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Entnazifizierung. Der westalliierte Umgang mit Nationalsozialist*innen, die keine gewesen sein wollten.

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Von Ingolf Seidel

Die militärische Zerschlagung des nationalsozialistischen Unrechtsstaats bedeutete vorerst zugleich ein Ende deutscher Staatlichkeit insgesamt. Bekanntlich wurde das Land in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Im Rahmen der Konferenz von Potsdam, die vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 andauerte, verständigten sich die Alliierten noch gemeinsam auf die Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung und Demokratisierung Deutschlands. Doch spätestens beim Scheitern der Londoner Außenministerkonferenz im Dezember 1947 wurde der Bruch zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion in Bezug auf den Umgang mit Deutschland manifest. Ohnehin bestanden bereits vorher bei den Alliierten verschiedene Vorstelllungen darüber was unter Demokratisierung und Entnazifizierung zu verstehen sei. Schon im Januar desselben Jahres waren die britische und die amerikanische Besatzungszone zur Bizone vereinigt worden. Mit der Währungsreform am 20. Juni 1948, die für die drei westlichen Besatzungszonen und Westberlin die D-Mark einführte, wurde die Aufteilung des Landes in unterschiedliche Wirtschaftssysteme festgelegt. 

Es folgte das Inkrafttreten des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (BRD) am 24. Mai 1949. Das Dokument wurde zuvor durch einen 65-köpfigen Parlamentarischen Rat seit September 1948 erarbeitet. Soweit einige grobe Eckdaten zur Gründung der BRD, die viele Aspekte der komplexen Nachkriegsgeschichte außer Acht lassen. Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen soll der Umgang mit der Entnazifizierung in den westlichen Besatzungszonen und der späteren Bundesrepublik stehen. Diese Fokussierung ist dem Schwerpunkt dieser Ausgabe des LaG-Magazins geschuldet. Zudem lohnt es sich vor dem Hintergrund des seit Jahren anhaltenden Rechtsdrift in diesem Land neben der Betrachtung von Ursachen, die unter anderem im spezifischen Umgang mit der NS-Vergangenheit im autoritären Staatssozialismus der DDR ausgemacht werden, die Zeit der westlichen Besatzungszonen und der Gründung der BRD daraufhin zu betrachten wie lückenhaft und problembeladen die Entnazifizierung hier stattfand. Die Diskussion darum ist beileibe nicht neu. Bereits 1946 wurde die These geäußert, dass im Westen des Landes eine grundlegende Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse zugunsten einer Restauration verpasst wurde. Der Schriftsteller Hans Werner Richter stellte in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Der Ruf“ fest „Deutschland ist ein Land der halben und niemals beendeten Revolutionen ...“ (Nach Kriegsende) „ist nicht etwa, wie es doch zu erwarten war, eine Revolution über dieses Land hingegangen, sondern hat lediglich eine behördlich genehmigte Restauration stattgefunden“ (Kocka 1979/1992: 141). Eine Frage die Richter, dessen Zeitschrift 1947 von amerikanischer Seite aus wegen prokommunistischer Haltung verboten wurde, hier ausblendet ist die, wer denn ein Interesse an der von ihm gewünschten Revolution haben sollte. Die Mehrheit der Bevölkerung hatte dem NS-Staat bis zuletzt die Treue gehalten und sei es, weil sie nach der Enttäuschung ihrer Siegeserwartungen – durchaus projektiv – damit rechnete zur Kollektivverantwortung gezogen zu werden für die Judenvernichtung, den Völkermord an Sinte*zze und Rom*nja, die Krankenmorde der NS-„Euthanasie“, für 3,3 Millionen verhungerter und ermordeter sowjetischer Kriegsgefangener und für einen Angriffskrieges gegen die Nachbarstaaten, der gegen die Sowjetunion als anti-jüdischer und anti-kommunistischer Vernichtungskrieg geführt wurde. Das Wissen um die NS-Massenverbrechen war verbreiteter als lange zugestanden wurde. Publikationen wie „Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten“ von Frank Bajohr und Dieter Pohl (Bajohr/Pohl 2006) machen darauf aufmerksam. Auch das Schicksal der Zwangsarbeiter*innen die in der (Rüstungs-)Industrie, aber auch auf dem Land ausgebeutet wurden war kaum zu übersehen. Schließlich profitierte die Landbevölkerung direkt von der Zwangsarbeit und viele Lager waren, wie in Berlin-Schöneweide, in den Innenstädten angelegt. Die Züge der ausgemergelten Menschen zu ihren Arbeitsstätten waren offensichtlich. Die deutsche Bevölkerung verstand sich nach dem 8./9. Mai 1945 in erster Linie als „Opfergemeinschaft“ (Wildt 2017:88), die das Prinzip der „Volksgemeinschaft“ bis in die 1950er-Jahre verlängerte, wenn auch ohne Führer und die Möglichkeit zu „gewalttätige(r) und rassistische(r) Exklusion“ (Ebda: 89). Der hier angeführte Historiker Michael Wildt veranschaulicht bis in welche Kreise eine Schuld- und Verantwortungsabwehrhaltung verbreitet war am Beispiel der Rede des Sozialdemokraten Paul Löbe während der ersten Sitzung des Bundestags am 7. September 1949: „Wir bestreiten auch keinen Augenblick das Riesenmaß an Schuld, das ein verbrecherisches System auf die Schultern unseres Volkes geladen hat. Aber die Kritiker draußen wollen doch eines nicht übersehen: das deutsche Volk litt unter zwiefacher Geißelung. Es stöhnte unter den Fußtritten der eigenen Tyrannen und unter den Kriegs- und Vergeltungsmaßnahmen, welche die fremden Mächte zur Überwindung der Naziherrschaft ausgeführt haben.“ (zit. nach Wildt 2017: 88) Der Mythos einer kleinen Gruppe von Nationalsozialisten, die in erster Linie die deutsche Bevölkerung unterdrückten und für die Verbrechen verantwortlich waren, hielt sich über Jahrzehnte. Die Nazis, und damit die Verbrecher, das waren die anderen, so wie die „Kritiker“ nach „draußen“, also ins Ausland verlagert wurden.

Die Verfolgung von Direkttätern, verantwortlichen Militärs, Ministerialbeamten und Diplomaten war für die Alliierten aus verschiedenen Gründen schwierig. Die Versorgung der Bevölkerung des besetzten Landes war eine Herausforderung. Viele Versorgungswege waren weggebrochen und damit auch die Möglichkeit zur Ausplünderung anderer Länder. Die Mehrzahl der Deutschen erfuhr Hunger erst nach dem Krieg, insbesondere im kalten Winter 1946/47. Zudem kamen Millionen von Flüchtlingen, die vor den sowjetischen Truppen geflüchtet waren sowie Überlebende aus den Lagern, die als Displaced Persons noch mit den Folgen der Lagerhaft kämpften. Auf die Situation der DPs geht Juliane Wetzel in diesem Magazin ein. 

Insgesamt war die Entnazifizierung seitens der Alliierten ein höchst zwiespältiges Unterfangen. Das Vorgehen in der britischen und der amerikanischen Besatzungszone unterschied sich hinsichtlich der Strenge. Die amerikanische Seite war deutlich rigider darin Nationalsozialist*innen aus ihren Ämtern zu entfernen. Das Verbot der NSDAP mitsamt ihrer Gliederungen, die Auflösung von Gestapo, SS und SA und die Entfernung von Hakenkreuzen mitsamt anderen NS-Symboliken waren eine Sache. Doch wie war umzugehen mit circa 8,5 Millionen Mitgliedern der NSDAP und den anderen, ebenfalls Millionen zählenden Angehörigen anderer NS-Gliederungen? Viele der hunderttausenden NS-Täter überlebten den Krieg. Wer nicht im April/Mai 1945 in Kriegsgefangenschaft geriet oder Selbstmord beging, versuchte unterzutauchen. Zwar wurden in den Jahren 1945 bis 1950 über 400.000 Deutsche ohne Einzelfallprüfung meist kurzfristig interniert (vgl. Alliierten Museum), doch konnten sich nicht wenige Täter absetzen. Dieter Pohl dazu: „Viele hatten sich in den letzten Kriegswochen falsche Papiere besorgt, die oft für ein Leben in der Anonymität bis Ende der 1950er Jahre ausreichten, als die strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischer Massenverbrechen intensiviert wurde.“ (Bajohr/Pohl 2006: 124) Pohl weiter: „Wer die Phase bis 1948, zumeist nach kurzzeitiger Internierung, jedoch unbeschadet überstanden hatte, der brauchte sich danach kaum mehr Sorgen um strafrechtliche Konsequenzen seines Handelns machen. In Westdeutschland wurden nahezu ausschließlich Täter aus dem SS- und Polizeiapparat wegen NS-Tötungsverbrechen verurteilt, insgesamt nur 1006 Personen“ (Ebda.). Mit den Nürnberger Militärtribunalen, dem Verfahren gegen 22 Hauptkriegsverbrecher 1945/46 und die zwölf Nachfolgeprozesse, befasst sich Jörg Osterloh im aktuellen LaG-Magazin. Die Absicht der Alliierten, statt Rache Recht walten zu lassen und keine „Siegerjustiz“ walten zu lassen, stieß angesichts des Ausmaßes und der Monstrosität der Taten an ihre geradezu notwendigen Grenzen. Der justizielle Rahmen bedeutete noch keine Entnazifizierung und Demokratisierung der Gesellschaft. Mit dem Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus des Länderrats der amerikanischen Besatzungszone wurde die Entnazifizierung „1946 fast ganz in deutsche Hände gelegt“ (Rigoll 2013: 38). Auf der Grundlage dieses Gesetzes beruhten Meldebögen, die bei deutschen Spruchkammern für ein quasi-gerichtliches Verfahren einzureichen waren. Vorgesehen waren laut Artikel 4 fünf Gruppen der Verantwortlichkeit 1. Hauptschuldige, 2. Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), 3. Minderbelastete (Bewährungsgruppe), 4. Mitläufer, 5. Entlastete (Vgl. Gesetz 104). Insgesamt konnten sich die Alliierten nur auf eine kleine Gruppe von Nicht-Nazis und Antifaschist*innen stützen. Mitglieder der wieder anwachsenden kommunistischen Partei galten den vor dem Hintergrund des verbreiteten Antikommunismus den Westalliierten früh als dubios. Das machte sich bei den Spruchkammern bemerkbar. „Als belastet eingestuft wurde letztlich eine kleine Gruppe von »KZ-Schlägern« und »Judenmördern«, einige wenige Gestapobeamte, Denunzianten und Würdenträger“ (Rigoll 2013:39). Es entstand der paradoxe Effekt, dass diejenigen, die sich dazu bekannten Nationalsozialist*innen gewesen zu sein, mit Berufsverboten zu rechnen hatten, während Leugnen, sich auf Befehle und vorgebliche Verführung berufen Vorteile brachte. Berichte des Office of Military Government for Germany, US (OMGUS) bezeichneten die eigentlich als Verantwortungsübernahme der Deutschen gedachten Entnazifizierungsverfahren als „umfassenden Prozeß der Rehabilitierung und Wiedereinsetzung von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP“ (Stern 1991: 139). Die Entnazifizierung wurde eine „politische Rehabilitierungsmaschine“ (Frei 1997: 67).

Neben dem Deutschenproblem spielten auch antijüdische Ressentiments auf alliierter Seite eine Rolle bei der Entnazifizierung. Juliane Wetzel verweist auf den Antisemitismus des für Bayern zuständigen Generals Patton, der in der US-Army kein Einzelfall war. „Dieselben Militärangehörigen, die sich nicht gerade durch pro-jüdische Einstellungen auszeichneten, waren gleichermaßen zurückhaltend, wenn es um die noch in Amt, Würden und Chefetagen der Wirtschaftsunternehmen tätigen Nazis ging“ (Stern 1991: 98) fasst Frank Stern die Problematik zusammen. Den Briten wiederum war daran gelegen, dass möglichst wenige der überlebenden Juden*Jüdinnen nach Palästina wanderten, was die Perspektive auf die jüdischen Displaced Persons teils negativ beeinflusste. Lucius D. Clay, zu dieser Zeit Militärgouverneur für die amerikanische Besatzungszone, wurde schließlich aus Washington mitgeteilt, dass die Entnazifizierung am 31.3.1948 abzuschließen sei (Stern 1991: 140).

Damit war die Frage des Umgangs mit ehemaligen Nationalsozialist*innen nicht aus dem Raum, zumal auch gerade die Frühphase der BRD immer wieder durch antisemitische Vorkommnisse geprägt war. Die Gründungsphase der Bundesrepublik war kein völliger Neuanfang und ging einher mit dem Straffreiheitsgesetz von 1949. Die Bundesrepublik etablierte sich aufgrund eines problematischen antitotalitären Konsens, der rechts und links als gleich demokratiegefährdend setzt und bis heute eine ideologische Grundlage des offiziellen Demokratieverständnisses und des Gedankens der wehrhaften Demokratie bildet, deren Wehrhaftigkeit vor allem eine von oben nach unten, also vom Staat gegenüber den Bürger*innen ist. Die trotz aller Problematiken der Entnazifizierung und des aufscheinenden Kalten Krieges bei den Alliierten vorhandene „antifaschistische Abgrenzung“ wurde hingegen nicht „eindeutig im Grundgesetz verankert“ (Fuhrmann 2019: 101). Im Gegenteil wurde mit dem Artikel 131 GG eine rechtliche Grundlage geschaffen mit der „ein unliebsames Element alliierter Besatzungspolitik rückgängig“ (Frei 1997: 69) gemacht werden konnte. Im Artikel heißt es, dass die „Rechtsverhältnisse von Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienste standen, aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen ausgeschieden sind und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet werden, (...) durch Bundesgesetz zu regeln“ sind. Von dem am 11. Januar 1951 im Bundestag einstimmig bei zwei Enthaltungen verabschiedete Gesetz profitierten 55.368 „Beamt_innen aus den Ostgebieten, ehemalige Berufssoldaten oder von Alliierten wegen ihrer Mitgliedschaft in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (...) aus dem öffentlichen Dienst entlassene Personen“ (Fuhrmann 2019: 56) die so unter Aufgabe moralischer Maßstäbe reintegriert wurden.

Literatur

Alliierten Museum: Entnazifizierung, online unter: http://www.alliiertenmuseum.de/themen/entnazifizierung.html.

Frank Bajohr/Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006.

Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1997.

Gesetz 104, online unter: http://www.verfassungen.de/bw/wuerttemberg-baden/befreiungsgesetz46.htm.

Frank Stern: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen 1991.

Maximilian Fuhrmann: Antiextremismus und wehrhafte Demokratie. Kritik am politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2019.

Hans Werner Richter, zit. nach Jürgen Kocka: 1945: Neubeginn oder Restauration, in: Carola Stern/Heinrich A. Winkler (Hrsg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945, Frankfurt am Main 1979/1992. S 141 - 168.

Dominik Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013.

Michael Wildt: Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg 2017.

 

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