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Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter

„Die Kriegsverbrecherlobby“ ist im Suhrkamp Verlag erschienen. Zudem ist das Buch 2019 in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufgelegt worden.

Von Tanja Kleeh

Felix Bohrs Studie 2018 erschienene umfangreiche Studie „Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter“ beleuchtet das Verhältnis der Bundesrepublik zu in westeuropäischen Ländern inhaftierten NS-Tätern. Er schließt damit eine bis dato vorherrschende (Forschungs-) Lücke in der Aufarbeitung der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. 

In der Studie liegt der Schwerpunkt auf den Niederlanden und Italien. Die dortigen Inhaftierten, auf deren Geschichten und die Bemühungen der Bundesrepublik sich Felix Bohr bezieht, werden zu Beginn ausführlich vorgestellt. Es handelt sich in Italien um Herbert Kappler, den „Henker von Rom“. In seine Verantwortung fallen unter anderem das Massaker in dem ehemaligen Bergwerk Fosse Ardeatine bei Rom, dem am 24. März 1944 335 Italiener zum Opfer fielen sowie Razzien gegen die jüdische Bevölkerung Italiens. 1948 wurde Kappler vor einem italienischen Militärgericht zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Ebenfalls vor einem Militärgericht werden in den Niederlanden die „Vier von Breda“ verurteilt. Joseph Kotalla, Franz Fischer, Willy Lages und Ferdinand aus der Fünften wurden für ihre entscheidende Mitwirkung bei der Vernichtung der Jüdinnen und Juden zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Für alle genannten NS-Täter werden sowohl deren Biografien vor und während des Nationalsozialismus als auch der Haftverlauf nachgezeichnet. Gekennzeichnet sind diese von großem Detailreichtum und einordnenden Hintergrundinformationen. So ordnet Bohr für Italien ein, wie viele Verbrechen durch die Nationalsozialisten dort verübt wurden und zu wie vielen Verfahren es kam. Auch der allgemeine Umgang nach 1945 in Italien und den Niederlanden wird thematisiert.

Den großen Rahmen für seine Forschungen stellen bei Felix Bohr drei Organisationen, „die sich durch ihr Engagement für NS-Täter besonders hervortaten“ (S.17) – Kirchen, Politik und die titelgebende Lobby, die sich aus Interessensverbänden ehemaliger Kriegsgefangener und Kriegsheimkehrer zusammensetzte. Das Vorgehen in der Studie selbst ist chronologisch. Insgesamt wird der Zeitraum zwischen 1949 und 1989 untersucht. Der erste Teil ist der jungen Bundesrepublik (1949 bis 1961) gewidmet. Hier macht Felix Bohr die Entstehung der entsprechenden Netzwerke aus. Ausführlich wird die Rolle der Kirchen beleuchtet. Eine besondere Rolle kam dem Evangelischen Hilfswerk und der Caritas zu. Auf Seiten der Katholiken ist die Hilfe für NS-Täter eng mit dem Namen Bischof Alois Hudal verbunden. Dieser half unter anderem bei der Organisation der sogenannten „Rattenlinie“, welche über Südtirol, Rom oder Genua die Flucht von NS-Größen wie Josef Mengele und Adolf Eichmann ermöglichte. Aber auch die Politik der Bundesrepublik spielte eine entscheidende Rolle. Unter der Regierung Adenauer wurden große Anstrengungen unternommen, „sich der Frage der deutschen Kriegsgefangenen und Verschleppten mit größerer Stärke anzunehmen als bisher“ (S.79). Dabei wurde nicht zwischen NS-Tätern in westeuropäischen Ländern und den in der Sowjetunion verbliebenen Kriegsgefangenen unterschieden. So beschloss der Bundestag denn auch bald die Einrichtung einer Zentralen Rechtsschutzstelle, der es oblag, auch die im Ausland inhaftierten NS-Verbrecher juristisch zu betreuen. Als wichtigen Treiber hinter dem Handeln von Kirche und Politik sieht Bohr den dritten Akteur, die Lobby der „alten Kameraden“. Darunter sind Netzwerke von Kriegsheimkehrern, ehemaligen Kriegsgefangenen und deren Angehörigen zu verstehen. Bohr stellt drei dieser Organisationen und ihr Wirken in der Bundesrepublik vor. Vor allem durch Eingaben, Protestschreiben und Petitionen forderten sie die Freilassung der noch inhaftierten Täter. Wie Bohr immer wieder betont, kämpften diese jedoch – wie auch die Bundesregierung- um die Bedeutungshoheit. Das Narrativ der Lobby, die unter anderem das Märchen vom Befehlsnotstand zu etablierten suchten, stand der sich verstärkenden „zeitgeschichtliche(n) Informiertheit“ (S.137) der Bevölkerung gegenüber. Dies sei laut Bohr zum einen auf vermehrte Veröffentlichungen durch Historiker*innen, aber auch die vermehrte sichtbare Verfolgung von NS-Taten in Deutschland, beispielsweise Einsatzgruppen-Prozesse, zurückzuführen. 

Eine Zäsur macht Bohr – wie allgemein angenommen – am Eichmann-Prozess 1961 aus. Mit diesem beginnt die zweite von Bohr ausgemachte Zeitspanne, die bis 1969 andauert. Als einer der über hundert Zeug*innenwurde Herbert Kappler hinzugezogen. Er leugnete, Eichmann oder dessen Namen vor 1945 gekannt zu haben und nutzte zudem die Gelegenheit, „um seinen Anteil an Planung und Ablauf der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie in Italien herunterzuspielen“ (S.141). Parallel begann in Italien die öffentliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Dabei festigte sich „das Bild der zu Kriegszeiten heroisch gegen die brutale deutsche Besatzungsmacht kämpfenden Partisanen“ (S.145). Die Stimmung innerhalb Italiens, aber auch die Beziehungen zwischen Italien und Deutschland verschlechterten sich zu Ungunsten Kapplers. Hingegen war die Stimmung in der Bundesrepublik zwiegespalten: Der Wunsch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen wuchs, während Prozesse gegen einzelne Personen geführt wurden. „Das Offenbarwerden der deutschen Schuld drängte zwangsläufig das gesellschaftliche Opfernarrativ zurück“ (S.148), so resümiert Felix Bohr die Stimmungslage der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik. Die Hilfeleistungen für NS-Täter wurden nun vermehrt im Stillen vollzogen. Auch auf die Bemühungen um eine Freilassung der „Vier von Breda“ wurden durch diesen Wandel beeinflusst. Ebenso wie in Italien wurde mit dem Eichmann-Prozess die Erinnerung an die Zeit der Besatzung wachgerufen. Als zweiten wichtigen Faktor im Königreich machte die Popularität des Tagebuch der Anne Frank aus. Ähnlich wie in Italien wurde in der Öffentlichkeit das Bild der widerständigen Bevölkerung, die unbeugsam gegen die Nationalsozialisten kämpfte, propagiert.

Interessant ist an dieser Stelle das Engagement Willy Brandts in seiner Rolle als Außenminister. Bohr sieht das Engagement der SPD in der Kriegsverbrecherfrage als stellvertretend für die Ambivalenz der Partei mit der NS-Vergangenheit an. Diese „Mischung aus Pragmatismus und Misstrauen“ schreibt Bohr auch dem späteren Kanzler Brandt zu.

Den dritten zeitlichen Abschnitt macht Bohr zwischen 1969 und 1982 aus. Mit der Wahl Willy Brandts zum Kanzler 1969 setzt die sozialliberale Ära in der Bundesrepublik ein. Bezüglich der weiter im Ausland inhaftierten Kriegsverbrecher bemühte sich die Regierung „intensiver als je zuvor“ (S.221). Selbst in der berühmten Rede Brandts zum 8. Mai 1970 findet Felix Bohr Hinweise darauf: „Und wir erinnern uns auch daran, dass Schuld sehr unterschiedlich gemessen werden kann, so dass es immer noch Häftlinge gibt, die sich in fremden Gewahrsam befinden“ (S.223). Dies kann als Kritik an den Haftländern gelesen werden. Die verbliebenen Inhaftierten wurden nichtsdestotrotz als „Hypothek“ gesehen, welche die zwischenstaatlichen Beziehungen belasteten. So blieb das Engagement für sie weiter auch weitgehend im Stillen. Es ließ sich jedoch nicht vermeiden, dass immer wieder öffentliche Diskussionen entstanden. Denn auch die Unterstützenden der Inhaftierten arbeiteten weiter, argumentierten etwas im Falle Kapplers, dieser habe seine Taten bereut und er sei gar kein „echter“ Kriegsverbrecher. Auch im von Bohr veranschlagten vierten zeitlichen Abschnitt (1982 bis 1989) wurden die Bemühungen auf allen Seiten fortgesetzt. Die Anzahl der Inhaftierten hatte sich durch die erfolgreiche Flucht Kapplers und zwei Tode in Breda zwischenzeitlich dezimiert. Mit dem Verband der Heimkehrer zog sich jedoch der größte Lobbyverband Anfang der 1980er Jahre zurück. Das Bild der von seinen Mitgliedern proklamierten „sauberen Wehrmacht“ bestand in weiten Teilen der bundesrepublikanischen Bevölkerung weiterhin fort. Dass es letztendlich zu einer Entlassung der letzten beiden in Breda inhaftierten NS-Verbrecher kam, ist auch einer Veränderung des politischen Klimas in den Niederlanden zuzuschreiben. Letztendlich war es aber ohne die langjährigen Bemühungen von Seiten der Bundesrepublik unmöglich.

Fazit

„Die Kriegsverbrecherlobby“ ist ein äußerst dicht geschriebenes Buch. Felix Bohr spart sich jedoch aufwendige Exkurse. Seine zahlreich einordnenden Passagen, die den Leser*innen eine gutes Verständnis ermöglichen, fallen eher in Nebensätzen, so dass bereits nach wenigen Zeilen die wichtigsten Informationen gegeben sind und sich weiter dem Hauptthema der Studie gewidmet wird. Die Studie bietet einen guten Überblick über ein bisher kaum bekanntes Thema.

 

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