Dialogue

5.4 Der „Große Austausch“ und Antifeminismus bei den Neuen Rechten

Von Neslihan Kirdas

Einstiegsdroge Frauenhass

Zehn Jahre liegt das rechtsterroristische Attentat durch Anders Behring Breivik in Norwegen zurück. Innerhalb dieser zehn Jahre haben sich rechtsterroristische Anschläge auf globaler Ebene mehrfach wiederholt. Die Attentäter der Anschläge in Utøya, Christchurch, Dayton, Ohio, El Paso, Texas, Pittsburgh, Pennsylvania, Halle und Hanau sind ideologisch verwandt. Sie töteten aus rassistischen und antisemitischen Motiven. Ein weiteres verbindendes Element und Tatmotiv wurde bisher weitgehend verkannt: ihr gemeinsamer Hass auf Frauen und die Ablehnung des Feminismus. Antifeminismus ist oftmals die Einstiegsdroge und der ideologische Nährboden der rechtsterroristischen Attentäter. Genährt wird diese tödliche Ideologie von der Neuen Rechten und ihrer Erzählung vom „Großen Austausch“.

„Der Große Austausch‘‘ vereint Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus

Es ist nicht überraschend, dass die rechtsterroristischen Attentäter den Glauben an den Verschwörungsmythos des „Großen Austauschs“ teilten und dringenden Handlungsbedarf empfanden. Denn der Verschwörungsmythos des „Großen Austauschs“ vereint beispielhaft die drei Ideologien Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus miteinander. Das Manifest des Attentäters in Christchurch trägt den Titel „The Great Replacement“ und der Täter warnt darin vor dem vermeintlichen „Genozid der weißen Rasse“. Als Ursache (für den vermeintlichen Bevölkerungsaustausch) identifiziert er die niedrigen Geburtenraten der autochthonen Bevölkerung und die Zuwanderung muslimischer Menschen. Die Videobotschaft des Halle-Attentäters verdeutlicht ebenfalls, welche Rollen Antisemitismus und Antifeminismus in der Vorstellung des Bevölkerungsaustauschs einnehmen: „Feminismus ist Schuld (sic!) an der sinkenden Geburtenrate im Westen, die die Ursache für die Massenimmigration ist. Und die Wurzel dieser Probleme ist der Jude.“ (Bongen; Schiele 2019).

Ursprünge

Dieser Mythos ist nicht neu und lässt sich bis zum Nationalsozialismus zurückverfolgen. Auch in der Vergangenheit hat die neonazistische Partei NPD und aktuell die rechtspopulistische AfD die historische Erzählung des „Volkstods“ in einem antifeministischen Kontext übernommen und verwendet (vgl. Botsch; Kopke 2018). Der Verschwörungsmythos, auch bekannt unter den synonymen Bezeichnungen „Umvolkung“, „Bevölkerungsaustausch“ und „Überfremdung“, spielt bei extrem rechten und neurechten Akteuren weltweit eine zentrale Rolle. Innerhalb der letzten Jahre prägte der rechte französische Schriftsteller Renaud Camus (2016) die aktuelle Formulierung „Großer Austausch“ („Le grand remplacement“). Laut Camus soll eine bewusst herbeigeführte Masseneinwanderung zu einem Bevölkerungsaustausch in den westlichen Ländern führen. Dieser ursprünglich von den Nationalsozialisten erfundene antisemitische und antifeministische Verschwörungsmythos wandelte sich seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA zu einer rassistischen und überwiegend islamfeindlichen Erzählung. Muslimische Migrant*innen und der Multikulturalismus werden als Feindbild konstruiert. Flankiert wird der Mythos durch die antisemitische und antifeministische Verschwörungsideologie, dass eine geheime jüdische Finanzelite im Hintergrund agieren und diesen Prozess gezielt vorantreiben würde. Obendrein hätten sie den Feminismus zur Schwächung der westlichen Gesellschaft erfunden (Gensing 2019; Czymmek 2018).

Vertreter*innen in Deutschland

Martin Sellner, der österreichische Chef der Identitären Bewegung, und die identitären Aktivist*innen verbreiten und mobilisieren seit 2014 medienwirksam den Verschwörungsmythos des ,,Großen Austauschs“ in Deutschland. Sie inszenieren sich geschickt als junge und intellektuelle Jugendbewegung und versuchen sich von dem klassischen Stereotyp des Neonazis abzugrenzen. Die Identitäre Bewegung wird dem Spektrum der Neuen Rechten[1] zugeordnet. Zum Ziel haben sie, den „Großen Austausch der Kulturen“ zu verhindern und die europäische Identität vor einer vermeintlichen Zersetzung durch die Zuwanderung fremd markierter Menschen zu bewahren.

Klassischer Antifeminismus innerhalb der Erzählung des „Großen Austauschs“

Judith Goetz identifiziert drei Hauptrollen, die den Frauen innerhalb der Erzählung des „Großen Austauschs“ zugewiesen werden: Frauen, die auf die Mutterrolle reduziert werden, Frauen als Verursacherinnen des „Großen Austauschs“ und Frauen als Betroffene und Opfer. Entlang dieser zentralen Kategorien wird der klassische Antifeminismus der Identitären Bewegung deutlich (vgl. Goetz 2020: 44).

Frauen als Mütter und die Familie als „Keimzelle der Gemeinschaft“

Nach dem Vorbild eines extrem rechten Familienbildes werden in der Erzählung des ,,Großen Austauschs“ die Zweigeschlechtlichkeit und die Beziehung zwischen Mann und Frau als natürlich und die Familie als „Keimzelle der Nation“ (Haas 2020: 7) betont. Das Konzept Gender und die damit einhergehenden alternativen Lebensentwürfe und Geschlechterrollen werden von neurechten Akteuren abgelehnt. Die Frau soll die Rolle als Gebärerin und Mutter einnehmen, um dem vermeintlichen Bevölkerungsaustausch entgegenwirken zu können (Haas 2020: 6). Die zunehmende „Überfremdung“, vermeintlich angetrieben durch die hohe Geburtenrate der Migrant*innen sei, im Verhältnis zu den vielen Abtreibungen und der niedrigen Geburtenrate „eigener“ Kinder eine deutliche Gefahr. Mit dieser Begründung werden Abtreibungen abgelehnt (Goetz 2020: 42). Der Mann hingegen soll wehrhaft sein und die Frauen beschützen können. Er würde sich durch Härte, Disziplin und Kampfbereitschaft für das eigene Volk auszeichnen (vgl. Czymmek 2018: 182). Die Identitären mobilisierten mit mehreren unterschiedlichen Kampagnen gegen den „modernen Feminismus“, der die Frauen ehe- und kinderlos machen würde. Beispielsweise starteten im Jahr 2017 zwei Frauen der Identitären mit dem Projekt „radikal feminin“ einen (mittlerweile wieder beendeten) antifeministischen Blog. Sie versuchten auf Social-Media-Kanälen das Image der traditionellen Rollenbilder zu polieren und wetterten gleichzeitig gegen den sogenannten „Gender-Wahn“. Sie behaupteten, dass die rechtliche Gleichstellung von Frauen erreicht wäre und der Feminismus die Frauen zum Opfer machen würde. Der allgegenwärtige und der Gesellschaft inhärente Feminismus würde dazu führen, dass sich Frauen gegen Ehe und Kinder entscheiden. Eine explizite Ablehnung von vielfältigen Frauenbildern wird dabei strategisch umgangen, um das Interesse junger Frauen nicht von vorneherein zu verlieren. Die Inszenierung der selbstbewussten jungen Frauen soll darüber hinwegtäuschen, dass das Dasein der Frau auf die Rolle als Mutter, Hausfrau und Ehefrau reduziert wird. Dass Frauen ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben abseits dieser Rollen führen, sei nicht erstrebenswert (Flieder 2018).

Frauen als Verursacherinnen des „Großen Austauschs“

Den Frauen wird in einer zweiten Rolle eine Teilschuld am „Großen Austausch“ zugeschrieben, weil sie aufgrund ihrer Emotionalität migrationsfreundliche Parteien wählen und somit den vermeintlichen Bevölkerungsaustausch ermöglichen würden. Laut Martin Sellner würden Frauen einwanderungsfreundliche Parteien und Positionen wählen, die Europa multikultureller, islamischer und dementsprechend frauenfeindlicher machen würden (Goetz 2020: 2). Die Forderung nach der Abschaffung des Frauenwahlrechts ist in neurechten Kreisen populär. Laut der Soziologin Julia Haas offenbaren solche Forderungen die Vormachtstellung und Dominanz des Mannes im neurechten Denken (Haas 2020: 7).

Frauen als Opfer des „Großen Austauschs“

Paradoxerweise versuchen die Neuen Rechten unter dem Deckmantel der Frauenrechte, ihren Forderungen einen feministischen Anstrich zu geben. Als Folge des vermeintlichen Bevölkerungsaustauschs, seien Frauen die ersten Opfer der „Masseneinwanderung“, weil den migrantischen bzw. muslimischen Männern eine höhere Gewalttätigkeit zugesprochen wird (Goetz 2017: 255f.). Das Narrativ der „weißen Frau in Gefahr“ und die Ethnisierung von Gewalt wurzeln im Kolonialismus. Auch im Nationalsozialismus war das rassistische und antisemitische Ziel, „gemischte“ Nachkommen zu verhindern, um so den „Volkstod“ zu vermeiden (AK Fe.In 2020: 167). Die Identitären starteten im Jahr 2018 eine weitere Kampagne mit dem Namen #120db. 120 Dezibel ist die Anspielung auf die Lautstärke des Taschenalarms, den Frauen mit sich tragen müssten, um sich gegen die sexualisierte Gewalt durch fremd markierte Männer schützen zu können. Nach Vorbild der #metoo-Bewegung sollten Frauen unter dem Hashtag ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt durch fremd markierte Männer teilen. Der Aufruf hatte kaum Erfolg, bekam kaum Aufmerksamkeit und wurde als rassistisch entlarvt (vgl. Goetz 2020: 44). Die Ethnisierung der Gewalt und die Mobilisierung im Namen der Frauenrechte sind bei extrem rechten und neurechten Akteuren stark verbreitet. Die strukturelle Benachteiligung von Frauen und die Bedrohung durch sexualisierte Gewalt sind weltweit auf gesamtgesellschaftliche, patriarchale Machtstrukturen und auf eine bestimmte Form von Männlichkeit zurückzuführen. Die Gewalt an Frauen kann nicht auf eine Ethnie oder Kultur externalisiert werden (AK Fe.In 2019).

Fazit

Der Kampf gegen den Feminismus und Genderkonzeptionen fungiert als verbindendes Element unter Neuen Rechten. Als bekannt wurde, dass der Christchurch-Attentäter Brenton Tarrant kurz vor seiner Tat nachweislich 1.500,00 € an Martin Sellner und 2.200,00 € an die französischen Identitären gespendet hatte, wurde die Gefahr ihrer Ideologie zunehmend diskutiert und die Social-Media-Kanäle von Martin Sellner gesperrt. So sind die Überschneidungen zwischen der Ideologie der Attentäter von Christchurch, El Paso, Halle, Hanau etc. und den antifeministischen, rassistischen und antisemitischen Inhalten der Identitären Bewegung im Kontext des Verschwörungsmythos vom ,,Großen Austausch‘‘ nicht zu leugnen. Die Neuen Rechten identifizieren den Feminismus, den Islam, die Gleichstellung, Gender-Theorien und LGBTIQ*-Rechte als Ursachen des vermeintlichen Bevölkerungsaustauschs (Goetz 2020: 37) und gelten als geistige Brandstifter. Die Geschlechter-, Reproduktions- und Bevölkerungspolitiken der Neuen Rechten nehmen somit beim Verschwörungsmythos des „Großen Austauschs“ eine wichtige Rolle ein.

Literatur

AK Fe.In (2019): Frauen*rechte und Frauen*hass. Antifeminismus und die Ethnisierung von Gewalt, Berlin Verbrecher Verlag.

Bongen, R: Schiele, K. (2019). Feminismus als Feindbild, in: Tageschau.de, https://www.tagesschau.de/investigativ/panorama/frauenhass-rechtsextremismus-101.html, letzter Aufruf: 29.03.2021.

Botsch, Gideon / Kopke, Christoph (2018): Der «Volkstod». Zur Kontinuität einer extrem rechten Paranoia, in: Lang, Juliane/Peters, Ulrich (Hrsg.): Antifeminismus in Bewegung. Aktuelle Debatten um Geschlecht und sexuelle Vielfalt, Hamburg, S. 63–90.

Czymmek, Quint (2018): Das Geschlechterbild der Neuen Rechten. Gleichberechtigung als Bedrohung,Wissen schafft Demokratie – Gesellschaftlicher Zusammenhalt (Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, Nr. 3), https://www.idz-jena.de/pubdet/wsd3-17

Flieder, Fiona Katharina (2018): „radikal feminin” – ein anti-feministischer Blog, Belltower News, https://www.belltower.news/radikal-feminin-ein-anti-feministischer-blog-45368/, letzter Aufruf: 29.03.2021).

Gensing, Patrick (2019): „Strache und der “Bevölkerungsaustausch“ Österreich: Strache und der „Bevölkerungsaustausch“, tagesschau.de, https://www.tagesschau.de/faktenfinder/bevoelkerungsaustausch-strache-101.html, (letzter Aufruf: 29.03.2021).

Goetz, Judith (2017): „Aber wir haben die wahre Natur der Geschlechter erkannt...“. Geschlechterpolitiken, Antifeminismus und Homofeindlichkeit im Denken der „Identitären“, in: Goetz, Judith/Sedlacek, Joseph Maria/Winkler, Alexander (Hg.): Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen „Identitären“, Hamburg: Marta Press, S. 253–284.

Goetz, Judith (2020): ‚Der große Austausch‘ – Rechtsextreme Reproduktions-und Bevölkerungspolitik am Beispiel der ‚Identitären‘. Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, 29(2), 9-10.

Haas, Julia (2020): Antifeminismus und seine Rolle in der neurechten Erzählung des „Großen Austauschs“. Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in NRW (IDA-NRW) Ausgabe 1/2020, 26. Jahrgang, S. 6-9.

Winkler, Alexander (2017): „Aus dem Schatten des Nationalsozialismus.“ Die ‚Identitären‘ als modernisierte Form des Rechtsextremismus in Österreich (unter Mitwirkung von Judith Goetz und Joseph Maria Sedlacek), in: Goetz, Judith / Sedlacek, Joseph Maria / Winkler, Alexander (Hg.): Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen »Identitären«, Hamburg: Marta Press, S. 31-90.


[1] Der Begriff „Neue Rechte“ ist sehr vielfältig und eine genaue Zuordnung unklar. In diesem Beitrag liegt der Fokus auf der ,,Identitären Bewegung‘‘, die sich unter der Selbstbezeichnung ,,Neue Rechte‘‘ vom Nationalsozialismus abgrenzen möchte, um über ihre extrem rechten Inhalte hinwegzutäuschen (vgl. Winkler 2017).

 

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