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Pädagogische Mitarbeiter*innen an Gedenkstätten und das Dilemma der antifaschistischen Waschmaschinen – Agency im geschichtskulturellen Wandel in der Migrationsgesellschaft

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Cornelia Chmiel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Verbundprojekt "Geschichten in Bewegung" am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte an der FU Berlin. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der partizipativen und inklusiven Gestaltung außerschulischer Bildungsarbeit und historischem Lernen als geschichtskultureller Teilhabe. Darüber hinaus arbeitet sie als Referentin für historisch-politische Bildungsarbeit in der Gedenkstätte Sachsenhausen.

Von Cornelia Chmiel

„Was an uns herangetragen wird, und zwar immer mehr und was wir nicht leisten können, ist aus Nazis gute Menschen zu machen. Das können wir nicht. Das wollen wir nicht. Das ist eine Instrumentalisierung dieser Orte. Wir sind keine antifaschistischen Waschmaschinen.“ (BII17: 11)

Wortgewaltige Metaphern wie die der „antifaschistischen Waschmaschinen“ finden sich zahlreich in den Interviews mit pädagogischen Mitarbeiter*innen in Gedenkstätten, die im Berliner Teilprojekt des Verbundprojektes des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) „Geschichten in Bewegung“ entstanden sind. Im Projekt wurden Interviewte verschiedener Bereiche historischer Bildungsarbeit dazu befragt, wie sie gegenwärtige Veränderungen im Umgang mit Geschichte vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Pluralität wahrnehmen und wie sie ihre eigene Rolle darin bewerten. In den Gedenkstätten scheinen die Befragten sich einig: Neben der Forderung, den antifaschistischen Schleudergang anzuwerfen, sehen sie sich mit dem Anspruch konfrontiert, „Orte des gesellschaftlichen Recyclings“ zu sein, „die gedenkstättenpädagogische Marienerscheinung“ zu erzeugen und ein „Allheilmittel“ für gesellschaftliche Probleme bereitzustellen. Diese Anforderungen deuten die Interviewten als Resultat kontroverser Aushandlungen um ein gesellschaftliches Selbstverständnis und die Rolle von Geschichtserzählungen darin. Neben Bestrebungen, eine nationale Meistererzählung durch vielstimmige Erzählungen zu ergänzen oder auch zu ersetzen, werden Stimmen laut, die „diesen national-identitären Wunsch“ vertreten, „sich selbst wieder zu finden und deutsche Visionen zu fantasieren“ (BII15: 83). 

Dabei wird vermehrt auf Gedenkstätten Bezug genommen. Angesichts gesellschaftlicher Polarisierung, zunehmender rassistischer und antisemitischer Gewalt und einer vermeintlichen Herausforderung durch Flucht und Migration werden Gedenkstättenbesuche als Lösungsvorschlag bedient, ihnen werde Bedeutung „aufgezwängt“ und „angedichtet“ (BII8: 11). Geschichtskultureller Wandel erscheint hier als übermächtige Gewalt, der Gedenkstätten als Projektionsfläche ausgeliefert sind. In unseren Interviews berichten die Befragten von Versuchen, produktiv mit diesem Überforderungsszenario umzugehen und ihm die Möglichkeit abzuringen, dennoch als selbstbestimmte Akteur*innen mit Agency (siehe dazu Yildirim in diesem Heft) im geschichtskulturellen Wandel aufzutreten.

„Hinter uns kann keiner mehr zurück.“ (BII17: 33) – Die Etablierung von Gedenkstätten als Erfolgsgeschichte?

Die geschichtskulturellen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte lassen sich durchaus als Erfolgsgeschichte erzählen. Nach jahrzehntelangen Kämpfen um eine Erinnerung und Anerkennung der Erfahrungen ehemaliger Häftlinge sind Gedenkstätten inzwischen „in der Mitte der Gesellschaft“ (BII17: 33) angekommen und gehören zur „kulturellen Grundausstattung der Bundesrepublik“ (BII7: 50). Neben unermüdlichen Kämpfen seitens der Überlebenden und anderer zivilgesellschaftlicher Akteur*innen vermutet der Befragte BII7 jedoch noch einen anderen Grund für den Ausbau der institutionellen Förderung: Da viele Täter*innen bereits verstorben waren, sei in den frühen 2000ern ein Punkt erreicht worden, an dem es „vielen eben nicht mehr weh tat“ und Aushandlungen weniger kontrovers geführt werden mussten (BII8: 18). 

Inzwischen werde die Relevanz von Gedenkstätten als Institutionen, die den Nationalsozialismus „im kollektiven Gedächtnis wachhalten“ (BII27: 13) kaum noch in Frage gestellt (BII7: 50). Im Gegenteil bestehe sogar ein weitestgehender „Konsens“ darüber, „dass das ein wichtiges Thema ist und behandelt werden sollte“ (BII17: 31). Gleichzeitig weisen die Befragten darauf hin, dass sich eben dieser gesellschaftliche „Konsens“ gegenwärtig als vermeintlich erweist und zunehmend durch rechte Akteur*innen herausgefordert wird. Umso mehr gelte es, „eine Stimme zu sein, in diesem ganzen, gerade richtig abgefuckten politischen und populistischen Diskurs“ (BII27: 9). Gerade angesichts des Erstarkens der AfD sehen die Befragten Gedenkstätten in der Verantwortung, aktiv Stellung zu beziehen, auf die Kontinuitäten rassistischer und antisemitischer Denkmuster hinzuweisen und damit „dieses klassische ,Wehret den Anfängen‘“ (BII17: 31) zu betreiben.

Wirkmächtige Akteurinnen oder passive Projektionsflächen? Gedenkstätten im geschichtskulturellen Wandel

Der Kampf um Etablierung scheint von Erfolg gekrönt zu sein: Gedenkstätten haben sich zu wirkmächtigen Akteurinnen entwickelt, die eine wichtige Rolle für „die Positionierung dieses Landes“ spielen, und zwar nicht nur als „Alibieinrichtungen“, dazu seien sie inzwischen zu groß (BII17: 11). Und dennoch verweisen das zuvor skizzierte Überforderungsszenario und die gestiegenen Bedeutungszuschreibungen darauf, dass eben diese gezielt eingeforderte und erkämpfte Entwicklung von unerwünschten Nebenwirkungen gekennzeichnet ist. 

So beklagt die Befragte BII16, mit einer steigenden Etablierung würden Gedenkstätten auch zunehmend Schauplätze ritualisierter Symbolpolitik: Einmal im Jahr käme der Bürgermeister, „um hier seine Rede loszuwerden und seinen Kranz abzuwerfen“ (BII16: 21), was in letzter Instanz jedoch keine Auswirkungen habe, sondern gemacht werde, „weil es gemacht werden muss“ (ebd.). Durch geschichtskulturelle Rituale und Konventionen wird die Erinnerung an den Nationalsozialismus in feste Formen gegossen und handhabbar gemacht. Was „als Geschichte von Unten angefangen hat und was Kritisches und vielleicht auch was Antistaatliches war“ hat sich nun zu etwas entwickelt, „was von oben kommt“ (BII16: 55). Indem Gedenkstätten zum Austragungsort staatlicher Selbstvergewisserung werden, verlieren sie ihre Funktion als „Stachel im Fleisch der Deutschen“ (BII16: 57). Eine negative Geschichte wird zunehmend zu einem Referenzpunkt, „der irgendwie eine nationale Identität oder vielleicht sogar Nationalismus begründen kann“ (ebd.). Damit werden Gedenkstätten in den Dienst der Stabilität von Herrschaft gestellt und, wie zuvor skizzierte Ansprüche zeigen, zu nichts Geringerem als der Errettung der Demokratie herangezogen:

„Alle Geflüchteten müssen mal in die KZs, weil dann wird ihnen der Antisemitismus ausgetrieben. Ja und jedes AfD-Mitglied, eigentlich dürfen die auf keinen Fall kommen oder nein, eigentlich sollten sie ja doch kommen, weil dann lernen sie ja, wie sie die richtige Einstellung und das macht mich echt fertig, das ist, als wäre es so das Allheilmittel. Wo ich denke, was soll das?“ (BII8: 33)

Schüler*innen, wahlweise aber auch Geflüchtete, AfD-Mitglieder und Neonazis sollten eine Gedenkstätte besuchen, um sich hier zum Fundament der „deutschen Geschichte“ zu bekennen und auf einen moralischen und kulturellen Grundkonsens eingeschworen zu werden. So problematisch eine Gleichsetzung dieser Gruppen ist, zeigt sie doch die Absurdität der Ansprüche, die ein Besuch am historischen Ort erfüllen soll. Gesamtgesellschaftliche Probleme werden so auf bestimmte Gruppen externalisiert, wodurch die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ ihre reine Weste bewahrt. 

Hier wird deutlich, dass Gedenkstätten sich einerseits zu handlungsmächtigen Akteurinnen entwickelt, andererseits aber mit einer zunehmenden Instrumentalisierung als Resultat dieser Entwicklung zu kämpfen haben.

Historisches Lernen als Prozess der Befähigung? Agency im geschichtskulturellen Wandel

Aus „Nazis gute Menschen zu machen“ ist ein Anspruch, den pädagogische Mitarbeiter*innen weder erfüllen können noch wollen. Während die zunehmende Etablierung einerseits ermöglicht, Gedenkstätten als wirkmächtige geschichtskulturelle Akteurinnen zu begreifen, führt sie andererseits dazu, dass diese als passive Projektionsfläche instrumentalisiert werden. Insbesondere die Gedenkstättenpädagogik läuft hier Gefahr, ihr kritisches Potenzial zu verlieren. 

Mit diesem Dilemma gilt es sowohl in der alltäglichen Arbeit als auch im professionellen Selbstverständnis einen Umgang zu finden. Gedenkstätten beschreiben die Befragten immer auch als Verhandlungsräume: Hier treffen tradierte Narrative auf individuelle Bezüge und Perspektiven. Es handelt sich also um eine Schnittstelle, an der Geschichtskultur aktualisiert und neu verhandelt wird. Dieser Aushandlungsprozess findet jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern im Kontext gesellschaftlicher Macht- und Repräsentationsstrukturen statt.

Und so beschreiben die Interviewten den Versuch, eben diese Verhandlungsräume vor überbordenden Ansprüchen und Instrumentalisierungen abzuschirmen, um das kritische Potenzial einer Auseinandersetzung mit NS-Geschichte zu bewahren, die doch eigentlich zu nichts weniger taugt als nationaler Selbstvergewisserung. Dazu bedienen sie sich verschiedener Strategien.

Zum einen fordern die Interviewten eine politische Positionierung seitens der Gedenkstättenleitungen, um die Handlungsmacht, die in den letzten Jahrzehnten erkämpft wurde, zu nutzen und zugleich die Räume historischen Lernens zu entlasten. Was historisches Lernen vor Ort nicht leisten kann, soll die Gedenkstätte als Institution erfüllen:

„Ich will nicht hier stehen und einer 8. Klasse […] erzählen: ,Jetzt passt aber auf, die bösen Nazis!‘ und so. Ich würde es aber durchaus spannend finden, wenn die Leitungen von Stiftungen, die solche Orte betreuen, feste Positionen haben und sich gegen was politisch äußern.“ (BII8: 41)

In der pädagogischen Arbeit geht es den Mitarbeiter*innen dagegen darum, möglichst unvoreingenommen zu agieren, vielfältige Anknüpfungspunkte und Bezüge der Besucher*innen aufzugreifen und einen demokratischen Aushandlungsprozess zu ermöglichen. Es gelte, die Besucher*innen als „Subjekte“ (BII9) ernst zu nehmen, um ein Mitwirken an geschichtskulturellen Aushandlungsprozessen zu ermöglichen. Historisches Lernen an Gedenkstätten wird hier als Prozess beschrieben, der Besucher*innen die Möglichkeit gibt, Agency auszubilden, an Geschichtskultur teilzuhaben und diese aktiv mitzugestalten (siehe dazu auch Chmiel/Sieberkrob in diesem Heft). Das ist in letzter Instanz auch im Interesse der eigenen Institution: Die Bedeutung des Nationalsozialismus und damit verbunden auch von Gedenkstätten für die Gegenwart kann nur anhaltend bestehen, wenn sie immer neu verhandelt wird. An dieser Stelle werden Konventionen, festgeschriebene Deutungsmuster und vorbestimmte Lehren zum Problem. 

Dabei zeigen sich dennoch normative Zielsetzungen. Sie möchten „Einfluss nehmen“ (BII17) und für den Erhalt bestimmter Narrationen sorgen. Anhand von NS-Geschichte soll erklärt werden, „wie Dinge gesellschaftlich passieren können und wie man mit ihnen umgehen kann“ (BII17: 9). Hier zeigen sich hochgesteckte Ziele: Kontinuitäten aufzeigen, Lösungen finden, dabei aber auch politisches Bewusstsein und eine kritische Haltung fördern. Das gesellschaftliche Überforderungsszenario der antifaschistischen Waschmaschinen wirkt im professionellen Selbstverständnis der Befragten fort.

Widersprüche aushalten und Handlungsräume eröffnen

Historisches Lernen an Gedenkstätten kann nicht ohne seinen geschichtskulturellen Kontext betrachtet werden. Der normative Rahmen, in dem die Geschichte des NS verhandelt wird, ist Ergebnis langjähriger Kämpfe um Anerkennung und damit die Grundlage dafür, dass überhaupt historisches Lernen vor Ort stattfindet. Dennoch scheint sich diese Entwicklung zunehmend verselbstständigt zu haben, wodurch eben dieser Rahmen zur Herausforderung wird. Das historische Lernen vor Ort gerät unter Druck, soll es doch die Stabilität der demokratischen Ordnung garantieren. Insbesondere die Heterogenität möglicher Bezugnahmen erscheint dabei zugleich notwendig als auch nicht gewünscht, da sie das bestehende System ins Wanken bringen kann.

Um dennoch handlungsfähig im geschichtskulturellen Wandel zu agieren, positionieren sich pädagogische Mitarbeiter*innen stetig in den Spannungsfeldern zwischen normativer Vorbestimmtheit und Ergebnisoffenheit, Wandel und Erstarrung, Bewahren und Verändern. Dabei schaffen sie Verhandlungsräume, in denen sich geschichtskulturelle Strukturen spiegeln und die zugleich das Potenzial beinhalten, eine Überschreitung eben dieser Strukturen zu ermöglichen. Die hier aufgezeigten Paradoxien und Widersprüche stellen dabei Herausforderungen dar, können aber auch als produktive Beunruhigung genutzt werden, um das kritische Potenzial historischen Lernens an Gedenkstätten zu bewahren.

Literatur:

Chmiel/Sieberkrob (2021). Demokratiebildung und historisches Lernen. Mehr als Demokratiegeschichte. S. in diesem LaG-Magazin: lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/15046

Yildirim (2021). Historische Agency auf dem Markt der Erinnerungen der pluralen Gesellschaft: historische Diskursfähigkeit als Handlungsmächtigkeit. LaG (…)

 

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