Interview mit Miriam Bistrovic über das Shared History Project – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
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Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Das Interview wurde in Schriftform von Thomas Hirschlein geführt.
LaG: Liebe Miriam Bistrovic, als Leiterin der Berliner Büros des Leo Baeck Instituts New York / Berlin begleiten Sie das Shared History Project von Anfang an. Um was geht es im Projekt und warum haben Sie den Titel Geteilte Geschichte für das Projekt gewählt?
MB: 2021 jährt sich zum 1700. Mal die erste dokumentierte Erwähnung einer jüdischen Gemeinde nördlich der Alpen. Ein Dekret des römischen Kaisers Konstantin aus dem Jahre 321 erlaubte es den Kölner Stadtratsabgeordneten erstmalig auch Juden zur Übernahme öffentlicher Ämter zu verpflichten. Das Leo Baeck Institut New York | Berlin (LBI) hat das Shared History Project: 1700 Jahre jüdisches Leben im deutschsprachigen Raum ins Leben gerufen, um diese facettenreiche und vielstimmige Geschichte zu erzählen und zu zeigen, wie eng jüdische Geschichte und der Alltag der jüdischen Gemeinschaft in dieser Region mit den Erfahrungen der Mehrheitsbevölkerung verflochten sind. Denn wenn selbst Massenmedien in Bezug auf das Judentum in Deutschland von einer „unbekannten Welt nebenan“ sprechen und im öffentlichen Diskurs immer wieder von „den Deutschen“ und „den Juden“ geredet wird, als handele es sich dabei um zwei komplett getrennte, monolithische Entitäten, ist offensichtlich, dass das grundlegende Wissen über die 1700-jährige gemeinsame Geschichte fehlt und jüdisches Leben in Deutschland jenseits der Berichte über Verfolgungen und Diskriminierung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und in den Lehrplänen bisher kaum eine Rolle spielt.
Wir hoffen, dass sich dies im Rahmen des aktuellen Festjahrs zum jüdischen Leben in Deutschland ändern wird und das Shared History Projekt ist unser Beitrag zu diesem deutschlandweiten Netz aus Projekten und Veranstaltungen, der sogar über die Landesgrenzen hinausreicht und den deutschsprachigen Raum abdeckt. Im Shared History Projekt wollen wir Juden*Jüdinnen nicht als Opfer oder passive Objekte der geschichtlichen Entwicklung, sondern als handelnde und aktive Subjekte im historischen Kontext vorstellen.
Die Mehrdeutigkeit des Titels war dabei eine bewusste Entscheidung. Je nach Lesart kann sowohl das Verbindende, der gemeinsame Austausch im Vordergrund stehen - oder das Trennende, der gesellschaftliche Ausschluss. Dieses Wechselspiel einer zwischen zwei Extremen pendelnden Lebenswelt und deren zahlreiche dazwischenliegende, ambivalente Erfahrungen spiegelt zugleich die Erfahrungen und den Alltag von Juden*Jüdinnen in den letzten 1700 Jahren wider. Schließich lösten sich Zeiten der Anerkennung und des gemeinsamen kulturellen und wirtschaftlichen Miteinanders immer wieder mit Phasen der Ausgrenzung und Verfolgung ab.
LaG: Seit seiner Gründung verfolgt das Leo Baeck Institut New York / Berlin das Ziel, das kulturelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums, das durch die Shoah nahezu ausgelöscht wurde, zu bewahren. Inwiefern leistet das Projekt Shared History hierfür einen Beitrag und welche Bedeutung kommt der Shoah im Projekt zu?
MB: Die Geschichte des deutschsprachigen Judentums ist einzigartig. Schon 1932 wies der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens anlässlich des 1600-jährigen Bestehens jüdischen Lebens im deutschsprachigen Raum in seiner Broschüre „Wir Deutschen Juden. 321 – 1932“ darauf hin, dass im Gegensatz zu anderen Auswandernden, wo sich nach ein bis zwei Generationen bereits ein Verlust der Muttersprache beobachten ließe, sich die deutsche Sprache über die Jahrhunderte im Jiddischen bewahrt habe: „Ein wesentliches Merkmal der kulturellen und nationalen Gemeinschaft ist die Sprache. […] Während des ganzen Mittelalters haben sie nicht nur diese deutsche Muttersprache gesprochen, sondern auch in ihr geschrieben, gedichtet und gesungen.“ Das Bewahren dieser Jahrhunderte umfassenden Geschichte und Kultur ist seit 1955 die Kernaufgabe des Leo Baeck Instituts.
Wie uns allen schmerzhaft bewusst ist, werden die Überlebenden der ‚Kindertransporte‘ von 1938/39 bald zu den letzten Zeitzeug*innen, die uns noch persönlich von ihren Erfahrungen berichten können. In nicht allzu ferner Zukunft wird ihre Aufgabe, Zeugnis abzulegen, somit auf die Archive übergehen, in denen bereits jetzt ihre Memoiren, Tagebücher und Briefe liegen. Es gilt daher, neue Wege und Möglichkeiten zu finden, die historischen Quellen nicht nur zu bewahren, sondern auch zu erschließen, um sie auch zukünftigen Generationen nahezubringen. Im Zeitalter der Digitalisierung stehen uns dafür natürlich ganz neue Optionen zur Verfügung. So existiert seit 2012 unser Portal DigiBaeck, auf dem sich inzwischen 4 Millionen Seiten aus unseren Archivbeständen abrufen lassen - weltweit und ohne Zugangsbeschränkungen.
Doch diese Öffnung erfordert zugleich zusätzliche Betreuung. Früher waren es vor allem Historiker*innen, die Dokumente und unbekannte Texte erschlossen haben. Heutzutage, wo jede*r die Möglichkeit hat, ungeachtet von Vorkenntnissen, in den Archivalien zu recherchieren, sind seitens der Archive zusätzliche Schritte vonnöten, um Materialien zu kontextualisieren – eine Aufgabe, die auch zukünftig ein hohes Maß an manueller Arbeit und wissenschaftlicher Kompetenz erfordert. Das Shared History Projekt ist somit ein Beispiel für diese Vorgehensweise.
Die darin vorgestellten Objekte werden durch wissenschaftliche Essays begleitet und eingeordnet und ermöglichen es den Leser*innen, erste Einblicke in die 1700-jährige Geschichte und Kultur des jüdischen Lebens im deutschsprachigen Raum zu gewinnen und auf Wunsch auch tiefer in die Materie einzutauchen.
Der Holocaust nimmt hierbei eine Sonderstellung ein. Angesichts der großen Zeitspanne von 1700 Jahren erscheint der Zeitraum von 12 Jahren gering, aber es ist zugleich unleugbar, dass der Zivilisationsbruch historisch einzigartig ist und nicht nur jüdisches Leben weit über Deutschlands Grenzen hinaus bis heute prägt. Bereits in der frühen Konzeptionsphase des Projekts gab es daher ausführliche Diskussionen, wie sich die Shoah innerhalb des Shared History Projekts darstellen ließe. In den Gesprächen mit Kolleg*innen aus dem Auswahlkomitee war recht rasch ersichtlich, dass sich das Ausmaß des Holocausts nicht mit einem einzelnen Objekt darstellen lässt. Letztendlich haben wir uns entschieden, den Bruch nicht nur visuell deutlich zu machen, sondern auch das Konzept der wöchentlichen Veröffentlichung eines einzelnen Objekts in der Woche, in der wir den Holocaust behandeln, zu unterbrechen. Stattdessen wird in dieser Woche jeden Tag ein anderes Objekt gezeigt, das einen anderen Aspekt des Holocausts behandelt: Rettung, Verfolgung, gelungene und gescheiterte Flucht, Untertauchen, Resilienz und Ermordung.
LaG: Das Projekt Shared History erzählt anhand von 58 Objekten 1700 Jahre Geschichte von Juden*Jüdinnen in Mitteleuropa. Unter welchen Gesichtspunkten haben Sie die Objekte ausgewählt? Und können Sie uns ein, zwei Beispiele geben, welche Themen und Aspekte jüdischer Geschichte anhand der Objekte vermittelt und erzählt werden? Haben Sie ein persönliches Lieblingsobjekt?
MB: Das Shared History Projekt war von vorneherein virtuell angelegt. Dadurch ist es im Gegensatz zu herkömmlichen Ausstellungen nicht auf greifbare Objekte angewiesen. Statt die Auswahl auf physische Artefakte zu begrenzen, war bei der Nominierung ein hohes Maß an Kreativität ausdrücklich gewünscht, denn auch literarische Figuren, Mythen sowie Plätze, Gebäude oder Monumente sind durchaus Objekte jüdischer Geschichte im deutschsprachigen Raum und sollten bei der Umsetzung adäquat berücksichtigt werden. Was im Rahmen physischer Ausstellungen nur schwer vermittelbar sein mag, konnte auf der Webseite mithilfe von verschiedenen Techniken wie 3D Modellen, interaktiven Grafiken, sowie der Einbindung von Augmented Reality und 360° Absichten präsentiert werden.
Zu Beginn des Jahres 2020 evaluierte ein Auswahlkomitee, bestehend aus Repräsentant*innen von Museen, Archiven, akademischen Forschungseinrichtungen und jüdischen Gemeinden, die mehreren hundert nominierten Objekte und wählte unter ihnen letztendlich 58 Objekte aus, die im Shared History Projekt das gesamte Spektrum der jüdischen Geschichte seit 321 bis zur Gegenwart beleuchten. Dabei kamen mehrere Auswahlkriterien zum Tragen, vornehmlich wie gut es den Objekten gelingt, eindrücklich Begebenheiten oder Phänomene der deutschsprachigen jüdischen Geschichte zu schildern und wichtige Aspekte der jüdischen Religion oder religiöse Praktiken verständlich zu vermitteln. Zugleich sollten die Objekte als einprägsame Zeugnisse jüdischer Kultur dienen und die Interaktion sowie den kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Austausch zwischen der christlichen Mehrheit, Juden*Jüdinnen und anderen Bevölkerungsgruppen dokumentieren. Auch sollten die gewählten Objekte eines oder mehrere der zentralen Themen des historischen Narratives aufgreifen, beispielsweise Migration, Alltagsleben, Inklusion, Ausgrenzung, Akzeptanz, Akkulturation, Errungenschaften, Verfolgung, Exil und Resilienz. Vor allem ging es darum, den Sachverhalt, dass Juden*Jüdinnen seit Jahrhunderten im deutschsprachigen Raum leben, zu betonen und die vielfältigen Stimmen, die dieses historische Narrativ formten, zu Wort kommen zu lassen.
Dabei zeigte sich gerade in der gegenwärtigen Corona-Pandemie wie aktuell einige der Objekte und ihre Geschichten sind. Ein Beispiel ist das Manuskript zum Prozess gegen die jüdische Gemeinde von Trient. Die mittelalterliche Ritualmordlegende um Simon von Trient ist ein Musterbeispiel dessen, was heutzutage als Fake News gelten würde und obwohl sowohl christliche als auch weltliche Autoritäten den Ritualmordvorwurf widerlegten und Zeitgenoss*innen die Rechtmäßigkeit des Prozesses in Zweifel zogen, wurden am Ende alle männlichen Angeklagten auf Grund von unter Folter erzwungenen Geständnissen hingerichtet. Lediglich den Frauen wurde die Möglichkeit der Konversion zum Christentum als Ausweg angeboten. Damit endete die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Trient, nicht aber die Ritualmordlegende, die nicht nur von den Nationalsozialisten im Stürmer aufgegriffen wurde, sondern sich bis heute in der jeglichen Grundlage entbehrenden Verschwörungserzählung niederschlägt, dass Juden*Jüdinnen Kinder zu rituellen Zwecken ermorden würden.
Doch das ist nur ein Beispiel aus 58 Objekten, die alle unterschiedlich und für sich genommen einzigartig sind. Noch dazu sind einige davon erst in den letzten zehn bis zwanzig Jahren wiederentdeckt worden und erzählen somit auch noch eine ganz eigene Geschichte von Verlust und Vergessen. Insofern fällt es mir schwer, ein Lieblingsobjekt zu benennen. Jedoch würde ich die Besucher*innen der Webseite vor allem auf die kleinen, die unscheinbaren Dinge aufmerksam machen wollen, vielfach sind es gerade deren Geschichten, die sich als unglaublich überraschend oder bestürzend entpuppen.
Sei es der Goldohrring aus Köln, der bereits anhand seines Fundorts und der verwendeten Materialien die enge Verschmelzung von jüdischer und christlicher Lebenswelt sowohl im wirtschaftlichen Bereich als auch im Alltag verdeutlicht. Oder die Öllampe aus Trier, die zum einen die universelle Beliebtheit jüdischer Motive in der Antike belegt und es uns heute unmöglich macht, eindeutige Rückschlüsse auf die religiöse Zugehörigkeit ihrer früheren Besitzer*innen zu ziehen. Zum anderen verweist die Öllampe aber auch auf die Wiederentdeckung dieser gemeinsam geteilten Geschichte und deren Erforschung durch jüdische Akteur*innen im frühen 20. Jahrhundert, denn bei ihrem Fund war dieses kleine Objekt eine regelrechte Sensation. Ein ähnlicher Sensationsfund war der Anhänger aus Sobibór, der 2016 bei Ausgrabungen aus der Erde des Vernichtungslagers geborgen wurde. Er trotzte somit der Absicht der Verschleierung der Verbrechen durch die Nationalsozialisten, die nicht nur die Opfer ihrer Verbrechen, sondern sämtliche Spuren an diese zu beseitigen versuchten, und hält die Erinnerung an den Holocaust und vor allem an seine jugendliche Besitzerin wach, die fern ihrer Frankfurter Heimat ermordet wurde.
Hier zeigt sich erneut, dass das Shared History Projekt, dessen Objekte und deren Wirkung bis in unsere Gegenwart reichen. Sie beleuchten schlaglichtartig die Höhepunkte, den regulären Alltag der jüdischen Gemeinschaft im Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft und auch die Schrecken und erlebten Verfolgungen innerhalb dieser gemeinsam geteilten 1700-jährigen Geschichte, die zugleich eine Geschichte der Erfolge und der Rückschläge und des steten Ringens einer Minderheit um die Gewährung der gleichen Rechte ist. Eine gemeinsam geteilte Geschichte und Erfahrung, die gerade heutzutage in einer multikulturellen Gesellschaft mit all ihren Herausforderungen und Chancen zutiefst aktuell und relevant ist.
LaG: Vielen herzlichen Dank für das Interview!
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- 23/06/2021 - 05:45