Doppelte Diktaturerfahrung im Brennglas
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Doppelte Diktaturerfahrung im Brennglas.
Von Annemarie Franke
Der Anwalt und Journalist Kazimierz Moczarski (1907- 1975) schloss sich nach Kriegsausbruch 1939 dem aktiven Widerstand gegen die deutsche Besatzung seines Heimatlandes Polen an. Vor Beginn des Krieges war er im Sozialministerium als Fachmann für Arbeitsrecht beschäftigt und politisch im demokratischen Zentrum des Parteienspektrums anzusiedeln. Im polnischen Untergrundstaat arbeitete er für die Informations- und Propagandaabteilung der Heimatarmee und später im Führungsstab des Kampfes im Untergrund (Kierownictwo Walki Podziemnej , KWP) bei der Aufklärung und Verurteilung von Fällen der Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht. Er kämpfte im Warschauer Aufstand, konnte der Verhaftung entgehen und blieb weiterhin in der Konspiration auf Seiten der Londoner Exilregierung.
Mit dieser politischen Biographie zählte Moczarski zu den Feinden der neuen kommunistischen Machthaber*innen in Polen nach Ende des Krieges. Im August 1945 wurde er verhaftet und des Verrats angeklagt. Ihm sollte Kollaboration mit den deutschen Besatzer*innen nachgewiesen werden. Während der Verhöre durch den polnischen Sicherheitsdienst im Warschauer Gefängnis Mokotów war er Folterungen ausgesetzt, denen er standhielt ohne sich zu Geständnissen oder belastenden Aussagen gegen Dritte zwingen zu lassen. Um ihn zusätzlich zu demütigen wurde er 1949 für 255 Tage mit zwei NS-Kriegsverbrechern in eine Zelle gesperrt. Allen drei Gefangenen war eines gemeinsam: sie rechneten mit der Verhängung der Todesstrafe. Einer von ihnen war Jürgen Stroop, SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei, der für die Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Getto und die Ermordung von über 70.000 Menschen verantwortlich war.
Wie erträgt man das Zusammensein auf engstem Raum mit einem Mann, Stellvertreter eines menschenverachtenden und verbrecherischen Besatzungsregimes, gegen das man selbst unter ständiger Lebensgefahr gekämpft hatte? Liest man den späteren Bericht Moczarskis über die gemeinsame Zeit in der Zelle gewinnt man den Eindruck, er habe sich in dieser Situation auch durch sein investigatives journalistisches Interesse am Leben halten können. Er stellte Stroop Fragen zu dessen Familie und Herkunft, den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, zu den Anfängen der NS-Bewegung in der Zeit der Weimarer Republik, zu seiner Karriere in der SS und zu seinen Einsätzen während des Krieges in allen Teilen Europas. Im Zentrum des späteren Buches „Gespräche mit dem Henker“ steht der Dialog der unfreiwilligen Zellennachbarn über die Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Getto unter der Befehlsführung Stroops zwischen April und Mai 1943.
Jürgen Stroop wurde zum Tode verurteilt und im März 1952 hingerichtet. Moczarski überlebte seine Haftzeit. Im April 1956 kam er dank des politischen Tauwetters in Polen im Zuge der Entstalinisierung frei und wurde sechs Monate später rehabilitiert. Gesundheitlich schwer gezeichnet kehrte er dennoch zu einem beruflich aktiven Leben als Journalist zurück.
Zwölf Jahre nach seiner Entlassung begann er aus dem Gedächtnis heraus seine Gespräche mit dem NS-Verbrecher Jürgen Stroop und, in der Nebenrolle, dem SS-Major Erich Schielke aufzuschreiben. Die extreme Ausnahmesituation der Gefängnishaft führte dazu, dass sich alle Details dieser 255 Tage wie auf Tonband in seinem Gedächtnis aufgezeichnet hatten und ihn ständig verfolgten. „Der nachträgliche Schreibakt ist ein doppelter Triumph über die nationalsozialistischen wie die kommunistischen Täter und deren Wunsch, ihn zu vernichten, ihn zum Objekt ihrer Politik zu machen“ – schreibt Anja Tippner über die spezifische Schreibsituation Moczarskis, für den die Produktion des Textes neben der dokumentarischen Pflicht, eben genau aus dieser emotionalen Ökonomie entsprungen sei (Tippner 2013: 51).
Auszüge aus diesem Bericht, zu dem ihn der Schriftsteller Andrzej Szczypiorski ermutigt hatte, erschienen zunächst 1972 in der Breslauer Kulturzeitschrift „Odra“. In Buchform konnte der Text nach Zensur in der Volksrepublik Polen 1977, zwei Jahre nach dem Tod des Autors, erscheinen. Ein Jahr später folgte eine deutsche Übersetzung im Düsseldorfer Droste-Verlag und wenig später im Ost-Berliner Verlag der Nationen, sowie die deutsche Ausgabe der Bühnenfassung von Zygmunt Hübner. Weitere Ausgaben und Übersetzungen in viele Sprachen folgten. In Polen erschien die erste unzensierte Ausgabe 1992.
Nach 1989 war das Buch in polnischen Schulen Pflichtlektüre und wird bis heute als Lesestoff im Lyzeum empfohlen. Eine ganze Generation hat über „Gespräche mit dem Henker“ erfahren, „welcher historische, psychologische und soziologische Mechanismus einen Teil der Deutschen zu Massenmördern werden ließ“ (Moczarski 2008: 39). Selbst wenn darauf im Unterricht der Schwerpunkt gelegt wurde, zeigte das Buch zugleich das Schicksal eines polnischen Widerstandskämpfers im stalinistischen Nachkriegspolen.
2008 erschien in Deutschland eine Neuausgabe der „Gespräche mit dem Henker“. Leider wurde versäumt, die zeitgebundene Einleitung von Andrzej Szczypiorski aus den 1970er Jahren um eine historische Einführung oder Anmerkungen zum Haupttext zu ergänzen. Joachim Tauber weist zu Recht auf die Defizite der Neuerscheinung hin. Er will das Buch als Quelle über eine Täterbiographie lesen und bezeichnet den Text unter diesem Gesichtspunkt als veraltet (vgl. Tauber 2008). Unabhängig davon lohnt es sich, zu dem Buch zurück zu kehren oder es erstmals in die Hand zu nehmen, weniger als „Biographie des Bösen“ (Dietrich Strothmann), denn als Zeugnis der Gefängnisliteratur. Leider liegen bisher zwei wichtige Neuerscheinungen zum Leben von Moczarski auf Deutsch nicht vor. Die Biographie von Anna Machcewicz sowie der Band mit Gefängnisbriefen der Eheleute Zofia und Kazimierz Moczarski aus den Jahren 1946-1956.[1] Moczarskis Frau Zofia war ebenfalls durch den Sicherheitsdienst festgenommen worden und zu sechs Jahren Gefängnishaft verurteilt. 1955 wurde sie entlassen. In jenem Jahr wurde die Strafe „Todesurteil“ im Falle ihres Mannes zu „lebenslänglich“ umgewandelt. Zwei Jahre nach seiner Entlassung, kommt 1958 die gemeinsame Tochter Elżbieta Moczarska auf die Welt. Der Vater soll daraufhin gesagt haben, „Ela ist mein Sieg. Sie wollten mir das Leben nehmen und ich habe neues Leben gegeben.“
Elżbieta Moczarska führt seit 2014 in Warschau eine Stiftung mit dem Namen ihrer Eltern. Die Stiftung Zofia und Kazimierz Moczarski lobt jedes Jahr gemeinsam mit der Stadt Warschau einen der wichtigsten Preise für die beste Neuerscheinung unter historischen Fachbüchern zur Zeitgeschichte aus. Gleichzeitig fördert sie sog. „Jugendklubs“ an Mittelschulen, in denen die Schüler*innen zur gemeinsamen Lektüre und Besprechung historischer Bücher angeregt werden sollen. Sie lesen unter Begleitung ihrer Geschichtslehrer*innen Ausschnitte aus den nominierten Büchern und erstellen ihre eigene Rankingliste. Es wird niemanden verwundern, dass die Jugendlichen meistens andere Favoriten haben als die professionelle Jury im Hauptwettbewerb um den Moczarski-Preis.
In diesem Jahr ist die Moczarski-Stiftung Partner des Europäischen Netzwerkes Erinnerung und Solidarität (ENRS) bei dem Projekt „Remember. August 23“.
Der 23. August ist seit 2009 Europäischer Gedenktag für die Opfer von totalitären Diktaturen. Das Datum verweist auf die Unterzeichnung des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspaktes und seines Geheimen Zusatzprotokolls durch die Außenminister Molotow und Ribbentrop am 23. August 1939.
Das ENRS würdigt diesen Gedenktag durch eine Informationskampagne in den sozialen Medien und öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern. Kurze Filmspots von ca. 60 Sekunden erinnern an individuelle Schicksale von Opfern des Nationalsozialismus, des Stalinismus und beider Diktaturen in Folge. Auf der Internetseite des Netzwerkes können die Filme abgerufen werden unter https://enrs.eu/august23. Darüber hinaus finden sich auf der Seite Hintergrundinformationen zu den einzelnen Biographien. In diesem Jahr ruft die Kampagne „Remember. August 23“ das Schicksal von Kazimierz Moczarski in Erinnerung.
Literatur
Centrum Historii Zajezdnia - Wrocław (Geschichtszentrum Straßenbahndepot): Kazimierz Moczarski. An Unmissable Biography, Wrocław 2019 (Katalog zur zweisprachigen Ausstellung vom Oktober 2019- März 2020 in Breslau).
Anna Machcewicz: Civility in Uncivil Times. Kazimierz Moczarski's Quiet Battle for Truth, from the Polish Underground to Stalinist Prison, Berlin, Bern u.a. 2020.
Joachim Tauber: Rezension über: Kazimierz Moczarski, Gespräche mit dem Henker. Das Leben des SS-Gruppenführers und Generalleutnants der Polizei Jürgen Stroop, Berlin: Osburg, 2008, in: Nordost-Archiv, 2010, XIX, S. 313-317.
Anja Tippner: Moczarskis Gespräche mit dem Henker. Zur Verschränkung von Opfer- und Täterdiskurs, in: Claudia Nickel/Sylke Segler-Meßner (Hrsg.): Von Tätern und Opfern. Zur medialen Darstellung politisch und ethnisch motivierter Gewalt im 20./21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2013, S. 41-59.
[1] Die Biographie ist jetzt in der Reihe Polish Studies – Transdisciplinary Perspectives im Verlag Peter Lang auf Englisch erschienen: Anna Machcewicz: Civility in Uncivil Times. Kazimierz Moczarski's Quiet Battle for Truth, from the Polish Underground to Stalinist Prison, Berlin, Bern u.a. 2020.
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- 28/10/2020 - 07:18