Gesellschaftskritik aber wie? – Kritische und Postkoloniale Theorie im Dialog
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Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Von Jonas Friedemann Herms
Auf dem akademischen Feld werden vereinzelt Versuche unternommen, Antisemitismus und Rassismus aufeinander zu beziehen und in ihren wechselseitigen Bezügen zu verstehen (Mosse 1995, Bruns/Hampf 2018). Ansätze, die theoretische Berührungspunkte der Forschungstraditionen selbst zu erarbeiten versuchen, existieren jedoch kaum. Im Gegenteil äußern sich die „gegenläufigen Perspektiven“ (Edthofer 2015) von Antisemitismus- und Rassismusforschung in Deutschland unter anderem in gegenseitigen Vorwürfen von Antisemitismus bzw. Rassismus – zuletzt deutlich sichtbar an den Auseinandersetzungen um den Bundestagsbeschluss zu BDS und um die Leitung des Jüdischen Museums Berlin. Ein Effekt dieser Deutungs- und Anerkennungskämpfe sind eigenartige Allianzen zwischen konservativen weißen und nicht-weißen Positionen, die um den Preis breiter Bündnisse marginalisierter Positionen vor allem die progressiven Stimmen innerhalb der jeweiligen Communities schwächen.
So scheint es gerade in Zeiten eines wieder offener zutage tretenden Chauvinismus angebracht, nach theoretischen Schnittmengen zwischen antisemitismuskritischer und rassismuskritischer Forschung zu fragen. Ein Blick auf die Kritische Theorie ("Elemente des Antisemitismus") und die Anfänge Postkolonialer Theorie ("Orientalism") kann hier erste Ansätze möglicher Antworten liefern. Dabei geht es in der Zusammenschau letztlich auch um einen Vergleich zweier theoretischer Konzepte, die sich in konstruktiver Weise gegenseitig bereichern könnten: Während die Postkoloniale Theorie in einen diskurstheoretischen Rahmen eingelassen ist, argumentiert die Kritische Theorie viel stärker psychologisch. Beide können jedoch konstruktiv aufeinander bezogen werden (Best/Kellner 1991: 37f., JFI 1999: 11).
Erkenntniskritik als theoretischer Ausgangspunkt
Die Kritische Theorie kann als erkenntnistheoretisch fundierte Gesellschaftskritik verstanden werden, die mit dem Zweifel an den Möglichkeiten wertfreier Wahrnehmung eine radikale Kritik menschlicher Modernitätserwartungen verbindet. Rationalität liefert in ihren Augen nicht die Lösung gesellschaftlicher Entwicklungsprobleme, sondern ist gleichzeitig Ursache tiefgreifender Probleme. Denn eine im Zivilisationsprozess zugerichtete Rationalität macht die Kluft vergessen, über die hinweg das Individuum „seine gegenständliche Welt“ (Adorno/Horkheimer 1987: 217) erst konstruiert. Sie suggeriert damit die Neutralität von Fakten und unterschlägt den individuellen Prozess der Subsumtion diverser Eindrücke unter einheitliche Begriffe, die dem Wahrgenommenen niemals gerecht werden können. In diesem begrifflichen Rahmen konstituiert der Mensch in einem wechselseitigen Prozess das Fremde, aber auch das Selbst. Am Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess ist dabei stets die „selbsttätige Projektion“ (218) beteiligt, welche nicht unterbunden, sondern lediglich Gegenstand der eigenen Reflexion und dadurch „in Kontrolle genommen“ (ebd.) werden kann. Im Antisemitismus ist jedoch die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen Wahrnehmungsgegenstand und individueller Wahrnehmung vollkommen verloren gegangen. Das antisemitische Subjekt belehnt alles Äußere „mit dem, was in ihm ist“ (220), ohne diese Projektion reflektieren zu können. Eine solche Reflektion verstehen die Autoren als „bewusste Projektion“ (219), die jedoch wiederum Vernunft voraussetzt. Rationalität befördert also auf der einen Seite problematische Prozesse der Vereinheitlichung und ist gleichzeitig Bedingung für die Wahrnehmung der Brüche innerhalb dieser Vereinheitlichungen und Identitätskonstruktionen. Sie ist Bedingung für die „vom Gedanken unangekränkelte Gewissheit“ (ebd.) ebenso wie für ihre Ablehnung. Auf dieser Erkenntniskritik beruht die Analyse des Antisemitismus durch die Kritischen Theoretiker. Genau in der Annahme eines Konstruktionsprozesses äußerer und innerer Realität berühren sich die Kritische Theorie und Rassismustheorien, die auf poststrukturalistischen erkenntnistheoretischen Analysen aufbauen. Ein Blick auf die Orientalismusstudie Saids soll dies verdeutlichen.
Edward Said beginnt seine berühmte Studie über den Orientalismus mit dem einleitenden Hinweis, dass die westliche Welt den Orient auf verschiedenen Ebenen erfolgreich „zu schaffen“ (Said 2009: 12) verstanden habe. Was Adorno und Horkheimer im Hinblick auf den individuellen Wahrnehmungsprozess untersuchen, analysiert Said im Hinblick auf einen gesamten Diskurs. Ihm geht es dabei vor allem um die (Un-)Möglichkeit der Darstellung von Wahrnehmungsinhalten, weniger um die (Un-)Möglichkeit der Wahrnehmung selbst. Für ihn ist klar, dass jeder Ausdruck in Sprache, Kultur und politische Institutionen eingebunden und damit die Darstellung eines „authentischen Orient[s]“ (33) unmöglich ist. Das Konzept einer wahrhaftigen, realen und interesselosen Darstellung (312) wird damit ähnlich unterlaufen wie bei den Kritischen Theoretikern. Die Ursache dafür macht Said in „komplexen kulturgeschichtlichen Umständen“ (260) aus, die er nicht näher spezifiziert. Diese führten jedoch dazu, dass die menschliche Wahrnehmung stets kategorisierend vorgehe und dadurch „wertende Interpretationen“ (ebd.) vornehme. Auch für Said besteht eine Kluft „zwischen dem Typus […] und dem gewöhnlichen Lebensalltag der Menschen“ (264), die in der orientalistischen Repräsentation negiert werde. Den Orientalismus versteht Said dabei als ein jahrhundertealtes organisiertes System zur möglichst einheitlichen Konstruktion von Wissen über eine Region und deren Bevölkerung. Zur Erklärung des Erfolgs dieser tradierten Wissensgenerierung verweist Said auf das starke Machtgefälle zwischen Orient und Okzident. Diese Annahme ist notwendig, um die Durchsetzung des Orientalismus gegenüber anderen Orientdarstellungen erklären zu können.
Sowohl der Kritischen Theorie als auch der Postkolonialen Theorie nach Said ist die Überzeugung gemein, dass die Konstruktion „stets mehr [mit] der ihn gebärenden Kultur als seinem vermeintlichen […] Gegenstand“ (33) zu tun habe. Zur Erklärung der Durchsetzung antisemitischer bzw. orientalistisch-rassistischer Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen braucht es jedoch eine Antwort auf die Frage, wie sie ihre Attraktivität entfalten konnten. Hier kommen psychologische Argumente ins Spiel, mit denen beide Theorien die Wirkungsmacht von Antisemitismus bzw. Rassismus zu erklären versuchen.
Psychologische Muster
Für Horkheimer und Adorno, die explizit psychoanalytische Argumente in ihre Analyse einbeziehen, bildet die menschliche Zivilisationsgeschichte einen wichtigen Bezugspunkt in der Erklärung des Antisemitismus. Der Fortschritt der Zivilisation bedeutet für die Menschheit eine immer stärkere Unterdrückung eigener Triebregungen und nachahmender, mimetischer Verhaltensweisen – die „Verleugnung der Natur im Menschen“. Diese bildet den „Kern aller zivilisatorischen Rationalität“ (Horkheimer/Adorno 1987: 78). Im Drang, den Schrecken der Natur zu mildern, setzte sich in der spätesten Entwicklungsphase der Menschen die Arbeit als adäquater Bewältigungsmodus durch. Dieser bedeutet eine totale „Verhärtung“ (210) der Menschen gegen eigene, spontane Regungen. Jede Regung werde zu einem Symbol für das „Unzeitgemäße“ (212), zum Anzeichen eines Rückfalls in die Natur. Hier berühren sich die Kritik der Wissensproduktion (Fixierung der Welt in Begrifflichkeiten) und der Zivilisationsgeschichte (Fixierung des Menschen auf mechanisches Getriebe). Juden und Jüdinnen werden nun von der Mehrheitsgesellschaft zu Träger*innen der unterdrückten Regungen formiert: „Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut“ (211). Die Typologie antisemitischer Bilder versammelt für Horkheimer und Adorno Elemente mimetischer Verlockungen, wie bspw. „undisziplinierte Mimik“ oder „Riechlust“ (212f.). Gerade der politisierte Antisemitismus versteht es, die Triebregungen „im Kollektiv“ (199) zu sanktionieren und dadurch Befriedigung zu verschaffen. In antisemitischen Exzessen kann der Trieb ausgelebt werden, weil „außer Zweifel steht, dass es seiner Ausrottung gilt“ (214). Nicht zuletzt sind es psychologische Mechanismen, die von den Kritischen Theoretikern herangezogen werden, um die Wahl von Juden und Jüdinnen als Objekte eines Abwertungs- respektive Vernichtungsprozesses zu erklären.
Mit Blick auf die Postkoloniale Theorie lässt sich ein ähnlich starker Bezug auf psychologische Erklärungsansätze nicht feststellen. Dies ist bei einem diskurstheoretischen Rahmen auch nicht verwunderlich, in dem die individuelle Psyche in den Hintergrund tritt. Doch schaut man genauer hin, so ist leicht zu erkennen, dass die Postkoloniale Theorie mit zahlreichen begrifflichen Anleihen aus der Psychoanalyse arbeitet (Kossek 2012) – jedoch ohne die Herkunft und Bedeutung kenntlich zu machen und ihre gesellschaftliche Einbettung zu diskutieren. Der Begriff der ‚Projektion‘ findet sich bei Said an mehreren Stellen, und auch die Triebsublimierung wird, wenn auch paraphrasiert, als Ursache antimuslimischer Darstellungen herangezogen (Said 2009: 220). Sucht man nach der Ursache dieser Bezüge, lässt sich diese wohl im Potential der Freudschen Kritik an der europäischen (Selbst-) Imagination eines autonomen, rationalen Subjekts finden: Diese bietet eine hervorragende Grundlage für die genealogische Infragestellung der Inszenierung objektiven Faktenwissens über den ‚Orient‘ und seine Bewohner*innen. An die Stelle des historischen Wissens rückt „eine Art Paranoia“ (90), auf die eine westliche Welt ihren Herrschaftsanspruch und damit die Unterdrückung muslimischer Gesellschaften aufbaut. Die Formulierungen Saids zeigen, dass eine umfassende Erklärung der Ursachen des antimuslimischen Rassismus ohne eine psychologische Referenztheorie nicht zu leisten ist.
Auch in der Kapitalismuskritik ließen sich gemeinsame Anknüpfungspunkte beider Gesellschaftskritiken finden, die sowohl auf Umverteilung als auch auf Anerkennung zielen und beides in transformativer Absicht zu verbinden suchen (Fraser 1995). Weitere Ausführungen bedürften jedoch einer intensiveren theoretischen Auseinandersetzung.
Fazit
Mit Blick auf die umrissenen Berührungspunkte lassen sich beide Theoriestränge als genealogische Arbeitsweisen im Sinne „historisierende[r] und machtanalytische[r] Relativierung und Kritik gegenwärtiger Selbstverständnisse“ (Saar 2007: 293) lesen. Trotz der unterschiedlichen Konzeption der Ansätze lässt sich in der Dekonstruktion der durch bestimmte Wissensformationen vermittelten Dominanzverhältnisse ein gemeinsames Ziel ausmachen. Gerade der Rekurs beider Theoriestränge auf Nietzsches Genealogien bzw. die große Bedeutung der Foucaultschen Genealogie für Said sprechen für eine stärkere Beachtung der theoretischen Gemeinsamkeiten. Ein intensivierter Theoriedialog könnte eine kritische Bearbeitung der jeweiligen „blind-spots“ und somit eine Weiterentwicklung ermöglichen: So könnten Möglichkeiten und Gefahren von Identitätskonstruktionen ebenso wie eine genderbewusste Weiterentwicklung psychoanalytischer Grundannahmen zum Gegenstand gemeinsamer Auseinandersetzungen werden. In jedem Fall scheinen theoretische Brückenschläge anstelle dualistischer Gegenüberstellungen gerade in Zeiten regressiver politischer Entwicklungen von besonderer Dringlichkeit.
Literatur
Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max. Dialektik der Aufklärung. In: Max Horkheimer, GS Bd. V. Frankfurt am Main. 1987.
Best, Steven, und Douglas Kellner. Postmodern Theory. Critical Interrogations. London. 1991.
Bruns, Claudia und Hampf, M. Michaela (Hg.). Wissen – Transfer – Differenz. Transnationale und interdiskursive Verflechtungen von Rassismus ab 1700, Göttingen. 2018.
Edthofer, Julia. Gegenläufige Perspektiven auf Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus im postnationalsozialistischen und postkolonialen Forschungskontext. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 2015: 189-207.
Fraser, Nancy. From redistribution to recognition? Dilemmas of justice in a ‚post-socialist‘ age. New Left Review, 1995: 68-93.
jour fixe initiative berlin (JFI) (Hg.). Poststrukturalismus und Kritische Theorie. Theoretische Lockerungsübungen. Berlin, Hamburg. 1999.
Kossek, Brigitte. Begehren, Fantasie, Fetisch: Postkoloniale Theorie und die Psychoanalyse. In: Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Herausgeber: Julia Reuter und Alexandra Karentzos, 51-68. Wiesbaden. 2012.
Mosse, George. Die Geschichte des Rassismus in Europa. Frankfurt (Main): 1995.
Saar, Martin. Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt (Main), New York. 2007.
Said, Edward W. Orientalismus. Frankfurt (Main). 2009.
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- 27/11/2019 - 07:32