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Die Kampagne #StolenMemory und ihre Bildungspotenziale

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Elisabeth Schwabauer arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin Forschung und Bildung bei den Arolsen Archives.  Anna Meier-Osiński ist Outreachmanager Eastern Europe bei den Arolsen Archives

Von Anna Meier-Osiński und Elisabeth Schwabauer

Brieftaschen und Portemonnaies mit persönlichen Papieren, Fotos der Familienangehörigen, Ehe- und Verlobungsringe, Armband- und Taschenuhren, Schmuck, Stifte, Schlüssel, Brillen – diese persönlichen Sachen, die Menschen bei der Inhaftierung im Konzentrationslager mit sich führten, wurden ihnen von den Nazis genommen. Das als Effekten bezeichnete persönliche Hab und Gut hatte für die Besitzer*innen einen starken emotionalen Wert. Damit waren persönliche Erinnerungen an das Leben vor der Verfolgung verbunden.

Die Arolsen Archives verwahren nicht nur die weltweit umfassendste Dokumentensammlung über NS-Verfolgte, sondern mehrere Tausend Effekten, deren Eigentümer*innen immer noch gesucht werden. Im Rahmen der Kampagne #StolenMemory unterstützen Freiwillige in vielen Ländern Europas die Arolsen Archives bei der Suche nach Familien der ehemaligen Verfolgten, um die persönlichen Gegenstände und darin eingeschlossenen persönlichen Erinnerungen zurückzugeben.

Bildungsmaterial #StolenMemory

Die in der Kategorie Wissen und Bildung von Grimme-Institut in 2021 ausgezeichnete Website www.stolenmemory.org der Arolsen Archives begleitet die Kampagne #StolenMemory. Erzählungen der persönlichen Lebenswege von ehemaligen NS-Verfolgten in animierten Filmen, Interviews mit Angehörigen und Webstories sind als qualitativ hochwertiges Online-Angebot gewertet worden.

Diese innovative Form der Auseinandersetzung mit persönlichen Gegenständen und die Authentizität der Lebenswege ihrer Besitzer*innen bergen spannende Möglichkeiten für das forschende Lernen über die NS-Verfolgung und deren Folgen sowohl im Unterricht als auch in außerschulischen Projekten. Bildungsmaterialien zum Thema #StolenMemory stehen interessierten Pädagog*innen ergänzend zu weiteren Angeboten auf der Website zur Verfügung.

Das Material besteht aus drei aufeinander aufbauenden Lerneinheiten. Diesen ist die Einführung ins Thema vorangestellt, die als Grundlage für alle weiteren Lerneinheiten entwickelt ist. Je nach Lernziel eignet sich die Kombination des thematischen Einstiegs mit der jeweiligen Lerneinheit für eine Unterrichtsstunde bzw. allen drei Lerneinheiten für einen Projekttag oder auch als Vorbereitung eines Besuchs der Wanderausstellung #StolenMemory.

Im Mittelpunkt der ersten Lerneinheit stehen Biographien von drei ehemaligen NS-Verfolgten, deren persönliche Gegenstände den Familienangehörigen bereits zurückgegeben wurden. Über die auf der Website angebotenen animierten Kurzfilme zu diesen Personen und die weiteren Informationen lernen Schüler*innen die jeweilige Lebensgeschichte kennen. Die vertiefende Auseinandersetzung mit den Biographien geschieht anhand der ausgewählten Fotos und Dokumente. Deren Analyse sowie die möglichen zusätzlichen Onlinerecherchen dienen der Herstellung einer Verbindung der biografischen Stationen mit den Verfolgungsgeschehnissen und -orten.

Die zweite Lerneinheit hat die eigenständige vertiefende Beschäftigung mit der NS-Verfolgung zum Lernziel. 20 Objekte aus dem Effektenbestand sind im 3-D Format abgebildet und können mit einem Viewer unter dem Reiter „Effekten“ betrachtet werden. Zu den abgebildeten Objekten sind Dossiers mit ausgewählten Archivdokumenten bzw. Papierdokumenten, die sich in den Brieftaschen und Portemonnaies der NS-Verfolgten befanden, vorbereitet. Ausgehend von den individuell ausgewählten Objekten und den im Dossier zusammengestellten Archivmaterialien sowie den persönlichen Dokumenten erschließen sich die Schüler*innen eigenständig die jeweilige Biographie. Die beigefügte Europakarte mit Grenzverläufen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, auf der die Herkunftsländer der ehemaligen Verfolgten gekennzeichnet werden können, soll die Dimensionen der NS-Verfolgung veranschaulichen. 

Die vorgeschlagenen Arbeitsimpulse zur Sicherung der Ergebnisse der individuellen Beschäftigung mit den ausgewählten historischen Dokumenten fördern die Sicherung der Erkenntnis, dass diese nur Fragmente einer Biographie überliefern. Hierbei sollen sowohl die Herkunft der Dokumente, die zum größten Teil aus der NS-Bürokratie stammen, als auch der Inhalt analysiert werden, um die Täterperspektive zu erkennen und zu brechen. Für ein umfassendes Bild sind ergänzendes Dokumenten- und Fotomaterial aus der Zeit vor der Verfolgung sowie Berichte aus den Familien wichtig. Dieser Aspekt ist zentral für die Überleitung zu der dritten Lerneinheit.

Aktive Beteiligung an der Suche nach Angehörigen zwecks Effektenübergabe ist das Hauptthema der dritten Lerneinheit. Die Bedeutung der Effekten für die Familien der ehemaligen NS-Verfolgten erfahren die Schüler*innen anhand einer individuellen Lebensgeschichte, die als Beispiel für Tausende anderen in einem Video festgehalten ist. Im gleichen Video ist eine interaktive Karte zu den Geburts-, Wohn- und letzten Aufenthaltsorten der Effektenbesitzer*innen vorgestellt. Die Nutzung der Karte in Kombination mit eigenem Instagram-Account für die aktive Unterstützung der Rückgabekampagne ist ebenfalls erläutert. Eine noch nicht zurückgegebene Effekte kann anhand der interaktiven Karte nach eigenen Kriterien (z.B. Ort, zu dem man eine Verbindung hat) ausgewählt werden. Von der Effekte kann ein Bild/Screenshot angefertigt werden und anhand der vorbereiteten Vorlage ein Suchaufruf für das Instagram-Posting erstellt werden. Mit dieser den Schüler*innen geläufigen digitalen Beteiligung unterstützen sie aktiv die Suche nach Angehörigen. 

Gesucht? Gefunden? #StolenMemory als Bildungsprojekt – die praktische Umsetzung

Bei einem jeden Projekt, das zum Ziel hat, eine Familie von Verfolgten des NS-Regimes zwecks Effektenübergabe zu finden, ist der Ausgangspunkt der Suche der Regional- bzw. Lokalbezug. Sei es bei der Umsetzung eines deutsch-polnischen Begegnungsprojekts oder bei der Suche von engagierten Freiwilligen europaweit: Ortskenntnisse und Wissen um die Infrastruktur vor Ort erleichtern die Suche erheblich, auch wenn sich zahlreiche nützliche Informationen vermehrt online finden lassen. Um den Einstieg in die Suche möglichst niedrigschwellig zu ermöglichen, entwickelten die Arolsen Archives auf Grundlage der in den Dokumenten zum Verfolgungsweg entnommenen Informationen zu Geburtsorten, Wohnorten, Meldeadressen sowie zusätzlichen Recherchen die oben beschriebene interaktive Landkarte. Mithilfe dieser ist es mit zwei Mausklicks möglich, gesuchte Effektenbesitzer*innen mit Bezug zum gewünschten Ort zu lokalisieren. Der Name der gesuchten Person führt direkt in das Online-Archiv der Arolsen Archives, in dem die Effekten angesehen werden und weitere Informationen zum Verfolgungsweg recherchiert werden können.

Bei der Recherche des Verfolgungsweges unterstützen die Kolleg*innen der Arolsen Archives gerne, denn je umfangreicher die Informationen und je genauer die Analyse der Dokumente, desto größer die Aussicht auf Erfolg. Grundlage einer jeden Suche ist die Auswertung der in den Dokumenten erhaltenen Informationen wie des Familienstands, der Geschwister und des Herkunftsorts, aber auch Hinweise darüber, ob die gesuchte Person die NS-Verfolgung überlebt hat, eventuell emigrierte, repatriiert oder ermordet wurde. Gibt es Hinweise zum Geburtsort, ist es immer hilfreich die Lokalarchive, Standesämter und Kirchengemeinden zu konsultieren, ob es Informationen wie Geburtsurkunden gibt oder Grabstellen der Familien existieren. Häufig führte bei verschiedenen Freiwilligen auch der Aufruf über Social Media und in den lokalen Medien zum Erfolg. Dies ist vor allem dann von Vorteil, wenn es um die Suche in kleinen Gemeinden und Ortschaften geht und beispielsweise über Facebook direkt eine historisch interessierte Community in der Region angesprochen werden kann.

Ausgehend von der anlässlich des 80. Jahrestags des Überfalls auf Polen eröffneten #StolenMemory Ausstellung an der IJBS Oświęcim recherchieren drei Jugendgruppen aus Oświęcim die Schicksale der in der Ausstellung gesuchten polnischen NS-Verfolgten, die aus der Region um Oświęcim und den Wojewodschaften Kleinpolen und Schlesien stammten. Bereits fünfmal sind sie dabei fündig geworden. Ein Dokumentarfilmer begleitet die Jugendlichen beim Suchen und Finden sowie bei den Übergabezeremonien. Die erfolgreichen Übergaben der persönlichen Gegenstände an die Familien, die häufig die einzigen Besitztümer eines geliebten Menschen sind, stellen die größte Motivation für die Jugendlichen dar. Darüber hinaus ist das Gespräch mit der Familie die einzige Möglichkeit einer Vervollständigung der Biographie vor der Zeit der Verfolgung und gleichzeitig ein Akt aktiven greifbaren Erinnerns für die jungen Erwachsenen. Für die Familien ist es auf der anderen Seite - in vielen Fällen nach über 75 Jahren der Ungewissheit - der Zeitpunkt, zu dem das Schicksal eines nahen Angehörigen endlich geklärt werden kann und weiße Flecken in der Familiengeschichte gefüllt werden können.

Im Rahmen einer Kooperation mit dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk (DPJW) wird die Kampagne #StolenMemory seit zwei Jahren kontinuierlich als deutsch-polnisches Bildungsprojekt weiterentwickelt. Informative Publikationen zur Kampagne auf Deutsch und Polnisch stellen diese vor und geben hilfreiche Tipps zur bi- oder trilateralen Begegnung und Impulse zur aktiven Suche im multinationalen Team über Landesgrenzen hinweg. Kürzlich wurde ein Online-Konzept entwickelt, damit auch in Pandemie-Zeiten der Austausch weiter gefördert wird und stattfinden kann. Gefördert werden diese Begegnungen durch das Förderprogramm Wege zur Erinnerung des DPJW. Bestandteil der Förderung sind ebenfalls Dokumentationsprojekte wie Filme oder Publikationen, um die Projekte und die Schicksale der Gefundenen nachhaltig festzuhalten.

Weiterhin wird die Suche nach den über 2.500 Familien durch die Plakatausstellung #StolenMemory unterstützt, die in zahlreichen Ländern Europas seit 2018 zu sehen ist, denn die Verfolgten deren Effekten verwahrt werden, kamen aus über 30 Nationen. Die meisten von ihnen, circa 900 kamen aus Polen, über 600 aus Deutschland, über 300 aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Die Ausstellung, die Suchplakate mit Fotos der Gegenstände und Informationen zum Verfolgungsweg der Gesuchten zeigt, machte bereits Station im Europäischen Parlament in Brüssel, in Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien, an zahlreichen Standorten in Polen sowie 2021 erstmals in Russland in Kooperation mit der Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau. Begleitend dazu wurden die eingangs beschriebenen #StolenMemory Bildungsmaterialien ins Polnische und Russische übersetzt. Des Weiteren ist #StolenMemory seit 2020 in zwei Überseecontainern in Deutschland unterwegs und kann von Engagierten in den eigenen Ort geholt werden. In 2021 wird ein dritter #StolenMemory Container in Polen auf Reisen gehen. Wer mit seinen Schüler*innen oder im Rahmen eines außerschulischen Projektes keine Möglichkeit hat, in der Nähe eine Ausstellung zu besuchen, ist herzlich eingeladen drei Online-Ausstellungen zu besuchen, die in Kooperation mit der Gedenkstätte Auschwitz und der Gedenkstätte Stutthof und Memorial Moskau veröffentlicht wurden. 

Dank des Engagements zahlreicher engagierter Freiwilliger und Journalist*innen in Spanien, Frankreich, Norwegen, den Niederlanden und Polen, aber auch durch die Unterstützung der lokalen Standesämter und Rot-Kreuz-Stellen weltweit konnten bisher in fünf Jahren über 540 Familien gefunden werden. Beispielsweise gelang es im schlesischen Żory das Schicksal von Wilhelm Winkler zu klären, dessen über 80- und 90-jährige Schwestern sowie eine 100-jährige Schwester bis zum Kontakt durch die engagierte Freiwillige nichts vom Verbleib des Bruders wussten. Die Suche nach ihm hatte sie ein Leben lang begleitet. Sie erhielten neben seiner Taschenuhr auch wichtige Informationen zu seinem Verfolgungsweg und Tod und somit nach 75 Jahren Gewissheit über den Verbleib des Bruders. 

 

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