NS-Täter in der Familie
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Von Ingolf Seidel
Laut Angaben im Multidimensionalen Erinnerungsmonitor 2020 (MEMO) gehen 35,8 % der Befragten davon aus, dass sie Opfer aus der Zeit des Nationalsozialismus unter ihren Vorfahren haben. Die Frage nach Mitläufer*innen bejahten 39,7 %, während 32,2 % davon ausgehen Helfer*innen in der Familie zu haben und 23,2 % vermuten oder wissen von Täter*innen unter den Vorfahren. Unter den Opferkategorien werden 14,1% zivile Opfer des Krieges (u.a. Bombenopfer), 15,5 % Geflüchtete oder Vertriebene, 16,7 % Soldaten und 7 % Angehörige einer verfolgten Gruppe angegeben (IKG 2020: 16). Spätestens seit der viel rezipierten Studie „Opa war kein Nazi“ (Welzer et al. 2002) ist einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, wie bestimmte Narrative als Familienalben intergenerationell tradiert und in ihrem ursprünglichen Sinn verändert werden. Dabei entsteht eine emotionale Dissonanz gegenüber den eigenen Vorfahren, die als geliebte Menschen einerseits wahrgenommen werden und andererseits Mitläufer*innen, Bystander oder Administrative- bzw. Direkttäter sein konnten. „Kumulative Heroisierungen“ (Welzer et al. 2002: 64) helfen den Nachfahren dabei eine Erzählung zu generieren, die den Geschichten eine gute Wendung geben und so die Vorfahren exkulpieren. Angenommene Opfernarrative sind ein Ergebnis dieser Mechanismen.
Niklas Frank
Wessen Eltern noch Teil der sogenannten Erlebnisgeneration waren, dem*der klingen vermutlich noch, wie dem Autor, solche oder ähnliche Sätze nach: „Wir wussten doch nichts“ oder „Wir konnten nichts tun, weil...“. Sätze, die eine Haltung wiedergeben, die Niklas Frank zu dem Buchtitel „Dunkle Seele, feiges Maul: Wie skandalös und komisch sich die Deutschen beim Entnazifizieren reingewaschen haben“ (Frank 2017) veranlasst haben. Frank wurde in der Zeitschrift konkret einmal als Erinnerungsberserker bezeichnet. Der 1939 geborene Sohn des „Schlächters von Polen“, Hans Frank, Rechtsanwalt und Generalgouverneur der besetzten, nicht in das Deutsche Reich eingegliederten Teile Polens, hat sich in mehreren Büchern mit seiner Familie auseinandergesetzt. Hans Frank wurde im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tod verurteilt und am 16. Oktober 1946 am Strang hingerichtet. Für den oben erwähnten Band hat sich der Sohn in die Archive begeben und beliebige Akten der Spruchkammern zur Entnazifizierung durchgesehen. „Dunkle Seele, feiges Maul“ berichtet auf 567 Seiten von den Eindrücken und Ergebnissen dieser Arbeit. Mehrheitlich wurden Akten von durchschnittlichen Deutschen durchgesehen. Auch andere sind dabei wie Emmy Göring, Margarete Frick, Annelies von Ribbentrop, Hans Pfitzner und Winifred Wagner. Sie hatten Kontakt zu den Eltern Frank. Ein Beispiel: „Georg Buchmann, geboren 1900, war Mitglied der NSV [NS-Volkswohlfahrt, IS], Blockverwalter von 1943 bis 1945 und machte laut Einstellungsbeschluss der Spruchkammer durch eidesstattliche Erklärung politisch einwandfreier Personen glaubhaft, dass er sich nicht politisch betätigt und die aufgezwungene Tätigkeit zur Unzufriedenheit der örtlichen Parteistellen ausgeübt hat.“ (Frank 2017: 40; kursiv i.O.)
Franks Sprache ist direkt, ja häufig grob. Er schreibt über „unsere verruchten Väter und Mütter, Groß- und Urgroßeltern, die Hitlers Diktatur bis zur totalen Kapitulation beinhart mitgetragen hatten“ (Frank 2017: 8) und über „miese Charaktere“ (ebda.: 372). Während die deutsche Wissenschaftssprache, anders als im angloamerikanischen Sprachraum, von Nationalsozialisten, selten von Nazis, schreibt, nutzt Frank deutlich pejorative Wendungen. Seine Botschaft ist deutlich: Die Entnazifizierung ist gescheitert, obwohl in der BRD eine parlamentarische Demokratie aufgebaut wurde. Mit dieser Einschätzung steht Niklas Frank nicht alleine. Frank Stern schreibt gänzlich ohne Polemik in „Im Anfang war Auschwitz“: „Die »Entnazifizierung« erwies sich im historischen Rückblick als eine »Mitläuferfabrik«, und der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann bezeichnete sie als Prozeß der Renazifizierung.“ (Stern 1991: 140) Frank zufolge hätten „Nutznießer, die, obwohl kein Mitglied der Partei oder einer ihrer Gliederungen, vom Unrechtssystem profitiert (...) wie zum Beispiel Ehegattinnen von Top-Nazis, Fabrikbesitzer oder andere Selbständige, die ihr mehr oder weniger großes Vermögen allein dem Nationalsozialismus zu verdanken hatten.“ (Frank 2017: 10) Diese Gruppen sollten für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden.
Ist das Urteil von Niklas Frank allzu sehr von der eigenen Familiengeschichte geprägt und auf sie fixiert? Immerhin ist es ein Unterschied, ein Mitglied der NS-Funktionselite als Vater zu haben oder gewöhnliche kleinbürgerliche Opportunist*innen, die das Wort Jude nicht aussprechen konnten, oder? Vermutlich schon. Ich hatte die Gelegenheit,Herrn Frank kennenzulernen. Welches Bild ich von ihm nach der Lektüre seines Schlüsselbuches „Der Vater. Eine Abrechnung“ (Frank 1993) hatte, kann ich nicht sagen. Dem eines Berserkers entspricht er mitnichten. Jenseits der scharfen Sprache bei der Lesung aus „Der Vater“ wirkt Niklas Frank ruhig, eher schüchtern. Im Gespräch ist nichts von der Wortgewalt – hier buchstäblich zu verstehen – seiner Bücher spürbar. Wie lässt sich über einen Menschen schreiben, der ein korrupter Massenmörder und der eigene Vater ist? Niklas Frank hat seinen Weg gefunden: „Mit Kübeln voller Mitleid wurde ich übergossen, wuchs ich auf, als ob ich gehenkt worden wäre, nur Mutter war es unheimlich, als sie am 18. Oktober (1946, IS) in mein Kinderheim in Schäftlarn kam, mich leutselig zum Spaziergang bat, mich unnatürlich fest an sich drückte, was ich nie gemocht habe, und mir sagte: »Dein Vater ist nicht mehr. Er lebt nicht mehr. Er ist tot.« Ich hatte mit diesem Besuch gerechnet, ich wußte ja schon bei unserem Abschied in Nürnberg, daß du demnächst den Löffel abgeben mußtest. Ich blieb stumm. Mutter war erst auch stumm, schaute auf mich herab. »Schau mal«, sagte sie, »ich habe nicht mal ein Trauerkleid an, weil er so fröhlich gestorben ist und auch sterben wollte, Du siehst, ich weine auch gar nicht. WARUM WEINST DU NICHT?« kam es dann in verdutztem, beleidigenden Ton. Drohend.“ (Frank 1993: 277)
Alexandra Senfft
Als zweites Beispiel für den Umgang mit einem NS-Mörder in der Familie soll an dieser Stelle Alexandra Senfft dienen. Sie ist die Enkelin von Hanns Elard Ludin. Ludin war SA-Obergruppenführer und unter anderem von 1941 bis 1945 als Gesandter des Deutschen Reiches in Preßburg (Bratisvlava, Slowakei) eingesetzt. Er wurde am 9. Dezember 1947 in Bartislava hingerichtet. Ernst Klee zitiert im „Personenlexikon zum Dritten Reich“ aus einem Telegramm Ludins vom 26. Juni 1942 an das Auswärtige Amt: „Die Durchführung der Evakuierung der Juden aus der Slowakei ist im Augenblick auf einem Toten [sic] Punkt angelangt.“ (Klee 2016: 382) Zeitweise war Hans Gmelin, Vater von Herta Däubler-Gmelin, Adjutant von Ludin. Auch Alexandra Senfft hat sich mit ihren Vorfahren auseinandergesetzt. Im Jahr 2007 wurde ihr Buch „Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte“ veröffentlicht. Zwei Jahre zuvor ist der Film „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“ über die familiäre Auseinandersetzung mit Hanns Ludin erschienen. Regie führt Malte Ludin, jüngster Sohn des Nazitäters. Von Alexandra Senfft liegt zudem „Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte“ (Senfft 2016) vor, in dem die Auseinandersetzung mit dem Großvater zwar nur am Rande vorkommt und dennoch hoch präsent ist. Die Mutter von Senfft, Erika, war eines von sechs Kindern aus der Ehe von Hanns Ludin und Erla von Jordan. Während die Schwestern Barbara, Ellen, Andrea eine Front der Verdrängung zur Täterschaft des Vaters bilden, wird Erika zur Alkoholikerin und stirbt bei einem Unfall infolge der Erkrankung (Menasse 2010).
Stilistisch liegen Welten zwischen den Büchern von Frank und Senfft. Beide kennen sich. Auch Senfft wählt deutliche Worte, wenn sie schreibt, „dass der Vater meiner Mutter ein Nazi war“ (Senfft 2016: 21) und sie zeigt den Mechanismus der familiären Stummheit auf: „Ich bin in das Leugnen und Schweigen hineingeboren worden und habe das verklärende Familiennarrativ lange unbewusst mitgetragen oder jedenfalls nicht hinterfragt. Früh stellte ich fest, dass ich meine Mutter mit jeder Frage nach meinem Großvater verletzte, und so tat ich, was Kinder in so einer Situation eben tun: Ich schonte sie durch Nichtfragen.“ (Ebda.) Geleugnet und geschwiegen wurde in Millionen deutschen Familien. Jenseits unmittelbarer Täterschaft wurde auch das Dulden, das Mitmachen beschwiegen und verdrängt.
Über ihren Deutschlandbesuch 1950 hält Hannah Arendt fest: „Doch nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen als in Deutschland.“ (Arendt 1999 (1950): 44) Auch Arendt kritisiert das „Entnazifizierungsprogramm“ (ebda.: 60) der Alliierten. Es erscheint ihr der „politischen und moralischen Situation nach Kriegsende unangemessen“ (ebda.). Eine solche Kritik an der westalliierten Entnazifizierungspolitik ist bekannt. Vor allem aber von deutscher Seite wurden die Entnazifizierungsbemühungen unterlaufen. Sicher ist es triftig festzustellen, dass sie bereits früh unter dem Einfluss des Kalten Krieges stand und von Antikommunismus als gemeinsames Ticket wie von der Containment-Politik der USA beeinflusst war. Letztere fand ihren Ausdruck auch im Marshall-Plan. Gleichzeitig waren die anderthalb Milliarden Dollar (Grau et al.), die auf diesem Weg nach Deutschland zur Ankurbelung der Wirtschaft gelangten, ein Anti-Krisenprogramm. Antisemitismus ist neben anderen Aspekten auch ein Krisenphänomen. Aus dieser Perspektive ist es nachvollziehbar, die nationalsozialistisch geprägte Bevölkerung mit Wiederaufbaumaßnahmen, Lohnarbeit und finanziellen Erfolgsaussichten zu beschäftigen. Ob die unterschiedlichen Aporien, die sich im Umgang mit der Bevölkerung des NS-Staates und mit Täterschaft ergeben, im Rahmen von Realpolitik hätten aufgelöst werden können, bleibt zweifelhaft. Das in der östlichen Besatzungszone und der DDR praktizierte sowjetische Modell stellt kaum eine Alternative dar.
Alexandra Senfft und Niklas Frank haben ein kritisches Verhältnis zu ihren Vorfahren und zum innerfamiliären Umgang mit NS-Täterschaft gefunden und dabei Brüche in Kauf genommen. Sie sind damit nicht nur eine Minderheit, sie sind Ausnahmen, aber keine Ikonen. Einige weitere sind in „Der lange Schatten der Täter“ versammelt. Andere wiederum traten in die ideologischen Fußstapfen ihrer Eltern. Gudrun Burwitz etwa, die Tochter von Heinrich Himmler, die mit dem NPD-Funktionär Wulf-Dieter Burwitz verheiratetet war, blieb der rechten Gesinnung bis zu ihrem Tod treu. Zwischen 1961 und 1963 hat sie als Sekretärin für den Bundesnachrichtendienst (BND) in Pullach gearbeitet (Gunkel / Leffers 2018). Ein Einzelfall, eine Ausnahme, ist Gudrun Burwitz nicht.
Literatur
Hannah Arendt: Besuch in Deutschland 1950. Die Nachwirkungen des Naziregimes, in: dieselbe: Zur Zeit. Politische Essays, Hamburg 1999. S. 23-70.
Niklas Frank: Der Vater. Eine Abrechnung, München 1993.
Niklas Frank: „Dunkle Seele, feiges Maul: wie skandalös und komisch sich die Deutschen beim Entnazifizieren reingewaschen haben“, Bonn 2017.
Andreas Grau / Regina Haunhorst / Markus Würz: Marshall-Plan und Währungsreform, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,https://www.hdg.de/lemo/kapitel/nachkriegsjahre/doppelte-staatsgruendung/marshall-plan-und-waehrungsreform.html.
Christoph Gunkel / Jochen Leffers: Himmlers Tochter „Püppi“ – Nazi bis zuletzt, 29.06.2018, SPIEGEL online, https://www.spiegel.de/geschichte/tod-von-gudrun-burwitz-heinrich-himmlers-tochter-nazi-bis-zuletzt-a-1215755.html.
Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG): Multidimensionaler Erinnerungsmonitor Studie III 2020 (MEMO), https://www.stiftung-evz.de/assets/4_Service/Infothek/Publikationen/EVZ_Studie_MEMO_2020_dt_Endfassung.pdf.
Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2016.
Eva Menasse: Selbstmord auf Raten, 19.05.2010, Süddeutsche Zeitung online: https://www.sueddeutsche.de/panorama/die-familie-des-nazi-verbrechers-ludin-selbstmord-auf-raten-1.924967.
Alexandra Senfft: Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte, München 2016.
Frank Stern: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen 1991.
Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschugall: »Opa war kein Nazi« Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002.
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- 26/01/2022 - 08:32