte einging. Nur vier der dreizehn Bezirke blieben ohne größere Schäden (vgl. Tac. ann. XV, 39-41). In Rom waren Brände keine unbekannte Gefahr, bereits zu Tiberius und Augustus Zeiten gab es verheerende Brände. Die engen Straßen und die Bauweise der Häuser, aber auch die Fahrlässigkeit bzw. Sorglosigkeit der Römer*innen begünstigte Brände (vgl. Malitz 1999: 69ff.).
Schon während des Brandes wurde über Personen berichtet, die neue Brände legten und dabei riefen, dass sie im Auftrag handeln würden (vgl. Tac. ann. XV 37-38). Daraus entstand das Gerücht, dass der Kaiser Nero den Brand in Auftrag gegeben hätte. Bereits vor dem Brand war er „durch erlaubte und unerlaubte Ausschweifungen zum Abscheu geworden“ (Tac. ann. XV, 36-37). Hinzu kam, dass Nero im Zuge des Wiederaufbaus sich auch eine neue Palastanlage errichten ließ (vgl. Tac. ann. XV, 41-44).
Neben Neros vermeintlicher Bausucht sorgte seine Leidenschaft für das Kitharaspiel und das Troja-Epos für weitere Spekulationen. So berichtet Sueton, dass sich Nero während des Brands auf dem Turm des Maecenas befand und „in seinem berühmten Theatergewand die ,Einnahme von Ilion‘“(Suet. Nero, 38) besang.
Vom Beschuldigten zum Beschuldiger: die neroische Christenverfolgung
Nero bemühte sich die Gerüchte durch die Unterstützung des Wiederaufbaus zu entkräften, doch seine Hilfen reichten nicht aus, um den Verdacht der Brandstiftung gegen ihn zu entkräften. „Daher schob Nero, um dem Gerede ein Ende zu machen, andere als Schuldige vor und belegte die mit dem ausgesuchtesten Strafen, die, wegen ihrer Schandtaten verhaßt, vom Volk Chrestianer genannt wurden“ (Tac. ann. XV, 43-44). Man unterstellte den Christ*innen u.a., dass sie Kinder töteten und deren Blut tranken und inzestuöse Orgien feierten (vgl. Liebs 2007: 105). Berichte über Christ*innen, die während des Brandes das Weltende und die Rückkehr des Erlösers predigten, befeuerten das Misstrauen gegenüber den Christ*innen zusätzlich (vgl. Krüger 2012: 251).
Im Zuge der Verfolgungen wurden „zunächst diejenigen [verhaftet], die ein Geständnis ablegten“ (Tac. ann. XV, 44-46). Nach Befragungen der Inhaftierten „wurde auf ihre Anzeige hin eine ungeheure Menschenmenge […] schuldig gesprochen“ (Tac. ann. XV, 44-46). Die Hinrichtungen wurden als ein öffentliches Spektakel in Neros Garten inszeniert. Einigen Christ*innen wurden Tierfelle angezogen und die Jagdhunde des Palastes auf sie losgelassen, andere wurden gekreuzigt. Einige Verurteilte wurden mit Pech übergossen und „sobald sich der Tag neigte, als nächtliche Beleuchtung verbrannt“ (Tac. ann. XV, 44-46). Auch wenn sich die neroische Verfolgung auf Rom beschränkte, hatte es für Christ*innen längerfristige Folgen. Seit Nero waren sie der ständig präsenten Gefahr erneuter Verfolgungen ausgesetzt (vgl. Krüger 2012: 272).
Neben der Übernahme der alten Anekdoten rund um Nero und seine angeblichen Taten entwickelte sich in der Literatur der Spätantike, die geprägt war von Endzeitstimmung und Verfolgung, die Vorlage des „Antichristen“: Die Legende des „Nero redivivus“ (vgl. Jakob- Sonnabend 1990: 151). Von der Wiederkehr Neros am Ende der Welt berichtet u.a. der Kirchenvater Laktanz, aber auch nicht-christliche Texte der Spätantike und des Mittelalters greifen das Motiv auf (vgl. Jakob- Sonnabend 1990: 146f.).
Infotext Antichrist
Das Motiv des bzw. der Antichristen taucht in der Bibel in den Johannesbriefen und der Johannesoffenbarung auf. Das Auftreten wird als Zeichen „der letzten Stunde“ (1Joh 2, 18) gedeutet. Es gibt jedoch nicht nur einen Antichristen, sondern jeder ist Antichrist, „der den Vater und den Sohn leugnet“ (1Joh 2,23). Der Antichrist tritt mit einem Tier aus dem Meer und einem aus der Erde auf. „Wer Verständnis hat, berechne die Zahl des Tieres [aus der Erde]! Denn es ist die eines Menschen Zahl; und seine Zahl ist 666“ (Offb. 13,8). Diese Zahl steht in der antiken Zahlensymbolik für den Namen Nero. So taucht also bereits in diesem biblischen Text des 1. Jahrhunderts das Motiv des Antichristen in Verbindung mit Nero auf (vgl. Hahn 1998: 136). Dieses Motiv verbreitete sich in den nächsten Jahrhunderten, besonders in christlichen Schriften. Auch in anderen Verschwörungserzählungen findet das Antichristmotiv immer wieder Verwendung.
Von Freimaurern, Illuminaten und anderen erfolglosen Geheimbünden
Eine der ersten ausformulierten und veröffentlichten Verschwörungserzählungen stammt von dem französischen Jesuiten Augustin Barruel (1741-1820). In seinem Werk „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Jakobinismus“ von 1797/98 beschrieb er einen gemeinsamen Plan von Freimaurern, Illuminaten und aufklärerischen Philosophen und unterstellte ihnen eine großangelegte Verschwörung. Auch die Französische Revolution sei nur Produkt dieser Verschwörung. In ihr sei “Alles, bis auf ihre entsetzlichsten Verbrechen, vorgesehen, überlegt, kombiniert, beschlossen, vorgeschrieben worden; Alles war die Wirkung der tiefen Verruchtheit, weil alles von Männern vorbereitet und eingeleitet war, die allein den Faden der Verschwörung hielten”.
Barruel selbst musste während der Französischen Revolution aus Paris fliehen und ging nach England. Aus seinem englischen Exil veröffentlichte er Werke, in denen er zu beweisen versuchte, dass die Französische Revolution das alleinige Werk von Jakobinern, Freimaurern und Illuminaten war. Freimaurer und Illuminaten sollten seinem Wissen nach auf die Tradition von Templern ebenso wie die Antichristen-Legende zurückgehen.
Infotext Freimaurer
Das Wort „freemason“ taucht urkundlich zum ersten Mal 1376 auf und meinte damals einen ausgebildeten Maurer oder Steinmetze. Freimaurer sind eine internationale verbreitete Organisation, die allerdings keinen international übergeordneten Dachverband hat. Ihre Mitglieder verfolgen vor allem die Verbreitung von Humanität, Toleranz, Persönlichkeitsentfaltung, Antitotalitarismus und Freiheit. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der persönlichen Entwicklung im Privaten und Individuellen. Ziel ist es, den einzelnen Menschen in moralischen Fragen zu unterstützen.
Was passiert hier?
Politische und kirchliche Vertreter eines konservativen Weltbildes standen durch die Französische Revolution großen gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber. Diese Neuerungen wurden von ihnen als Angriff auf alteingesessene Herrschaftsformen, wie der Kirche und der Monarchie, wahrgenommen. Statt den Wandel innerhalb einer Gesellschaft anzunehmen, wurden Schuldige für diesen gesucht. Die Macht der Kirche und Monarchie geriet durch die Ideale der Aufklärung tatsächlich in Bedrängnis. Ursächlich für eine Revolution waren sie aber nur in Kombination mit anderen Geschehnissen, wie z.B. Hungers- oder Finanznöten in Frankreich. Für Vertreter eines konservativen Weltbildes entstanden diese gesellschaftlichen Umwälzungen nicht aus sozialen oder politischen Missständen, sondern ausschließlich durch anti-religiöse und anti-feudale Ideen. Verschwörungserzählungen, wie die von Barruel, lieferten simple Erklärungsansätze für komplexe Zusammenhänge. Dass diese nicht den Tatsachen entsprechen, zeigt etwa das Beispiel der Illuminaten.
Wer waren die Illuminaten wirklich?
Der Illuminatenorden wurde 1776 an der Universität Ingolstadt von Adam Weishaupt gegründet. 1777 definierte er die Merkmale des Ordens: Dazu zählten neben einer betonten Exklusivität die strenge Wahrung des Ordensgeheimnisses. Ziel war es anstelle der bürgerlichen eine neue Ordnung zu schaffen, die die Standesunterschiede aufheben sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, planten die Ordensmitglieder durch Unterwanderung von Bürokratie und das Einsetzen von Illuminaten in Führungspositionen Einfluss auf den absolutistischen Staat zu erlangen. Allerdings gab es 1778 weltweit lediglich elf Illuminaten. Und auch wenn sich ihre Zahl bis 1779 auf 55 Mitglieder steigern konnte, waren sie doch weit davon entfernt nachhaltig Einfluss auf den Staat zu nehmen. Der Orden zerfiel immer mehr von innen heraus. Einzelne Mitglieder wollten sich dem Herrschaftsanspruch Weishaupts nicht beugen, während dieser sich weigerte davon abzurücken. Zugleich waren einige Ordensangehörige unvorsichtig oder verletzten die Ordensgeheimnisse durch Prahlerei. Schließlich traten ganze Flügel aus dem Orden aus.
Im selben Jahr kam es zum ersten Verbot aller ohne „offentliche Autorität und landesherrliche Bestättigung“ errichteten „Communitäten, Gesellschaften und Verbindungen“ durch den bayerischen Kurfürsten Karl Theodor. 1785 folgte dann jenes kurfürstliche Verbot, das den Illuminatenorden auch namentlich erwähnte. Nach dem Verbot kamen die Verfolgungen; Bis in die 1790er Jahre gab es eine Reihe von Entlassungen von Personen, die als Aufklärer-freundlich bekannt waren. Dabei war es unerheblich, ob diese überhaupt Ordensmitglieder waren. Einige von ihnen wurden des Landes verwiesen oder zu Klosteraufenthalten verpflichtet, auch Weishaupt floh ins Exil.
Was ist danach mit den Illuminaten passiert?
Die einsetzende Verfolgung und die anhaltende ‚Illuminatenriecherei‘ steht in keinem Verhältnis zu der tatsächlichen Ausbreitung und den Aktivitäten der Illuminaten. Stattdessen offenbart sich hier mehr der gesellschaftliche Umbruch im damaligen Bayern als die Macht des Illuminatenordens. Der Orden wäre wahrscheinlich auch ohne kurfürstliches Verbot zerfallen. Es ist sogar davon auszugehen, dass ohne die Verfolgung der Illuminaten durch anti-aufklärerische Kräfte der Orden in Vergessenheit geraten wäre. Ebenfalls ist anzunehmen, dass die Verfolgung mehr zur Verbreitung aufklärerischer Ideen sorgte als der Illuminatenorden selbst. Über die Jahrhunderte hat sich der Glaube an den Illuminatenorden als mächtige Geheimgesellschaft hartnäckig gehalten.
Auch in heutigen Verschwörungstheorien spielt der Illuminatenorden eine wichtige Rolle. Inzwischen ist die Erzählung auf eine sogenannte “Systemverschwörungstheorie” (Butter 2018: 34) angewachsen. Dem Illuminatenorden wird immer noch vorgeworfen, an bestimmten Ereignissen schuld zu sein. Beweise für den Fortbestand des Ordens sind z.B. die zu einer Pyramide geformten Hände von Angela Merkel oder von Beyoncé beim Super Bowl 2013.
Die Protokolle der Weisen von Zion: Ein antisemitisches Pamphlet geht “viral”
Nach der Niederlage der Deutschen im Ersten Weltkrieg gab es kaum einen besseren Nährboden für eine der mächtigsten Verschwörungsmythen. Die Menschen waren auf der Suche nach einem Sündenbock, um sich die Ursache des verlorenen Krieges zu erklären. Die Protokolle der Weisen von Zion kamen da wie gerufen. Sie lieferten genug Deutungsangebot für die historischen und politischen Ereignisse der Vergangenheit. Bei den sogenannten “Protokollen der Weisen von Zion” handelt es sich um ein antisemitisches Pamphlet, welches allein zum Zweck der Verbreitung von Antisemitismus geschaffen wurde. Sie liefern die Grundlage für die Verschwörungsideologie der “jüdischen Weltverschwörung”.
Inhaltlich handeln die Protokolle von einem geheimen Treffen der Vertreter des Judentums. Während des Zusammentreffens würden sie Pläne schmieden, wie sie die Herrschaft über die Menschheit erlangen könnten. In der Gestalt der Demokratie würden Jüdinnen*Juden die Weltherrschaft an sich reißen. Ziel sei es, die absolute Kontrolle von Wirtschaft, Finanzen, Medien und Kultur zu erlangen. Den Protokollen zufolge solle die jüdische Bevölkerung zunächst Chaos verursachen, um so die Macht zu erlangen. Die Bestandteile dieser Verschwörungserzählung, wie etwa die Zusammenkunft der Verschwörer*innen an einem geheimen Ort oder die Absprache, die Politik und Medien zu kontrollieren, finden sich auch in nachfolgenden Verschwörungserzählungen immer wieder.
In Deutschland erschienen die “Protokolle” erstmals 1919. Publiziert wurden sie im Auftrag des antisemitischen „Verbands gegen Überhebung des Judentums e.V.“ im Verlag „Auf Vorposten“ von Ludwig Müller von Hausen. Das in den “Protokollen” angewandte Deutungsmuster war leicht auf die deutsche Nachkriegszeit anwendbar. Die Enttäuschung der Deutschen durch die Kriegsniederlage und den Untergang des Kaiserreichs ermöglichte die Popularität des Pamphlets. So wurde es mit 120.000 Auflagen allein im Jahr 1920 zum Bestseller. Die “Protokolle” lieferten einfache Erklärungen, die es ermöglichten, nicht nur die eigene Schuld abzuwehren, sondern sie auch zu externalisieren.
Trotz ihrer weiten Verbreitung wurden früh Zweifel an der Echtheit der Protokolle gehegt. Im Jahr 1921 entlarvte die London Times die Protokolle offiziell als antisemitische Erfindung und Fälschung. Doch die Bekanntmachung der Fälschung schadete der Beliebtheit und weiteren Auflagen der Protokolle nicht. Im Gegenteil: Sie waren eine wichtige Grundlage für die antisemitische Propaganda im Dritten Reich und sind seither eine der berühmtesten und mächtigsten Verschwörungserzählungen. Auch gelten die “Protokolle der Weisen von Zion” als ein Schlüsseldokument des Antisemitismus. Bis heute gibt es keinen vergleichbaren Text mit solch großen Auswirkungen. Auch sind sie weiter verbreitet denn je. Auf deutscher Sprache findet man allein in der Suchmaschine Google mehr als 65.000 Erwähnungen der Protokolle. In vielen arabischen Ländern werden die Protokolle weiterhin für antisemitische Propaganda genutzt und sogar in Fernsehserien umgesetzt.
Judenhass als Staatsdoktrin: Der Kampf gegen das „Weltjudentum“ im Nationalsozialismus
Der Massenmord an den europäischen Jüdinnen*Juden stellte den negativen Höhepunkt ihrer Verfolgung im Dritten Reich dar. Ihm gingen jahrelange antisemitische Propaganda, staatliche Verfolgung und Diskriminierung jüdischer Menschen voraus.
Eine wesentliche Rolle zur Rechtfertigung der Judenverfolgung spielte dabei die Verschwörungsideologie des „Weltjudentums“ und der propagierte Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“.
Bereits im ersten Band von „Mein Kampf“ beschrieb Adolf Hitler eine Art Erweckungserlebnis. Er formulierte, wie er die Kontrolle der Politik und Medien durch “die Juden” durchschaut habe. Im Januar 1939, sechs Jahre nach seiner Ernennung zum Reichskanzler, sprach er vor dem Reichstag. Dabei inszenierte er sich als Prophet seines eigenen Judenhasses und drohte „dem internationalen Finanzjudentum“ mit Krieg und Vernichtung, sollte es „die Völker noch einmal in einen Weltkrieg stürzen“.
Hitler griff hier bereits der Kriegserklärung Deutschlands wenige Monate später vor, auch wenn seine mehrstündige Rede im Ausland irrtümlicherweise als Ausdruck von politischer Mäßigung gedeutet wurde. Nicht erst in dieser Rede bediente er sich populärer Verschwörungserzählungen wie der Dolchstoßlegende, machte „die Judenheit“ für den Ersten Weltkrieg verantwortlich und wendete die Fortschritte in der Judenemanzipation gegen sie. Nach Jahren der antisemitischen Hetzpropaganda zeichnete sich hier die letzte Konsequenz des antisemitischen Wahns der Nationalsozialisten deutlich ab: Die Vernichtung der Jüdinnen*Juden.
Von jüdischer Emanzipation hin zum Antisemitismus als Regierungspolitik
Jüdinnen*Juden waren auch vor der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland mit Diskriminierung konfrontiert, antijudaistische und antisemitische Vorurteile und Übergriffe waren für viele Jüdinnen*Juden Alltag. Jahrhundertelang war es ihnen nicht erlaubt, außerhalb bestimmter Berufe tätig zu sein oder sich an bestimmten Orten niederzulassen
Mit der Emanzipation besserten sich jedoch die Bedingungen für jüdisches Leben in Deutschland. Dem standen bereits früh selbsternannte Antisemiten gegenüber, die gegen die Judenemanzipation kämpften.
Die erklärten Judenfeinde nutzten unter anderem die Öffnung der freien Berufe für Jüdinnen*Juden im Zuge der jüdischen Emanzipation als Argument für die Behauptung, sie würden die Presse und die Finanzwelt kontrollieren. Diese Verschwörungserzählung hatte bereits in den 1920er Jahren große Popularität erlangt und ihren Ursprung in den sogenannten „Protokollen der Weisen von Zion“. Vor 1933 waren die antisemitischen Organisationen und Parteien allerdings noch nicht in der Position, dass sie judenfeindliche Regierungspolitik betreiben konnten.
Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler 1933 bedeutete dann auch für die Jüdinnen*Juden in Deutschland eine Zäsur: Der Antisemitismus wurde zur Staatsdoktrin.
Die antisemitische Verschwörungsideologie vom “Weltjudentum” oder auch der “jüdischen Weltverschwörung” spielte dabei eine zentrale Rolle.
Infotext Judenemanzipation Der Begriff meint die Auseinandersetzung um die wirtschaftliche, soziale, politische und rechtliche Gleichstellung der Jüdinnen*Juden im Zeitalter der Aufklärung bis zur Gründung des Deutschen Reichs 1871. Auch beschreibt er den Prozess zur Erlangung bürgerlicher Rechte für Jüdinnen*Juden. Viele von ihnen stiegen wirtschaftlich und sozial auf, jüdische Intellektuelle leisteten wesentliche Beiträge in der Wissenschaft und auch die rechtliche Situation der Jüdinnen*Juden besserte sich.
Von Freimaurern, Illuminaten, Juden und Kommunisten
In der Verschwörungsideologie vom „Weltjudentum“ verband sich der Judenhass mit weiteren Verschwörungserzählungen und -mythen. Die Erzählung von mächtigen Geheimbünden wie den Illuminaten oder Freimaurern wurden ebenso aufgegriffen wie der aufkommende Antibolschewismus. Es sollten nun also auch in den besagten Organisationen oder bei der Oktoberrevolution 1918 in Russland in Wahrheit die Jüdinnen*Juden die eigentlichen Verschwörer*innen sein.
Infotext Antibolschewismus
Kampfbegriff, welcher zur Stigmatisierung sämtlicher kommunistischer Parteien und Organisationen in ganz Europa dienen sollte. Ursprünglich vom Begriff des Bolschewismus, welcher die Auslegung des Marxismus durch Lenin in Russland bezeichnete.
Nach der Oktoberrevolution in Russland 1918 kamen zum verbreiteten Antisemitismus antibolschewistische Motive hinzu. Im Dritten Reich war der „Kampf gegen die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“ wesentlicher Teil der Propaganda. Dabei wurde Jüdinnen*Juden unterstellt, die Drahtzieher*innen hinter sämtlichen kommunistischen Bewegungen zu sein, der Hass auf Kommunist*innen und Jüdinnen*Juden wurde also verbunden.
Das „Weltjudentum“ oder „Die jüdische Weltverschwörung“
Die Verschwörungsideologie des „Weltjudentums“ oder der „jüdischen Weltverschwörung“ imaginiert Jüdinnen*Juden als übermächtige Strippenzieher, deren Macht total sei und sich auf jeden Bereich menschlichen Lebens erstrecken könne. Wie der Name schon andeutet, wird dabei unterstellt, dass dies global geschehe, und behauptet, dass die Jüdinnen*Juden in einer Art Geheimgesellschaft organisiert seien, die eine zentrale Machtbasis habe, von der aus sie sämtliche Geschicke in der Welt steuern würden. In dieser Ideologie wird bereits die Existenz von Jüdinnen*Juden als fundamentale Gefahr gesehen. Gleichzeitig, und dieser Gegensatz findet sich schon bei den Antisemiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, werden sie entmenschlicht und als „rassisch unterlegen“ imaginiert. Hier offenbart sich ein Widerspruch, der sich durch die Geschichte antisemitischen Denkens zieht: die “Übermacht” der “Minderwertigen” – die Unterlegenheit der “Herrenrasse”.
Zur Untermauerung dieser Behauptungen dienten im Dritten Reich ganze Wissenschaftszweige, die z.B. die Existenz menschlicher Rassen oder die angebliche bewusste Einflussnahme von Jüdinnen*Juden auf die Geschichte nachzuweisen versuchten. So sei die gesamte Menschheitsgeschichte im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung durch die Existenz von „Rassen“ und „Volksgemeinschaften“ geprägt. Vermeintliche Beweisen für die Verschwörungsideologien spielte im Nationalsozialismus also eine große Rolle. Das Gleiche gilt für die Auseinandersetzung mit der (eigenen) Geschichte. Eine Art von geradezu obsessiver Auseinandersetzung, die sich auch heute noch bei Verschwörungsideolog*innen finden lässt, u.a. bei den Reichsbürger*innen.
Die Nationalsozialisten nutzten diese Verschwörungsideologie mit großem Kalkül. Denn anders als noch im Mittelalter wurden Verschwörungserzählungen nun nicht erst im Nachhinein zur Rechtfertigung von Gräueltaten an Jüdinnen*Juden genutzt, sondern bereits im Vorfeld von geplanten Übergriffen oder Gesetzesverschärfungen.
Wie das Zitat Hitlers zu Beginn dieses Textes zeigt, diente die Verschwörungsideologie vom Krieg entfachenden, allmächtigen „Weltjudentum“ bereits frühzeitig der Vorbereitung des 1939 von Deutschland begonnenen Vernichtungskrieges. Hitler gab damit den Jüdinnen*Juden sowohl am Ersten Weltkrieg als auch an einem weiteren noch bevorstehenden Krieg die Schuld. Auf diese Weise konnten die eigenen militärischen Unrechtstaten als Selbstverteidigung im Sinne ihrer völkischen Weltanschauung inszeniert werden. Sie diente so auch als Rechtfertigungsgrundlage für die Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen*Juden in Europa.
Der Kampf gegen das „Weltjudentum“ kann so auch als „Erlösungsantisemitismus“ verstanden werden, an dessen Ende die Erlangung des Heils durch die Vernichtung der Jüdinnen*Juden steht.
Diese zutiefst antimoderne Verschwörungsideologie lebt bis heute fort und wurde immer weiter durch andere Mythen und Erzählungen erweitert. Da in ihr bereits die grundsätzliche Existenz jüdischen Lebens als Bedrohung angesehen wird, ist sie nach wie vor äußerst gefährlich.
Infotext „Erlösungsantisemitismus“
Autor*innen wie Saul Friedländer (2006) bezeichnen den Antisemitismus des Dritten Reichs auch als Erlösungsantisemitismus. Damit ist gemeint, dass sich rassistische und religiöse Motive verbinden. Auf der einen Seite steht die rassistische Angst vor der „Entartung“ des „deutschen Volks“, während auf der anderen Seite der religiöse Glaube an Erlösung steht. Der Kampf gegen das „Weltjudentum“ wird so in den Augen der Nationalsozialist*innen zur Katharsis. Am Ende dieser „Reinigung“ wird mit der „Endlösung der Judenfrage“, also der Vernichtung der europäischen Jüdinnen*Juden, die Erlösung erwartet.
Reichsbürger*innen und ihr eigentümliches Verhältnis zur (deutschen) Geschichte
Spätestens seit dem aus verschwörungsideologischen Motiven begangenen Massenmord an Millionen Jüdinnen*Juden stecken Verschwörungstheorien in einer Legitimationskrise. Dies gilt vor allem für Deutschland, wurde ihr Gewaltpotenzial hier im Nationalsozialismus doch besonders deutlich. Die Entwicklung der Reichsbürger*innen ist so auch eine Konsequenz dieses Legitimationsverlusts nach dem Zweiten Weltkrieg. Schließlich wurde durch den Holocaust die enge Verbindung von Vernichtungsplänen und Verschwörungsideologien offenbar.
Vernichtungsfantasien sind auch heute noch Teil von Verschwörungsideologien, doch vor allem der Antisemitismus ist seit 1945 stigmatisiert und äußert sich dementsprechend oft nicht mehr explizit, sondern über Umwege und latent. Der Bezug auf den Holocaust und die Niederlage im Zweiten Weltkrieg in der deutschen Erinnerungskultur erschwert einen ungebrochen positiven Bezug auf die deutsche Geschichte. Dessen sind sich auch Reichsbürger*innen bewusst. Die Reichsbürger*innen und ihre Bemühungen, die Geschichte umzudeuten, sind ein gutes Beispiel für dieses spezifisch deutsche Verhältnis zur eigenen Geschichte aufseiten des Rechtsradikalismus.
Infotext Reichsbürger
Der Begriff „Reichsbürger“ ist zunächst eine Selbstbezeichnung einzelner Personen und Angehörigen von Kleingruppen, die sich selbst nicht als Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland, sondern als Bürger des Deutschen Reiches sehen. Damit ist er eine sprachliche Abgrenzung zum Begriff des „Bundesbürgers“ und zugleich ein historischer Verweis auf das „Reichsbürgergesetz“ von 1935. Dieses war Teil der antisemitischen Rassenpolitik des Nationalsozialismus und teilte die deutsche Bevölkerung in „Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes“ und „Reichsangehörige“. Inzwischen hat sich die Bezeichnung „Reichsbürger“ als Sammelbegriff etabliert. Allerdings handelt es sich bei den Reichsbürgern nicht um eine homogene Gruppe mit fester Organisationsstruktur, sondern vielmehr um Netzwerke und lokale sektenartige Zusammenschlüsse von Personen, die auch als Anhänger der Reichsideologie bezeichnet werden können.
Kein neues Phänomen
Schon seit den 1960er Jahren versuchen deutsche Rechtsradikale, die bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands in einen Waffenstillstand umzudeuten, dem zwingend ein Friedensvertrag folgen müsse. Damit wird einerseits die BRD als Staat delegitimiert, andererseits dient diese Argumentation auch dazu, Europas Grenzen seit 1945 in Frage zu stellen (Freitag 2017: 162 f.). 1975 folgte daraus die Behauptung des Holocaustleugners und NPD-Politikers Manfred Röder, das Deutsche Reich würde fortbestehen. Der spätere Rechtsterrorist Röder gründete die „Freiheitsbewegung Deutsches Reich“, mit der er das Vorgehen und die Symbolik der späteren Reichsbürger*innen entscheidend prägte.
Der ehemalige Reichsbahnmitarbeiter Wolfgang Gerhart Günter Ebel wiederum gilt als Begründer der Reichsideologie im engeren Sinne. Auch er hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung der Reichsbürger*innen-Szene. Ebel ernannte sich Mitte der 1980er Jahre in West-Berlin selbst zum „Reichskanzler“ und gründete die sogenannte „Kommissarische Reichsregierung“ (Rathje 2015: 4). Für ihn war die Bundesrepublik Deutschland eine illegale Vereinigung, hinter der in Wahrheit eine „jüdisch-freimaurerische Verschwörung“ stand. Daraus leiteten die Anhänger*innen der “Kommissarischen Reichsregierung” ab, dass sie keine Steuern, Gebühren, Ordnungs- oder Bußgelder an den deutschen Staat zahlen müssten. Weiterhin boten Ebel und seine Anhänger*innen kostenpflichtige Lehrgänge an und stellten „Reichsdokumente“ aus. Gleichzeitig forderten sie Todesurteile für von ihnen ausgemachte „Volksverräter“ und gaben so einen Vorgeschmack auf das Gewaltpotenzial der Reichsideologie (Rathje 2017: 245).
Zersplittert aber gut vernetzt
Obwohl es einige Versuche von überregionalen Zusammenschlüssen und Organisierungen vor allem Mitte der 2000er Jahre gab, sind die Reichsbürger*innen bis heute meist lokal begrenzt und in kleine Gruppen zersplittert (Freitag 2017:165). Allerdings haben sie häufig gute Beziehungen zu anderen rechtsradikalen Akteur*innen. Aktuell zeigt sich diese Verbindung u.a. in der Querdenken-Bewegung. So ging der sogenannte „Sturm auf den Reichstag“ im August 2020 in Berlin von einer Kundgebung des Reichsbürgers Rüdiger Hoffmann aus.
Die Umdeutung von Geschichte als Strategie
Reichsbürger*innen beziehen sich geradezu obsessiv auf die deutsche Geschichte. Alle Thesen werden aus der Grundannahme abgeleitet, Deutschland und „das deutsche Volk“ seien fremdbestimmt und müssten frei werden. Dabei knüpfen sie argumentativ an einzelne historische Fakten an und ziehen aus diesen Schlüsse, die zwar ihrem Weltbild entsprechen, allerdings faktisch nicht haltbar sind. Die Behauptung etwa, Deutschland sei noch immer ein besetztes Land, geht von der Tatsache aus, dass Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Alliierten besetzt wurde. Die Behauptung, Deutschland befände sich immer noch im Krieg mit den Alliierten, geht wiederum von der Tatsache aus, dass nie ein explizit als Friedensvertrag betiteltes Dokument zur Beendigung der Kampfhandlungen nach 1945 unterschrieben wurde. Der Umgang der Reichsbürger*innen mit historischen Verweisen ist allerdings ein rein instrumenteller. Historische Exkurse fließen nur in die Argumentation ein, insofern sie die eigene Grundthese unterstützen. Fakten, die für eine Beendigung des Zweiten Weltkrieges und die Souveränität Deutschlands sprechen, werden wiederum ignoriert. Beispiele sind etwa die Friedenserklärungen der Westalliierten im Jahre 1951 und der Sowjetunion im Jahre 1955 oder die Tatsache, dass die Souveränität der DDR durch eine Erklärung der UdSSR bereits 1954 hergestellt wurde und die BRD seit dem Deutschlandvertrag von 1955 als souveräner Staat gilt. Dementsprechend ist auch der Umgang der Reichsbürger*innen mit Quellen problematisch. Quellen werden selektiv als Bestätigung der eigenen Thesen gelesen. So dient der Personalausweis aufgrund des Wortes „Personal“ im Namen als Beweisdokument für die Existenz einer „BRD-GmbH“ und der sogenannte 2+4 Vertrag aus dem Jahre 1990, ein eindeutiger Beweis für die Souveränität Deutschlands, wird ignoriert. Eine Quellenkritik im Sinne einer kritischen historischen Wissenschaft findet insgesamt nicht statt.
Reichsbürger*innen versuchen durch diesen selektiven Blick auf Geschichte, die deutsche Vergangenheit umzudeuten und ein Scheinbild der deutschen Geschichte zu etablieren (vgl. Freitag 2015: 166). Diese historisch-fiktionale Gegenerzählung (vgl. Botsch 2011) dient der Inszenierung Deutschlands und vor allem der deutschen Bevölkerung als Opfer der Alliierten oder einer fremden Macht und der Etablierung eines damit zusammenhängenden Widerstandsnarrativs. Weiterhin kann sie auch als Kommunikationsstrategie verstanden werden, um antisemitische und NS-verherrlichende Inhalte zu transportieren. Letztlich ist in dieser Uminterpretation von Geschichte auch ein Bedürfnis nach Schuldentlastung und Externalisierung zu erkennen.
Kontinuitäten, Verbindungen und Brüche
Die Geschichte von Verschwörungserzählungen ist trotz immer wiederkehrender Motive Wandel und Brüchen unterworfen.
Ein erster großer Bruch stellte die Aufklärung dar. Karl Popper stellte 1948 die These auf, dass man erst ab dieser Epoche und durch die damit verbundene Säkularisierung überhaupt von Verschwörungstheorien sprechen könne. Trotz oder gerade durch diesen Prozess gab es auch viele Verknüpfungen mit religiösen Motiven. Dies zeigt sich z.B. beim Motiv des Antichristen bzw. der Antichristen, welches sich bis in heutige Verschwörungstheorien hält. Popper weist ebenfalls auf das grundlegende Geschichts- bzw. Gesellschaftsverständnis hin, das implizit in jeder Verschwörungstheorie steckt. Die Annahme, dass Komplotte über Jahre geplant, durchgeführt und von einer Vielzahl an Personen geheim gehalten werden können, gilt inzwischen als unhaltbar, aber genau das ist das Menschenbild mit den Personen, die an Verschwörungstheorien glauben oder sie erzählen, arbeiten.
Auch der Statuswechsel von legitimem zu illegitimem Wissen stellt einen Bruch bei der historischen Betrachtung von Verschwörungstheorien dar. Sowohl in der Antike als auch in der Neuzeit waren Verschwörungserzählungen ein fester Bestandteil politischer Diskurse. Auch in NS-Deutschland waren sie ein wesentlicher Teil der Propaganda. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Delegitimierung von Verschwörungstheorien ein, die ebenfalls durch die Medien vorangebracht wurde. Auch wenn heutzutage Verschwörungstheorien wieder mehr Anhänger*innen gewinnen, gelten sie allgemein doch als illegitim.
Eine wesentliche Veränderung in der Verbreitung von Verschwörungstheorien vollzog sich durch das Aufkommen neuer Medien. So beförderte der Buchdruck nicht nur die Aufklärung und das Entstehen von Bürgertum und Öffentlichkeit, sondern langfristig auch die Verbreitung von Verschwörungstheorien, wie etwa das Buch von Barruel zum Illuminatenorden zeigt. Auch die “Protokolle der Weisen von Zion” sind deshalb so populär, weil sie in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt und im Laufe der Zeit in vielen Ländern veröffentlicht wurden. Durch das Aufkommen des Internets und sozialer Netzwerke ist dieses als eines der bekanntesten antisemitischen Pamphlete bis heute weit verbreitet. Dies gilt auch für andere Verschwörungsmythen. Durch die weltweite Vernetzung ist es heutzutage möglich von nahezu überall Zugang zu verschwörungstheoretischen Inhalten zu erhalten. Dadurch werden ganze Verschwörungstheorien oder Versatzstücke aus ihnen schneller in andere verschwörungstheoretische Szenen übernommen, wie etwa das Beispiel von QAnon zeigt (siehe auch den Artikel von Samuel Salomon und Markus Weiss in diesem Magazin).
Trotz dieser Veränderungen sind durch die Jahrhunderte hinweg einige Merkmale erhalten geblieben. Seit der Antike lieferten sie vermeintliche Erklärungen für Ereignisse, dienten dazu Feinde bzw. Schuldige für bestimmte Ereignisse zu identifizieren und gleichzeitig die eigene Gruppe zu stärken (Butter 2018: 139-147).
Und nicht zuletzt spielt der Antisemitismus seit der Aufklärung eine entscheidende Rolle in Verschwörungstheorien. Die Motive, die dabei genutzt werden, sind dabei nahezu unverändert geblieben (siehe Artikel XY in diesem Heft).
Literatur
Quellen
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- 23/02/2022 - 07:04