Interview

Komplexe Verhältnisse, heftige Affekte, politische Strategien: Ein Expert*innengespräch über Rassismus/Antisemitismus und den Zustand der Debattenkultur

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Teilnehmer*innen: Manuela Bojadžijev, Saba-Nur Cheema, Marina Chernivsky, Max Czollek, Sigmount Königsberg, Meron Mendel, Peter Ullrich, Leah Wohl von Haselberg

Antisemitismus und Rassismus: Besonderheiten und Übereinstimmungen

Frage der Moderation (Felix Axster/Ingolf Seidel):

Herr Königsberg, bis vor einigen Jahren tobte insbesondere unter Historiker*innen ein Streit darüber, wie das Verhältnis zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus zu fassen und zu beschreiben sei. Vertreter*innen verflechtungsgeschichtlicher Ansätze haben Gemeinsamkeiten, Austauschbeziehungen, Überschneidungen ausgemacht, bspw. wurde argumentiert, dass sich der Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten durchaus als Kolonialkrieg verstehen ließe. Entsprechend wurden auch Antisemitismus und Rassismus als miteinander verflochtene Phänomene konzipiert. Gleichwohl haben diese Ansätze starke Abwehrreaktionen hervorgerufen und rufen sie noch hervor. Wie erklären Sie sich diese Reaktionen? 

Sigmount Königsberg:

Es ist nicht möglich, den modernen Antisemitismus in all seinen Facetten losgelöst von der Geschichte des christlichen Judenhasses zu betrachten. Spätestens mit Augustinus von Hippo (354-430 n.d.Z.) wurden Jüdinnen*Juden in den christlichen Gesellschaften zu Bürger*innen zweiter Klasse.

Im weiteren Verlauf des Mittelalters und in der frühen Neuzeit kamen neben dem ‚alten‘ Vorwurf des Gottesmordes noch die Kindstötung, die Brunnenvergiftung hinzu.

Im Jahr 1179 gestattet Papst Alexander III. den Jüdinnen*Juden, Geld gegen Zinsen zu verleihen, 1215 wurde den Christen durch Papst Innozenz III. genau dies verboten ("Kanonisches Zinsverbot“). So konnten die Jüdinnen*Juden zum einem den wachsenden Geldbedarf decken, weil sich der Handel ausbreitete und die Wirtschaft wuchs. Zum anderen konnten sie gerade dadurch zum Sündenbock gestempelt werden. Das stereotype Bild des habgierigen und betrügerischen „jüdischen Wucherers“ hat hier seinen Ursprung. Im Laufe jahrhundertelanger kultureller Praxis ist ein ganzer Mythenkomplex entstanden, der bis in die Gegenwart Bestand hat. Dieser ist, zusammen mit den anderen oben genannten Ressentiments, im kollektiven Gedächtnis Europas verhaftet. Wir finden den alten Judenhass des Mittelalters heute als ‚Kindermörder Israel‘ oder ‚Rothschilds‘ wieder. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass der Antisemitismus zur kulturellen DNA Europas gehört.

Die Reformation änderte an der systematischen Segregation von Juden*Jüdinnen nichts. Im Gegenteil. Luther war nie gewillt, Jüdinnen*Juden als solche anzuerkennen. Es ging ihm bei seiner anfänglichen, scheinbaren Offenheit gegenüber jüdischen Menschen ausschließlich darum, Jüdinnen*Juden für seine Kirche zu gewinnen. 1543 schrieb er in seiner Hetzschrift "Von den Juden und ihren Lügen", man solle jüdische Schulen, Häuser und Synagogen "mit Feuer anstecken und was nicht verbrennen will, mit Erden beschütten, dass kein Mensch ein Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich“. In Luthers Worten: „Denn sie uns eine schwere Last, wie eine Plage, Pestilenz und eitel Unglück in unserm Land sind“ wird Treitschkes „Die Juden sind unser Unglück!“ vorweggenommen. Ein Satz, der in jeder Ausgabe des „Stürmers“, einer von Julius Streicher, dem NSDAP-Gauleiter von Franken, herausgegebenen Hetzzeitschrift abgedruckt wurde. Mit der Aussage, dass er „Juden mit einem Mühlstein um den Hals in der Elbe taufen“ würde, legte Luther einen Grundstein für den rassistischen Antisemitismus: Jüdinnen*Juden würden prinzipiell immer Jüdinnen*Juden bleiben, auch wenn sie getauft seien. Es ist nur logisch, dass Streicher beim Nürnberger Prozess sagte, dass „statt seiner Dr. Martin Luther auf der Anklagebank sitzen“ müsste. Ich lehne mich so weit aus dem Fenster, zu sagen: Luther bereitete dem späteren Antisemitismus des 19. Jahrhunderts den Boden. Er war der Prototyp des modernen Antisemiten.

Schon von der Genese her ist Antisemitismus mit Rassismus nicht vergleichbar. Doch auch ideologisch muss zwischen Antisemitismus und Rassismus differenziert werden. Von jüdischer Perspektive aus gesehen dauerte das Mittelalter bis zur Französischen Revolution. Erst das Zusammenwirken von Aufklärung, der Menschenrechterklärung einerseits sowie der Haskala und der jüdischen Emanzipation andererseits, veränderte die Situation. Hierdurch eröffneten sich für die Jüdinnen*Juden Europas neue Tätigkeitsfelder – sowohl ökonomisch, kulturell als auch politisch. Diese Aktivtäten stellten für manche eine Bedrohung dar und die ökonomischen Aspekte des Judenhasses bekamen mehr Gewicht. Die Täter*innen stellten sich nunmehr als Opfer dar: So wurde bei den ‚Hep-Hep Pogromen‘ 1819 unterstellt, dass „Juden verschwistert den Zügel der Regierung führen“. Spätestens jetzt wird die Janusköpfigkeit des Antisemitismus deutlich: Zum einem werden Jüdinnen*Juden als ‚minderwertig‘ angesehen, andererseits wird den ihnen unterstellt, die Medien, die Regierungen, das Geld zu kontrollieren. Dagegen, so das antisemitische Narrativ, müsse man sich wehren.

Zeitlich parallel formierte sich der rassische Antisemitismus: Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Rühs, Ernst Moritz Arndt oder Jakob Friedrich Fries bereiteten ideologisch den Weg für Heinrich von Treitschke, Adolf Stoecker sowie Richard Wagner vor. Arthur de Gobineau und Houston Stewart Chamberlain gaben all dem einen pseudowissenschaftlichen Anstrich. Der moderne Antisemitismus griff auf die bestehenden antijüdischen Ressentiments zurück und schürte die Angst, von Jüdinnen*Juden beherrscht zu werden. Es ist diese Gemengelage, die auch niemals konsequent angegangen wurde, die die Shoah erst möglich machte. Natürlich wäre es vermessen zu behaupten, Antisemitismus und Rassismus hätten nichts gemein. Insbesondere in den Erscheinungsformen, im Othering, dem Fremdmachen und als Ungleichwertigkeitsideologien gibt es Verschränkungen. Aber wie dargelegt gibt es systemische Unterschiede, die eine Differenzierung notwendig machen, auch weil sonst Sachverhalte vermischt werden, die nicht zusammengehören. 

Peter Ullrich: 

Die Antwort von Sigmount Königsberg verdeutlicht schön die schwierige Konstellation. Zunächst: Antisemitismus ist nicht gleich Rassismus. Er hat, wie gezeigt wurde, eine eigene, lange, nicht zuletzt christliche Geschichte und weist Spezifika auf, die ihn nicht einfach als Teilmenge des Rassismus ausweisbar machen. Dazu gehören neben historischen auch inhaltliche Elemente. Anzuführen sind hier beispielsweise die antisemitischen Vorstellungen von jüdischer Macht, Weltverschwörung usw., die sich von vielen rassistischen, mit Minderwertigkeitsvorstellungen verbundenen Bildern unterscheiden, die u.a. zur Rechtfertigung der Sklaverei entstanden. Zugleich sehen wir bspw. im gegenwärtigen antimuslimischen Rassismus immer wieder eine Art projektives Ohnmachtsgefühl gegenüber ‚dem‘ Islam und der sogenannten Islamisierung. Auch hier findet also eine immense Machtzuschreibung statt. Und schon wird es kompliziert. 

Damit sind wir beim zweiten Punkt: Antisemitismus ist eben – auch – Rassismus. Ohne die moderne, im 19. Jahrhundert wissenschaftlich sich gerierende Vorstellung von Menschenrassen, hätte der moderne Antisemitismus wohl nicht die Form angenommen, die er hat (semantisch bspw. in Hinblick auf die Unentrinnbarkeit des 'Rasse'-Schicksals und die darin implizierte Vernichtungsandrohung und -realisierung usw.). Wir haben es also tatsächlich mit verflochtenen Phänomenen zu tun, die – wie alle kulturellen Gegenstände – kein überzeitliches, unveränderliches Wesen aufweisen, auch wenn einprägsame Buchtitel das suggerieren. Die Diskussion über diese verflochtenen und getrennten Phänomene aber ist vielerorts so strukturiert, dass man das Gefühl bekommt, Antisemitismusanalyse und -kritik auf der einen Seite und Rassismusanalyse und -kritik auf der anderen sind ein Nullsummenspiel, in dem eine Seite gewinnen muss. Schon das Einnehmen von Verflechtungsperspektiven wird dann kritisch beäugt und das Ziehen von Vergleichen instinktiv mit Gleichsetzung verwechselt. Man erinnere sich, welche Wut und welchen bleibenden Abscheu Wolfgang Benz auf sich gezogen hat, weil er sich unterstand, mit einer Konferenz Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus zu vergleichen! Offensichtlich ist die Gesamtkonstellation so, dass beide Seiten fürchten müssen, vom begrenzten politischen Legitimitätskuchen nicht genügend abzubekommen. 

Das kann man erklären. Verschiedene Elemente spielen dabei eine Rolle: bspw. die ‚Weißwerdung‘ der Juden im 20. Jahrhundert, die diskursive Verflechtung mit unterschiedlichen Positionen im Nahostkonflikt und die darauf bezogene weltpolitische Konstellation, das organisationssoziologische Phänomen, dass zivilgesellschaftliche Akteure oder Forscher*innen meist das eine oder das andere Thema verfolgen – mit entsprechender Sensibilisierung und entsprechenden Blindstellen, auch die Ritualisierung der deutschen Erinnerungspolitik und ihrer Lippenbekenntnisse (Beispiel Staatsräson) aus z.T. recht profanen Motiven. Damit gewinnt diese Opferkonkurrenz aber auch wieder eine eigene soziale Realität und eigene diskursive Dynamik die auf die Wahrnehmung und die Existenz der anderen Ebene (Antisemitismus, Rassismus) zurückwirkt. 

Moderation: 

Es liegen einige Themen auf dem Tisch, bspw. die longue durée des Antisemitismus (inkl. seiner christlichen Vor-Geschichte), die Frage nach historischen Zäsuren (Für wen beginnt wann die Neuzeit?), das Stichwort Opferkonkurrenz, disziplinäre Blindstellen, Ritualisierung der offiziellen Erinnerungspolitik. Wir würden gerne einige dieser Themen aufgreifen und entsprechende Fragen an die bisher noch nicht adressierten Teilnehmenden richten. Doch zunächst eine Rückfrage an Peter Ullrich: Wäre es möglich, in wenigen Worten zu erläutern, was mit „ ‚Weißwerdung‘ der Juden im 20. Jahrhundert“ gemeint ist? 

Peter Ullrich: 

Das ist genau eines dieser die Dinge verkomplizierenden Phänomene. Jüdinnen und Juden wurden zwar als machtvoll usw. ‚gefürchtet‘, bspw. aber auch schlicht rassistisch abgewertet, insbesondere die meist armen, ‚rückständigen‘ Ostjuden. Damit waren sie in der rassistischen Hierarchie bspw. der US-Gesellschaft mit anderen Rassifizierten gleich schlecht gestellt, also coloured. Aber gerade in den USA (und anderen Ländern) gab es dann ja eminente Emanzipationserfolge, sozialen Aufstieg, wachsende gesellschaftliche Normalisierung und politische wie erinnerungskulturelle Anerkennung. In diesem Sinne gelten Jüdinnen und Juden heute überwiegend oder eher als weiß (im sozialen Sinne dieser natürlich stets prekären und problematischen Farbenlehre). Und diese Verschiebung ist eines der Probleme für eine Allianzbildung zwischen Antirassismus und Anti-Antisemitismus. Da passt dann auch die Grundkonstellation im Nahostkonflikt gut in das Schema (auch wenn die Realitäten dahinter deutlich komplizierter sind). 

Verflechtungsgeschichtliche Zugänge Potenziale und Fallstricke  

Moderation:

Wir würden das Thema ‚Weiß-Werden‘ und die Frage nach Bündnispolitiken gerne zu einem späteren Zeitpunkt noch mal aufgreifen. Zunächst aber noch mal zurück zum Aspekt der Verflechtung:

Vor ca. 70 Jahren, kurz nach dem Ende des Nationalsozialismus, publizierte Hannah Arendt den Klassiker „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, eine wesentliche Referenz für die Konjunktur verflechtungsgeschichtlicher Ansätze der letzten Jahre. Ein zentrales Argument von Arendt lautete, dass der Gedanke, man könne Menschen als Angehörige einer anderen 'Rasse' töten und vernichten, einfach weil sie einer anderen, als minderwertig eingestuften 'Rasse' angehören, erstmals im Zuge der imperialistischen Herrschaft Europas über Afrika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgekommen sei. Wenn man nun an Dan Diners Zivilisationsbruchthese denkt, die in etwa besagt, dass das Singuläre am nationalsozialistischen Judenmord u.a. in der Selbstzweck-Logik bestehe, darin also, dass das Töten an sich der Zweck war (und kein gewissermaßen äußeres Motiv wie Bereicherung oder dergleichen), dann mutet Arendts Argument wie eine Zivilisationsbruchthese avant la lettre an. Saba-Nur Cheema, Meron Mendel, denken Sie, dass verflechtungsgeschichtliche Ansätze notwendigerweise die Zivilisationsbruch- bzw. Singularitätsthese in Frage stellen? 

Meron Mendel und Saba-Nur Cheema: 

Die Forschung und Diskussion über Verflechtungen von (Kolonial)Rassismus und Antisemitismus wird häufig schon prinzipiell unter den Verdacht der Holocaustrelativierung gestellt, was wir aus wissenschaftlicher, aber auch politischer Perspektive als falsch erachten. Es mag selbstverständlich klingen, muss aber immer wieder von neuem betont werden, dass Vergleiche keine Gleichsetzung sind und historische Ereignisse nicht isoliert im leeren Raum passieren, sondern immer mit vorherigen Ereignissen in Zusammenhang stehen. Vor diesem Hintergrund steht die These von Arendt keinesfalls in Konflikt mit der Zivilisationsbruch- bzw. Singularitätsthese, sondern erklärt gewissermaßen, wie es zu dem Zivilisationsbruch gekommen ist. In der Bildungsarbeit kann die Verflechtung der Kolonialgeschichte und der Shoah thematisiert werden, solange historische Ereignisse nicht isoliert, sondern in ihrer Prozesshaftigkeit vermittelt werden. Es geht nicht darum, Ereignisse zu vergleichen oder sie gleichzusetzen, sondern der Frage nachzugehen, welche Bedingungen zum ‚Zivilisationsbruch‘ geführt haben. Der Zivilisationsbruch, wie er stattgefunden hat, hat eben nicht in jeder beliebigen historischen Situation stattfinden können, und diese historische Situation, zu der der Kolonialismus zweifellos gehört, kann beschrieben und erklärt werden. Bei der Beantwortung dieser Frage kann man an der Geschichte des Kolonialismus so wenig vorbeigehen wie an der Frage des mittelalterlichen Antijudaismus oder an der Frage der Massenindustrialisierung. Die Werkzeuge der Verfolgung standen bereits zur Verfügung, die Techniken der Verfolgung waren eingeübt, dennoch wurden sie in präzedenzloser Weise eingesetzt und führten in ihrer Gesamtheit zum Zivilisationsbruch. 

Max Czollek: 

Ich würde Meron und Saba im Punkt der Vergleichbarkeit prinzipiell zustimmen, denke allerdings, dass die Idee der Verflechtung methodisch qualifiziert werden muss, damit wir sie sinnvoll diskutieren können. Denn gerade, wenn wir uns alle abstrakt darauf einigen könnten, dass Vergleich und Hierarchisierung nicht dasselbe sind, dann beginnen die Probleme mit der konkreten Anlage der vergleichenden Untersuchung. Eine Kolonialismusanalyse in der Tradition Edward Saids hat ja beispielsweise nicht nur ein anderes Erkenntnisinteresse, sondern basiert auch auf anderen konzeptionellen Modellen – und politischen Perspektiven – als eine Antisemitismusanalyse in der Tradition Max Horkheimers/Theodor W. Adornos, Klaus Holz' oder auch Hannah Arendts. Damit möchte ich also einsteigen: die Frage nach dem Unterschied von Vergleichbarkeit und Hierarchisierung lässt sich nicht abstrakt, sondern nur mit Blick auf die konkreten Arbeiten klären.

Gehen wir also weiter ins Detail: Einer konkreten vergleichenden Analyse liegen bestimmte Vorstellungen des Untersuchungsgegenstands zugrunde. So sind ja nicht nur der deutsche Außenminister, sondern auch viele Wissenschaftler*innen erschüttert vom Zivilisationsbruch Auschwitz und gewinnen ihren Begriff von Antisemitismus daher implizit oder ausdrücklich vom Nationalsozialismus. Es sollte klar sein, dass der Antisemitismus der Nazis eine wenn auch verheerende, so doch spezifische Formation ist, die ganz und gar nicht das Feld des Antisemitismus in Gänze absteckt. Wird diese Definition nun wiederum für einen gegenwärtigen Vergleich mit aktuellen Formen des Rassismus wie Islamophobie angelegt, dann ist das Ergebnis dieser vergleichenden Studie, dass Islamophobie den Antisemitismus abgelöst hat. Das ist zwar folgerichtig, aber schlecht gearbeitet, weil hier zwei unterschiedliche Zeiten miteinander verglichen werden.

Robert Fine spricht in diesem Zusammenhang von ‚Pastification‘, also der Tendenz, Antisemitismus zu einem Phänomen der Vergangenheit zu erklären, indem man a) die Definition aus einer vergangenen Formation des Antisemitismus gewinnt (hier: NS-Antisemitismus) und b) diese Definition als Maßstab anlegt, an dem sich dann beweist, was man ohnehin schon wusste: dass der Antisemitismus der Nazis in der Gegenwart eben nicht aktuell ist. Um an dieser Stelle zu demonstrieren, dass das nicht völlig abwegig ist – das Münchner Landesgericht ließ im Oktober 2014 durch seine Pressesprecherin verkünden, dass als »glühender Antisemit« nur bezeichnet werden darf, wer sich mit Überzeugung antisemitisch äußert und dabei das »Dritte Reich« und seine Handlungen nicht verurteilt. Das ist natürlich absurd und die AfD führt uns dieses Spiel täglich vor. Definiert man Antisemitismus ausgehend von der nationalsozialistischen Judenfeindschaft, hat sich das Problem für die Gegenwart weitgehend erledigt.

Gute Wissenschaft wäre nun, danach zu fragen, was eine Analyse wie die oben skizzierte eigentlich beweist. Und die Antwort ist: sie beweist, dass eine spezifische Formation von Antisemitismus weniger aktuell ist als eine spezifische Formation von Rassismus/Islamophobie. Worauf ich hinaus will, und was hier auch schon angeklungen ist, ist: Man muss Antisemitismus und Rassismus in ihrer jeweiligen Entwicklung, d.h. inneren Vielfältigkeit, nachvollziehen. Eine Analyse, die für diese Unterschiede sensibel ist, müsste ihre eigene begrenzte Reichweite selbstbewusst einräumen. Der „Nationale Antisemitismus“ (Klaus Holz) oder der „Antisemitismus von Links“ (Thomas Haury) beschreibt eben eine Reihe von spezifischen Formationen des Antisemitismus, nicht Antisemitismus per se, was die Autoren auch einräumen werden.

Legt man ein weites Bewusstsein für Antisemitismus und Rassismus an, dann kommt heraus, dass beide Phänomene schon in sich kaum auf einen Begriff gebracht werden können. Es gibt keinen Antisemitismus als singuläres Phänomen, vielmehr handelt es sich um eine Sammelbezeichnung für eine Struktur, die über eineinhalb Jahrtausende zum Dispositiv europäischer Gesellschaften gehört hat (was nicht das gleiche ist wie die Mär vom ewigen Antisemitismus). Innerhalb der sich in dieser Zeit wandelnden, immer wieder aktualisierten Formationen des Antisemitismus können wir als Wissenschaftler*innen Untersuchungen anstellen: wie verläuft diese Aktualisierung? Was wird aus anderen Feldern aufgenommen? Welche Wechselwirkungen finden in Bezug auf andere Diskriminierungsformen wie Sexismus, Rassismus, Klassismus, etc. statt?

Und damit komme ich auf die Anfangsfrage zurück: eine Sensibilität für die inneren und äußerlichen Differenzen von Antisemitismus und Rassismus/Kolonialismus bedeuten selbstverständlich, dass weder die Shoah auf die Kolonialverbrechen, noch die Kolonialverbrechen auf die Shoah reduziert werden können. Vielmehr weisen beide ihre Einzigartigkeiten auf, die sich noch vervielfältigen, je näher wir mit der Kamera an die Ereignisse heranrücken. So beschreibt das, was unter der Chiffre Auschwitz verhandelt wird, Jahre voller Ereignisse, die in ihrer Monstrosität und Spezifik zugleich alleine stehen müssen und dabei mehr oder weniger starke Vergleichsmomente mit kolonialen Praxen aufweisen werden.

Das führt mich zu zwei abschließenden Punkten:

1) Die Konsequenz einer oben beschriebenen verengten Antisemitismusanalyse ist der Ausschluss bestimmter Formationen des Antisemitismus aus dem Vergleichsraum, was die Möglichkeit der eigenen Analyse einschränkt. Es bedarf keiner großen Fantasie, um anzunehmen, dass diese definitorischen Operationen von Forscher*innen im Sinne ihres Erkenntnisinteresses verwandt werden können. In diesem Sinne braucht es für jede vergleichende Studie eine neuerliche Prüfung der Perspektive und Position (eine reflexive Sozialforschung vielleicht im Sinne Pierre Bourdieus). 

2) Der Streit um die Frage der Vergleichbarkeit scheint mir zumindest in Teilen auch auf das Feld der Öffentlichkeit zu zielen, in dem Aufmerksamkeit eine knappe Ressource ist. Da kommt man meiner Meinung nach mit dem Konzept der Konkurrenz der Opfer nicht so richtig weiter. Man müsste sich vielleicht ergänzend anschauen, wie die Shoah langsam in das Zentrum des post-nationalsozialistischen deutschen Gedächtnistheaters gerückt ist, bis es sich Mitte der Achtzigerjahre als zentrales staatliches Erinnerungsnarrativ etablierte. Welche Funktion erfüllt das und für wen? Welche Konsequenzen hat das für die deutsche Gegenwart und welche Rolle spielt Wissenschaft, auch Institute wie das Zentrum für Antisemitismusforschung dabei? Und worauf müsste eine Kritik zielen, der es an einer größeren Sensibilität für die Unterschiedlichkeit von Antisemitismus, Rassismus usw. gelegen ist? 

Moderation: 

Wir würden gerne Manuela Bojadžijev bitten, aus dezidiert rassismuskritischer Perspektive zum bisher Gesagten Stellung zu beziehen, also zur Frage nach dem Potenzial und den möglichen Fallstricken von verflechtungsgeschichtlichen/verflechtungstheoretischen Ansätzen. Vielleicht genauer, und mit Blick auf das von Max Czollek entfaltete Argument der jeweils spezifischen Formationen von Antisemitismus/Rassismus gefragt: Sie selbst sprechen ja von ‚Konjunkturen des Rassismus‘. Was genau ist damit gemeint? Lässt sich diese Rede von Konjunkturen auch auf die Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus übertragen? Zeichnen sich womöglich Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Konjunkturen des Rassismus einerseits und der Konjunkturen des Antisemitismus andererseits ab?

Manuela Bojadžijev:

Die Rede von den „Konjunkturen des Rassismus“ geht auf einen Sammelband zurück, den ich gemeinsam mit Alex DemirovićAnfang der 2000er Jahre herausgegeben habe. Als Weiterführung einer von uns organisierten Tagung am Frankfurter Institut für Sozialforschung, die eine Analyse des Aufstiegs der FPÖ in Österreich zum Ausgangspunkt hatte, diente der Begriff der Konjunktur zunächst mal dazu, sich analytisch und diagnostisch einer nötigen historischen Verortung und Zusammensetzung von Rassismus in einer konkreten Gesellschaftsformation zu nähern, die heute erschreckenderweise erstarkt ist. Damals gab es große Proteste gegen die Allianz aus ÖVP und FPÖ - wir haben die Entwicklung in Österreich und darüber hinaus seitdem alle beobachten dürfen.

Die Konjunkturanalyse folgte der Einsicht, dass einer abstrakten Definition von Rassismus eine historische Konkretisierung stets an die Seite gestellt werden muss, die erstere nicht abbildet, sondern womöglich ganz anders und ‚messy‘, d.h. widersprüchlich, uneinheitlich auftritt.

Dies zu verstehen, ist immer wieder aufs Neue unsere Aufgabe für eine Kritik rassistischer Formationen. Ein einfaches Beispiel dafür ist etwa, dass Rassismus nicht selbst-bekennend auftreten muss. Das stets in Erklärungen hierfür bemühte Zitat »Ich bin ja kein Rassist, aber…« ist nur eine banale, also alltäglich eingesetzte Distanzierung von etwas, dem man folgt (etwa indem man die Aufteilung der Menschheit in Rassen und Ethnien für plausibel hält), aber irgendwie, vage und abwägend für gesellschaftlich delegitimiert hält und sich darum um Konvention bemüht oder es antäuscht oder so einen inszenierten Tabubruch einläutet. 

Konjunktur als analytischer Zugriff behauptet jedoch auch, dass trotz eines nicht selbst-bekennenden Auftritts von Rassismen und der uneinheitlich und nicht immer kohärent auftretenden Formationen rassistischer Ideologien, die sich – global betrachtet – enorm darin unterscheiden, welche Gruppen in das Schema »Fremd und Eigen« gepresst werden und wie sich das über die Zeit verändert, dass also trotz der zeitlich-räumlichen Komplexität, wenn ich das so abstrahierend sagen darf, sich dennoch Tendenzen, Strukturen, relative Dominanzen, Regime, Assemblagen, Konstellationen (hier gibt es viele Begriffe, die eine gemischte Verfasstheit von Macht zu fassen versuchen) definieren und untersuchen lassen. Kurz: Was hält die unterschiedlichen Artikulationsweisen von Rassismus eigentlich analytisch zusammen? Darauf versucht eine Konjunkturanalyse von Rassismus Antworten zu geben.

Dies erlaubt, so der Vorschlag, hinsichtlich der methodologischen Ausführungen von Max Czollek und Eure Frage zur verflechtungsgeschichtlichen und verflechtungstheoretischen Ansätzen, eben das: die diversen Artikulationsweisen von Rassismen in einer konkreten historischen Konjunktur zu analysieren, ohne sie allein phänomenorientiert nur nebeneinander stellen oder sie gar gegeneinander ausspielen zu müssen. Es geht dann eher um die Zusammensetzung von Rassismen in einer bestimmten Konjunktur, ihre Verstärkung und widersprüchliche Konstellation. 

Aus meiner Sicht ist diese Perspektivierung eine wichtig Grundlage für ein stets zu aktualisierendes Verständnis, das den aktuellen und konkreten Blick nicht von der historischen Entwicklung (oder gar: Periodisierung) enthebt und zugleich eine Kritik des Rassismus erlaubt. Oder anders: Wenn es viele historisch spezifische Rassismen gibt, wie erklären wir dann die Stabilität rassistischen Denkens? Konjunktur erlaubt eine Bestimmung, die genug Raum und Spiel gibt, um eine wenngleich stets ungesicherte Einheit mit einer differentiellen Analyse zu vereinen.

Zugleich, daran würde ich festhalten, zielt sie nicht darauf, die stete und notwendige Reproduktion von Rassismus zu behaupten. Sie hält über den Versuch der Bestimmung daran fest, dass wir uns auch Gesellschaften vorstellen können (müssen), in denen rassistisches Denken, in Institutionen eingeschriebene rassistische Logiken und rassistische Gewalt nicht akzeptabel sind – und darum vielleicht auch nach und nach nicht sinnfällig oder praktisch für die Orientierung und das Zusammenleben.

Rassismus in diesem Sinne als gesellschaftliches Verhältnis zu fassen bedeutet darum, nicht per se von seiner Funktionalität für Machtverhältnisse auszugehen. Eine Konjunkturanalyse untersucht, hier einer historischen Untersuchung sehr analog, die konkreten materiellen und ideologischen Praxen, sie befasst sich darüber hinaus mit der Frage, welche konkreten Bedeutungen in der rassistischen Gegenüberstellung von »Eigen« und »Fremd« auftreten und vorliegen – und wie diese sich mit anderen Machtlogiken artikulieren. Ein Beispiel ist hier vielleicht, dass wir in unserer Gesellschaft nicht frei entscheiden können, wen wir heiraten, womit im hohen Maße die Reproduktion der Genealogie gesichert wird. Das betrifft ebenso techno-reproduktive Fragen wie jene der gleichgeschlechtlichen Ehe oder jene danach, welche Herkunft und Staatsbürgerschaft die Eheschließung erleichtert und welche nicht. Daran ist wiederum auch das materielle Erbrecht gebunden. 

So sehr ich Max Czollek hinsichtlich seiner methodologischen Überlegungen zustimmen würde, so wichtig scheint es mir auch zu betonen, dass wir uns von dem Wiedersagen intersektionaler Zusammenhänge und einer Aufzählung von Unterdrückungsformen (wobei ich am wenigsten verstehe, was Klassismus meinen könnte) nach und nach wieder verabschieden sollten. Ich denke, wir könnten wieder konkretere, praxen- und konjunkturell orientierte sowie weniger kategoriale und gruppenlogische Analysen wagen. Die besondere Rolle, die die Figur des Flüchtlings und die Rede von der Flüchtlingskrise seit 2015 für ein Erstarken rechtsextremer Parteien und Bewegungen einnimmt, wäre ein Beispiel, für das ja erklärt werden muss, wie es dazu kommen konnte, dass auf diese eigentlich schutzbedürftige Figur so gut wie alle sozialen Probleme zurückgeführt wurden (bis hin zu Innenminister Seehofers Aussage »Migration ist die Mutter aller Probleme«). Wie kann es sein, dass es im Alltag und der öffentlichen Debatte akzeptabel wurde, darüber zu diskutieren, ob man die fliehenden Menschen auf dem Mittelmeer überhaupt retten soll, wenn sie in Seenot geraten? Es ist diese Akzeptabilität im Alltag, was wir vielleicht mit dem hermeneutischen Begriff der "Ablehnungskultur" bezeichnen könnten, die wir für eine Bestimmung der Konjunktur und wie sie gelebt wird benötigen. Rassismus kann als Wissensform und als Form sozialer Auseinandersetzung verstanden werden, durch die gesellschaftliche Widersprüche bearbeitet werden und mit der wir uns stets auf Neue und auf der Grundlage historischer Erfahrungen und Narrative darüber verständigen, wer eigentlich zur Gemeinschaft gehört. Nur der Rassismus und alle, die dem folgen, sagen, dass diese eine rassische und rassistische sein muss.

Wenn eine Konjunkturanalyse hinsichtlich dieser Reihe von methodologischen und politisch-diagnostischen Bestimmungen taugt, wäre die Bestimmung von Konjunkturen von Rassismus und Antisemitismus etwa hinsichtlich ihrer sich gegenseitig verstärkenden Logiken höchst relevant für ihre Kritik. 

Max Czollek:

Manuela Bojadžijevs Ausführungen finde ich wunderbar, weil sie mich ins Grübeln bringen. Kern meiner Überlegungen bildet Bojadžijevs Annahme, dass unser Versuch, Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis zu fassen, nicht „per se [bedeutet,] von seiner Funktionalität für Machtverhältnisse auszugehen“, dass wir uns also „Gesellschaften vorstellen können (müssen), in denen rassistisches Denken, in Institutionen eingeschriebene rassistische Logiken und rassistische Gewalt nicht akzeptabel sind“. Das ist ja nun erst einmal eine Behauptung, hinter der ich die nachvollziehbare Hoffnung zu erkennen meine, dass Rassismus und Antisemitismus nicht dauerhaft als „Wissensform und als Form sozialer Auseinandersetzung verstanden werden [müssen], durch die gesellschaftliche Widersprüche bearbeitet werden und mit der wir uns stets auf Neue und auf der Grundlage historischer Erfahrungen und Narrative darüber verständigen, wer eigentlich zur Gemeinschaft gehört.“

Gut möglich, dass die Hoffnung auf die Möglichkeit einer nicht-diskriminierenden Gesellschaft für eine wissenschaftliche Diskriminierungskritik notwendiger wird, je mehr wir uns den Strukturen und damit der Normalität des Rassismus zuwenden – in etwa: je systematischer das Phänomen uns in unseren Analysen entgegentritt, umso mehr bedürfen wir einer Gegenerzählung, um den Mut nicht zu verlieren. Zugleich läuft eine solche Selbstsuggestion Gefahr, die Utopie in die Methodologie zu wenden und sie auf diese Weise in die Analyse selbst zu übertragen (in etwa: weil Antisemitismus und Rassismus nicht ewig sein dürfen, müssen wir auch Instrumente entwickeln, die Diskontinuitäten ermitteln). Aber Bojadžijevs Hoffnung auf eine Gesellschaft jenseits der Diskriminierung scheint mir hier ohnehin eher als Credo und als Aufruf an die Leser*innen zu funktionieren. Analog lese ich folgende bereits in Auszügen zitierte Stelle als Appell, dass wir uns „Gesellschaften vorstellen können (müssen), in denen rassistisches Denken, in Institutionen eingeschriebene rassistische Logiken und rassistische Gewalt nicht akzeptabel sind – und darum vielleicht auch nach und nach nicht sinnfällig oder praktisch für die Orientierung und das Zusammenleben.“

Das verstehe ich erst mal normativ, also als (brechtscher) Aufruf an die Leser*innen, loszugehen und die Dinge zu verändern. Denn die diskriminierungsfreie Gesellschaft ist ja keine analytische Kategorie, kann es vermutlich auch gar nicht sein, zumindest insofern wir unsere Analysekategorien aus der Geschichte und damit der dynamischen Dauerpräsenz von Rassismus und Antisemitismus gewinnen. Dabei finde ich es zweitrangig, ob wir als Wissenschaftler*innen an diesen Aufruf glauben oder nicht. Was zählt, ist der performative Akt der im Aufruf ausgedrückten Hoffnung selbst, die eigene Gesellschaft könne so eingerichtet werden, dass keine Diskriminierung mehr stattfindet (nicht: weniger Diskriminierung, was selbstverständlich möglich ist, insofern physische Vernichtung und Diskriminierung bei der Wohnungsvergabe unterschiedliche Grade der Diskriminierung darstellen). Angesichts der sich abzeichnenden Klimakatastrophe und der damit verbundenen Zuspitzungen globaler Ungleichheitsverhältnisse lässt sich ja kaum ernsthaft argumentieren, dass diese andere Gesellschaft vor der Tür stehe. Und aller historischen Einsicht nach, die mir zur Verfügung steht, wird unsere Gegenwart nicht nur in der natürlichen, sondern auch in der humanen Katastrophe enden – an der EU-Grenze ums Mittelmeer, in den zunehmend unbewohnbar werdenden Regionen des Äquators, in der allgemeinen Unfähigkeit der Menschen, ihre Privilegien zu teilen.

In diesem Sinne scheint es mir tatsächlich angebracht, eine Analyse unserer Gegenwart nicht nur so genau wie möglich (bei Bojadžijev beispielsweise die Figur des Flüchtlings beim Aufstieg rechter Parteien), sondern auch in ihrer ganzen Komplexität anzustellen. Der Aufstieg rechter Parteien ist ja eine ganz bestimmte Fragestellung, die unter Umständen selbst einen Anteil an einem Problem der Gegenwart haben kann – dass nämlich diese deutsche Gesellschaft mit ihren Strukturen der Normalität so etwas wie die AfD vorbereitet und als Potential aufrechterhält. Zu dieser Normalität gehören in Deutschland unterschiedliche Diskriminierungsformen, die wir in einer Gesellschaftskritik zusammen denken müssten – darum würde ich auf der Intersektionalität als Modell der Gegenwartsanalyse beharren. Dazu gehört zentral aber auch die von mir bereits erwähnte Erzählung der eigenen Gutwerdung, also die Behauptung, man hätte das völkische Denken und mit ihm den Nazismus überwunden. Es ist diese Erzählung eine der Grundlagen einer spezifisch deutschen und staatstragenden, d.h. parteienübergreifenden Selbsttäuschung – einer Täuschung, die systematisch verhindert hat, dass der Staat die Menschen vor NSU oder Chemnitz schützten konnte oder daraus lernt, die verhindert, dass er aus dem Mord an Lübcke oder aus Halle Konsequenzen ziehen wird.

In diesem Sinne läuft noch die bestgemeinteste Untersuchung etwa des Aufstiegs der Rechten Gefahr, zu einer Ablenkung von der Kompliz*innenschaft der deutschen (und jeder anderen) Gesellschaft an staatlicher Gewalt beizutragen, wenn sie nicht zugleich ihren Zusammenhang mit der Gesellschaft – und damit die Normalität von Diskriminierung auch in der Terminologie der Intersektionalität – unterstreicht; es ist klar, warum Politiker*innen da kein gesteigertes Interesse dran haben können. Die Wissenschaft aber, normative Aussage, sollte eine breitere Perspektive anlegen, die die eigene Arbeit einbezieht. Und an dieser Stelle müsste auch eine Untersuchung der „Akzeptabilität im Alltag“ (Bojadžijev) ansetzen, also des Potentials, welches die AfD ja nicht nur selbst erzeugt, sondern durch das sie auch erzeugt worden ist. Worauf das Ganze hinausläuft bzw. wo es ansetzt, ist eine Perspektive reflexiver Sozialforschung (aber nicht nur der), die nicht nur die eigene Position in der Gesellschaft reflektiert (Bourdieu), sondern die darüber hinaus danach fragt, was für Ressourcen wir mobilisieren können gegen die Normalität der Diskriminierung.

Am Ende geht es vielleicht um die Frage, ob so etwas wie eine ‚wehrhafte Wissenschaft‘ zu denken wäre, die nicht nur analysiert, sondern sich ihres eigenen performativen Potentials bewusst ist. Die Hoffnung auf eine Gesellschaft jenseits der Diskriminierung ist ein Teil dieser Performanz. Insofern wir sie als Akt auf der Bühne verstehen, auf der unsere Texte rezipiert werden, ist sie eine bedenkenswerte ästhetische Strategie, die an Brechts Ende vom Guten Mensch von Sezuan erinnert: „Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! / Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“

Manuela Bojadžijev:

Ich freue mich natürlich, dass meine Position ein Grübeln verursacht, möchte mich aber gegen eine Relativierung stellen, die sich weniger in der Beschreibung als in der Qualifizierung meiner Position ausdrückt. Ich fasse mal kurz zusammen: Max Czollek bezeichnet die Position, dass wir ein Ende des Rassismus und Antisemitismus uns vorstellen können (müssen), als ‚nachvollziehbare Hoffnung‘ und ‚Behauptung‘, dann als ‚Credo‘ und ‚Aufruf‘ zu Veränderung, schließlich als ‚performativen Akt‘, ‚Gegenerzählung‘, ‚Selbstsuggestion‘ und ‚Utopie‘. Es sei gefährlich, derlei Dinge in meine Methodologie einzuarbeiten.

Dazu hier nur ganz kurz und in der Hoffnung, wir hätten einmal die Gelegenheit, die Brechtsche Aufhebung von Bühne und Publikum gemeinsam zu besprechen: a.) das Ende von Rassismus und Antisemitismus denkbar zu halten ist ein performativer Akt, aber sicher keine Selbstsuggestion und keine Utopie. Und zwar zunächst genau aus dem Grund, den Czollek selbst anführt: Weil eben Rassismus und Antisemitismus dieser Gesellschaft nicht äußerlich sind. Wenn sie nicht Teil gesellschaftlicher Verhältnisse wären, müsste man sie ja als transhistorische, anthropologische Konstanten verstehen. Dass wir das nicht tun, hat auch damit zu tun, dass wir zu viel über ihre Entstehung und ihre historische Entwicklung und Transformationsfähigkeit wissen. Diese hängt, deshalb mein Bestehen auf einem relationalen, konjunkturellen Verständnis, in hohem Maße auch von der Macht und Qualität des Widerstands gegen sie ab. Man kann keine Machtform denken, ohne diesen Widerstand, da er im Begriff der Macht eingeschrieben ist. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die Geschichte dieser Machtformation von zahlreichen und vielfältigen Widerständen und Solidaritäten geprägt ist. Sowohl auf der Ebene alltäglicher Praxis als auch institutionell waren solche Widerstände unterschiedlich erfolgreich. Praktiken der Solidaritäten finden ebenso statt, wie Serhat Karakayali in seiner Arbeit deutlich macht. Das ist in der Tat Methodologie, die wir aus meiner Sicht beibehalten müssen. Woher sonst verstehen wir und wissen wir, was erfolgreich gegen Rassismus und Antisemitismus gesagt und getan werden kann? Man müsste sich auch mit der Frage auseinandersetzen, warum es uns so schwerfällt, im Kontext dieser Unterdrückungs- und Regierungsformen Differenzierungen zu denken. Möglicherweise hängt es mit der Schwierigkeit zusammen, den Nexus von moralischem und analytischem Urteil zu justieren. Von einer »Dauerpräsenz von Rassismus und Antisemitismus« zu sprechen, halte ich jedenfalls aus mehreren Gründen für irreführend. Nicht nur in Bezug auf historischen Wandel, sondern auch die Gegenwart betreffend: Ganz unabhängig davon, ob ‚eine andere Gesellschaft vor der Tür steht‘, sind rassistische oder antisemitische Handlungen, Weltsichten, oder Strukturen nicht gleichmäßig über eine Gesellschaft verteilt, wie der ‚Äther‘ in älteren Kosmologien den Raum durchzieht. Dass Menschen bereit sind, die Welt durch die rassistische Brille zu sehen, also ihr Leben und das anderer als etwas zu verstehen, das wesentlich von Konstrukten wie Rassen, Ethnien oder Kulturen bestimmt wird, unterliegt gesellschaftlichen Konjunkturen, d.h. hängt auf unterschiedliche Weisen mit anderen Typen von Verhältnissen und deren Dynamik zusammen. Letztlich heißt das auch, dass nicht alle auf gleiche Weise und in gleichem Maß rassistisch werden.

b.) Ich bin, um das nochmal ganz anders zu denken, auch nicht sicher, ob das Ende von Rassismus und Antisemitismus notwendigerweise den Beginn einer besseren Welt markiert. Unterdrücken, Sortieren, Töten etc. kann anders legitimiert und organisiert werden. Auch diesen Ausgang müssen wir denken. Woran ich festhalte ist, dass die Gesellschaft nicht etwas ist, dem wir äußerlich gegenüberstehen, sondern etwas, dass wir verändern können und müssen.

Als abschließende Bemerkung sei mir noch eine Beobachtung erlaubt. Neben den von einigen in der Diskussion bereits benannten ‚Shortcomings‘ einer aktuell gewissen Popularität von intersektionalen Analysen, gehört auch der Begriff der Diskriminierung einmal stärker unter die Lupe genommen. Seine bürokratische Herkunft verspricht ein ‚social engineering‘ und unterschlägt systemische und infrastrukturelle Quellen von Ungleichheit. Gleichheit von vorausgesetzten Gruppeninteressen entsteht hier nur durch Regulation oder auf dem Markt. Gleichheit ist damit eher Equität/Äquivalenz als eine Forderung nach Gerechtigkeit. Aus diesem Grund teile ich auch nicht die Einschätzung, dass Intersektionalität von Politik so sehr gefürchtet wird.

Bündnispotenziale und gesellschaftliche Konkurrenzen

Moderation: 

Wir kommen noch mal auf das Thema ‚Weiß-Werden von Juden und Jüdinnen‘ und die damit zusammenhängende Frage nach Bündnispotenzialen und -problemen (im Sinne von antirassistischen und anti-antisemitischen Allianzen) zurück. Wie verhalten sich Opferkonkurrenzen zum Thema Bündnisfähigkeit und wie ist ihnen möglicherweise zu entgehen? 

Meron Mendel und Saba-Nur Cheema:

Juden werden in antirassistischen Kontexten oft als Weiße gesehen, da sie, kurz gesagt, als mächtig gelten – das Beispiel dafür sei Israel. In der postkolonialen Theorie wird die Welt zwischen „gut“ und „böse“ aufgeteilt und zwar in: der böse Westen und der unterdrückte Rest. Nach diesem Weltbild ist Israel dem kolonialistischen Westen zuzuordnen. Es entsteht ein Widerspruch: sie zählen nicht zu den Unterdrückten auf der Welt, sondern gelten als Profiteure der globalen Weltordnung. Juden als Weiße zu bezeichnen zeigt die Unzulänglichkeit der postkolonialen Theorie. Juden sind ebenfalls betroffen von „White Power“ wie Schwarze, Muslime usw. Das zeigte Pittsburgh, das zeigt Halle heute. Eben haben wir gelesen, dass der Täter aus Halle schrieb: "Wenn ich scheitere und nur einen Juden töte, war es das wert. Wenn jeder weiße Mann einen Juden tötet, werden wir gewinnen." Die postkoloniale Theorie richtet sich vornehmlich gegen (tradierte) kolonialrassistische Konstruktionen. Dem kolonialen Denken wohnt eine Dichotomisierung inne, durch die die Eigengruppe aus der Abwertung einer homogenisierten Fremdgruppe geformt wird. Antisemitismus lässt sich aber nur teilweise mit der Konstruktion einer entwerteten Gruppe begreifen. ‚Der Jude‘ ist der ‚Dritte‘, der nirgendwo dazu gehört. Er ist Weltherrscher und Parasit, lüstern und verklemmt, bolschewistisch und finanzkapitalistisch, patriarchal und feminin, Imperialist und Marionette, vergeistigt und triebhaft. 

Bzgl. antirassistischer und anti-antisemitischer Allianzen: Immer öfter dient der Ansatz der Intersektionalität (USA, 1970er) der inklusiven Herangehensweise in der Bildung von Allianzen. Jedoch gibt es hier eine deutliche Leerstelle. Während viele verschiedene Dimensionen von Diskriminierung mitgedacht werden (race, class, gender usw.), fällt der Antisemitismus weg und/oder wird nicht explizit genannt. Juden gelten auch hier als die Mächtigen und zählen nicht zu den Marginalisierten. Deutlich wurde diese Leerstelle, wenn man bspw. auf die Debatten des feministischen Protestbündnisses Women’s March in den USA letztes Jahr schaut. Während inzwischen deutlich geworden ist, dass es mehrere problematische und antisemitische Äußerungen über Israel und Juden bei den Protagonistinnen des Bündnisses gab, bleibt der Irrtum bestehen: Ein Bündnis mit einem inklusiven Ansatz, der allen Marginalisierten eine Stimme gibt, scheitert beim Thema Antisemitismus. Aus dem intersektional geprägten Bündnis lobten einige ausgerechnet solche Männer für ihr Engagement für Schwarze und Muslime, die für islamistische und antisemitische Positionen stehen. Ein inklusiv gedachtes Bündnis darf den Hass gegen eine Gruppe selbstverständlich nicht zulassen. Schwammig und letztlich unsolidarisch wird es oft interessanter Weise dann, wenn es um Juden geht.

Stichwort Opferkonkurrenzen: 

Die Herausforderung ist, die gemeinsamen Interessen in den Vordergrund zu stellen, ohne Vergleiche zu machen, die eine Opferkonkurrenz suggerieren: beispielsweise wurde die Initiative des Kippa-Tages von vielen Muslimen kritisiert, da sie eine mangelnde Solidarität mit Kopftuch-Trägerinnen beklagten. Es ist zwar nachvollziehbar, dass eine Minderheit sich mit der Situation einer anderen Minderheit vergleicht. Solidarität sollte jedoch bedingungslos und unabhängig davon sein, ob die eigene Gruppe gleich viel, mehr oder weniger Leid erfährt. 

Peter Ullrich: 

Man kann und muss euch in der konstatierten Leerstelle des Postkolonialismus und in euren universalistischen Forderungen politisch nur zustimmen: kein Leid und keine Diskriminierung gegeneinander ausspielen, immer alle Dimensionen von Ungleichheit sensibel beachten und das auch noch in ihren komplizierten Verschränkungen. Doch hier wird es schon unübersichtlich und verlangt eine Analyse der Bedingungen, unter denen nicht-universalistische Praktiken oder gar Ideologien entstehen, und eine Analyse der doch ganz realen Interessensinkongruenzen, denn es ist praktisch eben nicht egal, ob eine Gruppe ‚mehr oder weniger Leid erfährt‘ oder dies zumindest so wahrnimmt. Die bloße Behauptung ‚gemeinsamer Interessen‘ aus linker, universalistischer, emanzipatorischer Perspektive scheitert allzu oft am Alltagserleben der Betroffenen – wie ihr selbst aus eurer Auseinandersetzung mit der irreführend so genannten Identitätspolitik nur allzu gut wisst. Ich habe das in meiner Untersuchung der linken Nahostdebatten für die ‚Antideutschen‘ in der Bundesrepublik gezeigt (wo die Antisemitismuskritik teils in habitualisierten Philosemitismus und militante Unterstützung rechtszionistischer und teilweise auch rassistischer und antifeministischer Positionen umschlug) und für die antiimperialistische Linke in Großbritannien (wo die dort selbstverständliche Solidarisierung mit Muslimen während des Irakkriegs massiv zur Aufgabe emanzipatorischer, bspw. säkularer, Positionen beigetragen hat – das betraf auch die dringend notwendige Kritik des Antisemitismus). Beides lässt sich aus dem gesellschaftlichen Kontext und Erbe der deutschen und der britischen Linken erklären. Und so muss man m.E. die Binarität im Denken von Teilen des Postkolonialismus z.T. im Kolonialismus und seinem Erbe suchen.

Und im deutschen Erinnerungstheater, wie Max Czollek das zurecht nennt, sehen wir eine Aufwertung des Anti-Antisemitismus in der offiziellen Sphäre (Medien, etablierte Politik usw.) – völlig unabhängig vom weit verbreiteten realen Antisemitismus und historisch ursprünglich aus überwiegend instrumentellen Motiven. Es gibt also Antisemitismusbeauftragte, die Annahme einer völlig ungeeigneten und fachlich miserablen ‚Arbeitsdefinition Antisemitismus‘ durch höchste Stellen, Unterstützung Israels als Teil der deutschen Staatsräson usw. Das alles soll zeigen: wir machen was. Auch wenn wir nicht zuletzt angesichts des primär antisemitischen Anschlags von Halle wieder sehen: man macht eigentlich recht wenig Substanzielles. Und mit eindeutigen Gesten werden Widersprüche weggewischt. Aus antirassistischer Perspektive wird dieser etablierte Diskurs (etwas verkürzt) so wahrgenommen: es gibt keinen Rassismusbeauftragten, keine ‚Arbeitsdefinition antimuslimischer Rassismus‘ usw. Also sind Einschluss- und Ausgrenzungserfahrungen eben nicht "gleich".

Dies ist nur ein Beispiel für mindestens in der Wahrnehmung durchaus reale Interessensdivergenzen. Dies wird noch immens verstärkt durch die von mir am Beginn des Gespräch schon beschriebene, real weitgehend binäre Konstellation beim Themenkomplex Antisemitismus/Nahost/Antirassismus, die man zugespitzt als Grabenkriegslogik zwischen antisemitismuskritischem Zionismus und antirassistischem, aber antisemitismusunsensiblem Antizionismus beschreiben könnte. Da man aber von den Exponent*innen der Diskussion aufgrund historisch und systematisch rekonstruierbarer Gründe gerade eben keinen Universalismus erwarten kann, sondern mit notorischer Einseitigkeit, radikalen Identifikationen usw. konfrontiert ist, liegt die Aufgabe, die Fahne des Universalismus hochzuhalten, bei Akteur*innen, die genau wegen der Strukturiertheit dieser Debatten gerade NICHT in diesem Themenfeld aktiv sind, es verlassen haben oder die Berührung scheuen – verständlicherweise angesichts des Minenfelds. Das ist eine große Herausforderung für "uns", die sehr Schmerzliches auszuhalten abverlangen würde, wenn man sich nicht binär solidarisiert, aber dann jeweils mit den argen Widersprüchen der jeweiligen Adressaten der Solidarität konfrontiert ist. Wie wir uns in die Lage versetzen, das praktisch hinzubekommen, ist meine große Frage.

Zu guter Letzt noch ein letztes Beispiel: Ich unterhielt mich nach Halle mit einem linken deutschen Palästinenser. In vielen Punkten bestand zwischen uns Einigkeit: von der Erschütterung bis zum Impuls, dringend handeln zu müssen. Aber es beschäftigte und ärgerte ihn ungemein, dass der Anschlag – m.E. völlig zu Recht – v.a. als antisemitisch klassifiziert wird. Er hingegen betonte die anderen Ziele des Attentäters: den Dönerimbiss, die zufälligen Opfer unter den Passant*innen. Er bestritt nicht die antijüdische Komponente, wollte sie aber herunterstufen, trotz des klar gewählten primären Ziels und der expliziten Aussagen des Attentäters. In dieser Sicht verbirgt sich die Opferkonkurrenz, anders kann ich es nicht verstehen, wahrscheinlich motiviert von verschiedenen Komponenten, vom Ressentiment bis hin zur realen Erfahrung, Inhaber einer deklassierten, marginalisierten Sprecher*innenposition zu sein. Die Opferkonkurrenz besteht unabhängig davon, wie realistisch die ihr zugrundeliegende Sicht auf die Realität ist. 

Marina Chernivsky:

Antisemitismus als Macht- und Strukturverhältnis wird bis heute negiert. Ich beobachte sogar eine doppelte Engführung: Antisemitismus wird weder als gegenwärtiges Phänomen noch als individuelle Erfahrung ernst genommen. Die oberflächliche und objektivierende Art und Weise des öffentlichen Sprechens ändert an dieser Disposition nicht viel. Wir erleben Zeiten eines neuen Sprechens über Antisemitismus. Aber dieses müsste in seiner Semantik, Struktur und Wirkung noch genauer untersucht werden; es wird mit Deckbegriffen hantiert, die oberflächlich und unkritisch sind. 

Hier taucht eine mehrfache Gleichzeitigkeit auf: Es wird gesprochen, aber nicht besprochen und die neue ‚Sprechbereitschaft‘ verstärkt den Kampf um Anerkennung von Gruppen und spült die im Verborgenen wirkenden Hierarchien und gefühlten Konkurrenzen auf die Oberfläche. Manches wird unter Umständen vielleicht bewusst oder gezielt ausgespielt. Jenseits der Reproduktion des Antisemitismus im öffentlichen Sprechen taucht der Begriff Opferkonkurrenz auch in aktivistischen und/oder kritisch-akademischen Kreisen auf. Ich habe das Bedürfnis, den Begriff zu dekonstruieren und über Dringlichkeitshierarchien, Dringlichkeitsbedürfnisse oder auch Dringlichkeitskonkurrenzen zu sprechen. Die Gleichzeitigkeit von Bedarfen und Bedürfnissen (v.a. nach Sichtbarkeit), die Kritik an selektiver, objektivierender, vereinnahmender ‚Anerkennung‘ von Minderheiten ist wichtig genug, aber das Sprechen über Opferkonkurrenzen verhindert eine konstruktive Auseinandersetzung mit den damit einhergehenden Geschichten und Differenzlinien.

Ich verbinde damit auch ein Stück Ohnmacht, weil damit die machtvolle (erinnerungspolitische) Zuschreibung/Festlegung von Rollen und Identitäten (und damit auch von Hierarchien) verbunden ist. Eine Dekonstruktion nimmt dem dominanten Diskurs die Ladung weg und zeigt Wege aus der Ohnmacht. Für eine Transformation braucht es mehr als das; die Reflexion über (Gruppen)Hierarchien muss durch lebensgeschichtliche Hintergründe und gesellschaftspolitische Diskurse erfolgen. 

Dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen in der reflexiven Bildungsarbeit, um Einsicht zu evozieren, die Reflexion über sowie die Auseinandersetzung mit den sogenannten Konkurrenzen zu ermöglichen. Dabei spielt der Blick auf die historischen und gegenwärtigen Dispositionen der De-Thematisierung von Antisemitismus und Rassismus eine wichtige Rolle.

Leah Wohl: 

Der Begriff der Opferkonkurrenzen taucht immer wieder auf. Selten wird analysiert, wo davon gesprochen wird, wer diesen Begriff verwendet und welche Funktion er eigentlich hat. Das wäre ein diskursanalytisches Projekt. Weniger aus meiner Forschung als aus meiner Beobachtung heraus ein paar Überlegungen dazu: Eigentlich konkurrieren Gruppen doch nicht um einen Opferstatus, sondern um Anerkennung von Erfahrungen in der Aufmerksamkeitsökonomie der Mehrheitsgesellschaft. Aufmerksamkeit für Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen von marginalisierten Gruppen ist knapp und um Anerkennung muss gerungen werden. Dabei werden mitunter Vergleiche bemüht, die nicht zu Allianzen und Solidarität beitragen, sondern relativieren etc. Meistens aber scheint mir dieser Begriff vermeintlich deskriptiv aus einer mehrheitsgesellschaftlichen Position heraus verwendet zu werden, um den Finger auf die Stellen zu legen, an denen unsolidarisch oder konflikthaft um Anerkennung gerungen wird. Das passiert dort, wo es über Bande um Anerkennung durch die Mehrheits- oder Dominanzgesellschaft geht. Produkt einer bundesrepublikanischen Erinnerungskultur ist das insofern, als ‚den Juden‘ eine große symbolische Bedeutung zukommt, die nicht proportional zur tatsächlichen Größe der jüdischen Minorität ist – siehe Michal Bodemans Thesen zum Gedächtnistheater und Max Czolleks Ausführungen zur Desintegration. Wie wenig diese spezifische Aufmerksamkeit mit einer tatsächlichen Anerkennung von Lebensrealitäten oder von Diskriminierung und Bedrohung zu tun hat, zeigt der Anschlag in Halle (mal wieder) deutlich. Räume, in denen die dominanzgesellschaftliche Aufmerksamkeitsökonomie keine Rolle spielt, können hier helfen – aber das wird ja auch in verschiedenen Projekten so gemacht und ist insofern nicht neu.

Zudem, es scheint mir ein spezifischer, vielleicht auch selektiver Blick. Die Betonung von sogenannten Opferkonkurrenzen ist dazu angetan, Gruppen gegeneinander auszuspielen. Auch das wäre ein interessantes Projekt: Die Geschichte von Solidarisierungen und jüdisch-migrantischen/ jüdisch-muslimischen (bei aller begrifflichen Unschärfe) Allianzen ist weitgehend ungeschrieben. Da frage ich mich, warum Opferkonkurrenzen mehr Aufmerksamkeit bekommen als Solidarisierungen? Oder andersherum: Im Erzählen einer Geschichte von (erfolgreichen) Solidarisierungen, die durch Anerkennung und nicht durch Konkurrenz geprägt waren, liegt großes Potential für Allianzen marginalisierter Gruppen. Es braucht dringend erfolgreiche Vorbilder, das Anführen von vermeintlichen und tatsächlichen Opferkonkurrenzen ist dafür eher kontraproduktiv.

Solidarisierungen, Allianzen und Ko-Erinnerungen begegnen mir im künstlerischen Umfeld (Film, Theater, Literatur) immer wieder, sie werden aber viel weniger hervorgehoben und selten als solche benannt (oder gar wissenschaftlich untersucht) als konflikthafte Bezugnahmen auf andere ‚Opfergruppen‘.

Zuletzt, aber das ein wenig unausgereift: Im Sprechen über Opferkonkurrenzen scheint mitunter auch das antisemitische Ressentiment auf, dass ‚den Juden‘ und ihrer Verfolgung ohnehin zu viel Aufmerksamkeit zuteilwerde, sie aus dieser Aufmerksamkeit einen Vorteil schlügen oder, allgemeiner formuliert, sie großen Einfluss auf ihre mediale Repräsentation hätten.

Jetzt bin ich ein bisschen mäandert, doch um es kurz und bündig zu machen: Wissenschaftlich bräuchte es eine Untersuchung, an welchen Stellen es sich tatsächlich um Opferkonkurrenzen handelt, also konkurrierend aufeinander Bezug genommen wird, und wo diese vielleicht eher imaginiert werden; aktivistisch braucht es einen Fokus auf erfolgreiche Allianzen in der Vergangenheit, um daraus Ideen für künftiges zu entwickeln.

Moderation:

Wir bedanken uns bei allen Beteiligten herzlich für die Beteiligung an der Diskussion. 

Über die Teilnehmer*innen

Prof. Dr. Manuela Bojadžijev ist seit 2015 Professorin für Globalisierte Kulturen an der Leuphana Universität Lüneburg und seit April 2018 Vize-Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM).

Saba-Nur Cheema leitet die Bildungsabteilung der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main.

Marina Chernivsky leitet das Kompetenzzentrum Prävention und empowerment der ZWST. Sie ist ausserdem Mitherausgeberin der Zeitschrift Jalta - Positionen zur jüdischen Gegenwart.

Dr. Max Czollek ist Lyriker, Essayist und Kurator sowie Mitherausgeber der Zeitschrift Jalta - Positionen zur jüdischen Gegenwart.

Sigmount Königsberg ist Antisemitismusbeautragter der Jüdischen Gemeinde Berlin.

Dr. Meron Mendel ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main.

Dr. Dr. Peter Ullrich ist Ko-Leiter des Bereichs "Soziale Bewegungen,
Technik, Konflikte" am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin
sowie Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung und im Institut für
Protest- und Bewegungsforschung.

Dr. Leah Wohl von Haselberg arbeitet an einem Forschungsprojekt zu Arbeitsbiographien jüdischer Filmschaffender in der BRD an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. Sie ist zudem Mitherausgeberin der Zeitschrift Jalta - Positionen zur jüdischen Gegenwart.

 

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