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Sascha Lange: Meuten, Swings & Edelweißpiraten – Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus

Sascha Lange: Meuten, Swings & Edelweißpiraten. Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus. Mainz: Ventil Verlag, 2. Auflage, 2018, 224 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 17 Euro. Die Ausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung ist im Jahr 2015 erschienen und kostet 4,50 Euro.

Von Thomas Hirschlein

Im Jahr 1932 zählte die sechs Jahre zuvor als nationalsozialistische Jugendorganisation gegründete Hitlerjugend etwa 100.000 Mitglieder. Im Vergleich zu den anderen politischen und konfessionellen Jugendverbänden war die HJ mit dieser Mitgliederzahl am Ende der Weimarer Republik noch eine unbedeutende Splittergruppe innerhalb der NSDAP. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 begannen diese umgehend damit, andere Jugendverbände zu zerschlagen oder in die eigene Jugendorganisation einzugliedern. In der Folge konnte die HJ ihren Machtanspruch, als „Staatsjugend“ die gesamte deutsche Jugend zu organisieren, im Laufe der 1930er-Jahre immer weiter durchsetzen. Im Jahr 1939 wurde die bis zu diesem Zeitpunkt noch formell freiwillige Mitgliedschaft zur Pflicht. 8,7 Millionen Jugendliche im Alter von 10 bis 18 Jahren, Jungs und Mädchen, waren nun in der HJ und seinen Untergliederungen wie dem Jungvolk und dem Bund Deutscher Mädel.

Vor dem Hintergrund dieser hohen Mitgliederzahl, dem Zwangscharakter der Mitgliedschaft und brutaler Repression ist es umso bemerkenswerter, dass sich Tausende Jugendliche im Deutschen Reich weigerten, bei der HJ mitzumachen, und stattdessen alles daransetzten, eigene Freiräume zu schaffen und zu verteidigen. Die HJ und die nationalsozialistischen Normen ablehnend, bildeten sie sowohl in den Städten als auch in der Provinz lose Zusammenschlüsse und informelle Gruppen. In seiner Studie Meuten, Swings & Edelweißpiraten – Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus gibt Sascha Lange einen umfassenden und bislang einzigartigen Überblick über diese Jugendlichen und präsentiert Materialien aus über 30 Städten und Regionen. Das Buch des aus Leipzig stammenden Historikers und Autors mit dem Schwerpunkt Jugendsubkulturen im 20. Jahrhundert erschien im Jahr 2015 im Ventil Verlag und ist auch als kostengünstige Ausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich.

All jenen, die das Buch noch nicht kennen, sich aber für die Themen Widerstand und Jugendkultur im Nationalsozialismus interessieren, ist die Lektüre von Langes Studie dringend angeraten. Sie beinhaltet zwei unterschiedliche Arten von Kapiteln: Nach Städten und Regionen gegliederte Kapitel stellen die jeweiligen lokalen Gruppen von oppositionellen und widerständigen Jugendlichen vor. Ergänzt werden sie von Kapiteln, die in chronologischer Reihenfolge von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit mit Blick auf die Jugend die gesellschaftlichen Entwicklungen und den historischen Kontext schildern, in dem die Entstehung der Gruppen und ihre Aktivitäten eingebettet waren.

Der Schwerpunkt des Buches liegt auf, wie Lange schreibt, „Jugendsubkulturen, also selbstbestimmten, informellen Gruppen, die aufgrund persönlicher Sympathien sowie kultureller Vorlieben für Musik und Kleidung zusammengefunden haben. Zusammenschlüsse, die ohne Anleitung von Erwachsenen oder illegal agierenden politischen Parteien aktiv wurden.“ (S. 8) Die meisten Aktivitäten dieser Gruppen ordnet der Autor als nonkonformes und oppositionelles Verhalten ein. Der Übergang zu Widerstand sei aber fließend gewesen. Grundlage für Langes Unterscheidung und Einordnung ist die Widerstandsdefinition des Historikers Detlev Peukert. Peukert verstand unter Widerstand im engeren Sinne politisch bewusste Verhaltensformen, die sich fundamental gegen das NS-Regime als Ganzes richteten. Im Unterschied dazu verhielten sich bereits diejenigen Menschen nonkonform, die beispielsweise anstelle von „Heil Hitler“ mit „Guten Tag“ grüßten. Den HJ-Pflichtdienst schwänzen, sich mit Gleichgesinnten treffen und heimlich ausländische Radiosender hören sind Beispiele für oppositionelles Verhalten.

Das Kapitel zu den Leipziger Meuten zeigt exemplarisch, was Langes Studie auszeichnet und so lesenswert macht. Lange beschreibt darin die Entstehungsgeschichte der Meuten, geht auf die Rolle von politischen Einstellungen in den verschiedenen Gruppen ein und berichtet von Verfolgung und Repression durch HJ und Gestapo. Er heroisiert die Jugendlichen dabei nicht, sondern spricht auch ambivalente und kritische Themen an wie Geschlechterbeziehungen innerhalb der Gruppe und das Machogehabe einiger Jungs. In seine Darstellung bezieht er unterschiedliche Quellen ein. Er zitiert aus Berichten der Gestapo, lässt ehemalige oppositionelle Jugendliche als Zeitzeug*innen zu Wort kommen und illustriert das Geschriebene mit zahlreichen historischen Fotografien, Briefen und Dokumenten. Ein Interview mit Wilhelm Endres, einem ehemaligen Meuten-Mitglied, bietet zum Abschluss des Kapitels noch einen ganz persönlichen Einblick in das Innenleben und die Aktivitäten der Leipziger Meuten.

Die Edelweißpiraten, heute eine der bekanntesten Jugendgruppen aus der Zeit des NS, dürfen in Langes Überblicksdarstellung selbstverständlich nicht fehlen. Anfang der 1940er-Jahre lebten Tausende Edelweißpirat*innen in den Industriezentren an Rhein und Ruhr wie Köln, Essen und Wuppertal. Sie waren damit die zahlenmäßig größte Gruppe. Lange weist darauf hin, dass es sich um keine einheitliche Jugendbewegung gehandelt habe. Auch die Bezeichnung „Edelweißpiraten“ war zunächst eine fremde Sammelbezeichnung von HJ und Gestapo, die die Jugendlichen schließlich selbst übernahmen. Neben den Edelweißpiraten behandelt Lange auch deren Vorläufer in der Region, die heute weit weniger bekannten Kittelbachpiraten und Navajos. 

Während die Kapitel über die Jugendgruppen im Rhein-Ruhr-Gebiet und in anderen großen Städten wie Leipzig, Hamburg, München und Berlin ausführlicher ausfallen, umfassen die Unterkapitel zu kleineren Städten wie Würzburg und das Gebiet Franken oftmals nur einen Hinweis zu einer Quelle wie zum Beispiel einem Bericht der Gestapo oder der Reichsjugendführung, in dem von nonkonformem, oppositionellem oder widerständigem Verhalten einer Gruppe Jugendlicher die Rede ist. Dazu passt, dass Lange seine Studie als „Zwischenbericht“ (S. 8) versteht, der auf die damalige Vielfalt aufmerksam machen möchte, indem er zeigt, dass es auch an diesen Orten solches Verhalten von Jugendlichen gab. Im besten Fall regen diese Hinweise die Leser*innen dazu an, selbst einmal genauer in der Lokalgeschichte nachzuforschen.

Wer sich intensiver mit dem Thema Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus befassen oder auch nur einmal einen Überblick über die verschiedenen Jugendgruppen erhalten möchte, kommt um das Buch von Sascha Lange jedenfalls nicht herum.

 

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