Von Lucas Frings

Das Tagebuch, das der 1930 geborene Michael Kraus von 1945 bis 1947 über die Zeit seiner Verfolgung geschrieben hat, ist eine ganz spezielle Form der Holocaustliteratur. Kraus hatte bereits in seinem Wohnort Náchod mit einem Tagebuch begonnen, er führte es nach seiner Deportation nach Theresienstadt fort, bis es ihm bei der Ankunft im KZ Auschwitz-Birkenau abgenommen wurde. Was nun vorliegt sind seine Erinnerungen an die Zeit der Okkupation und seiner Verfolgung sowie an das, was er währenddessen niederschrieb. Kraus nennt es -  im Wissen darum, dass es nicht ganz zutrifft - Tagebuch, bzw. zur Abgrenzung zu seinem ersten, „Tagebuch II“. Vor allem, so schreibt er im Vorwort, habe er gegen das eigene Vergessen geschrieben, aber er denkt auch an Nachkommen, die seine Texte lesen könnten.

Die Veröffentlichung beruht auf der 2013 erschienenen tschechischsprachigen Ausgabe, an der Alena Čtvrtečková über viele Jahre mit Michael Kraus gearbeitet hat. In seinem Vorwort zur Publikation schreibt Kraus 2011 einen bemerkenswerten Satz: „Die Überlebenden waren davon ausgegangen, dass das Wissen von den vernichtenden Folgen des Rassismus im öffentlichen Bewusstsein klar verankert sei und weitere Genozide, ganz gleich wo, verhindern würden. Aber wir haben uns geirrt.“ (S. 10).

Sein Tagebuch besteht aus drei inhaltlich aufgeteilten Heften, die nacheinander zwischen 1945 und 1947 entstanden sind: Theresienstadt und Auschwitz, die Lager und Todesmärsche in Österreich, die Rückkehr nach Náchod. Die Herausgeber*innen – Sascha Feuchert, Klaus-Konrad Leder, Markus Roth und Kristine Tromsdorf – haben zahlreiche Zeichnungen aus dem Tagebuch, etwa von Zählappellen oder Häftlingskleidung oder die Wege seiner Verschleppung übernommen, in denen sich der dokumentarische Anspruch von Michael Kraus zeigt. Mit der Abbildung der Heftumschläge transportieren die Herausgeber*innen auch das Format und die Entstehungsumstände in die uns vorliegende, gesetzte und gedruckte Version.

Eingangs kündigt Kraus an, er wolle sich nicht „in Einzelheiten (…) verlieren“ sondern „(l)ediglich die schlimmsten Tage unter dem Hitler-Regime (…) beschreiben“ (S. 26). Da er seine Zeit im Ghetto Theresienstadt ­­– im Vergleich zu Auschwitz und Mauthausen ­­– als weniger schlimm empfindet, beschreibt er rückblickend nur knapp die Ankunft, die Zeit in den Kinderunterkünften und die dortige Herausgabe einer Zeitschrift sowie einen ganztägigen Zählappell und die stete Angst vor Deportationen gen Osten.

Die Erinnerungen an die Deportation nach Auschwitz und die Ankunft sind bei Michael Kraus 1945 noch sehr wach. Detailliert beschreibt er Ereignisse im Lager, kleinere Interaktionen und seine Emotionen. Wie er mit 49 anderen Menschen die Fahrt im Viehwaggon erlebte, wie er trotz Unterbringung in verschiedenen Blöcken innerhalb des „Theresienstädter Familienlagers“ stets den Kontakt zu seinen Eltern suchte, wie er die Verschlechterung des Gesundheitszustands seines Vaters beobachtete und er sich sicher war, dass er seine Mutter nach ihrer Deportation ins KZ Stutthof „nie, nie wieder sehen würde“ (S.45).

Dadurch, dass er als „Läufer“ – so wurden die 89 Jungen genannt, die in Auschwitz-Birkenau Botendienste verrichten mussten und später als "Birkenau Boys" bekannt wurden – ausgewählt wurde, verlor er auch den Kontakt zu seinem Vater. Dennoch bekommt er mit, wie sein Vater zu Tode gequält wurde.

Noch kleinteiliger sind seine Erinnerungen an das Konzentrationslager Mauthausen und die Außenlager Melk, Gunskirchen und Wels. Hier setzt sich für Michael Kraus ein Zusammenhalt mit anderen Jungen fort, die versuchen, sich, angesichts brutalen Wachpersonals, fürchterlicher Unterkunft und Verpflegung sowie rabiater Mitgefangener, gegenseitig zu unterstützen. Die Freundschaft und Solidarität untereinander hält viele von ihnen am Leben und begleitet Michael Kraus bis zur Rückkehr nach Tschechien.

Bemerkenswert ist das wiederkehrende Motiv der Rache. Teils ist es mit der freudigen Beschreibung von alliierten Fliegerverbänden, die im Frühjahr 1945 über die Lager fliegen und naheliegende Orte bombardieren verbunden. So schreibt Kraus rückblickend: „Täglich flogen sie [Fliegerverbände, Anm. LF] mehrmals über das Städtchen hinweg und warfen in nächster Umgebung Bomben ab. Das war ein schöner Anblick – die Verbündeten, die Rache nahmen, die großen Bomber, die in der Sonne glänzten.“ (S.67) und später – in Erinnerung an seinen Vater – der Appell an sich selbst „Halte durch und räche dich!“ (S.83).

Mit seinem Tagebuch hat der 2018 verstorbene Michael Kraus ein beeindruckendes Zeugnis seiner Verfolgung und des Innenlebens eines Jugendlichen abgelegt. In klarer Sprache sind seine Aufzeichnungen mal Chronik oder Lexikon eines Konzentrationslagers, mal nüchterne Wiedergabe von Abläufen, mal Einblick in seine Emotionen. Die spezielle Form eines frühen, schriftlichen Überlebendenberichts ist selten und faszinierend zugleich. Kraus bringt seine Erinnerungen mehrmals mit Wissen zusammen, das er erst nach seiner Befreiung erlangte, wie etwa den Fortlauf des Krieges, eine Orientierung für die Leser*innen, die den Tagebuchcharakter jedoch nicht verfälscht.

Viele Angaben von Kraus, insbesondere zu einzelnen Deportationen und Kurzbiographien zu Weggefährten haben die Herausgeber*innen akribisch recherchiert und helfen den Leser*innen angesichts der vielen Orts- und Personennamen dem Zeitzeugnis folgen zu können. Es lässt sich erkennen mit wie viel Sorgfalt die Herausgeber*innen sich bemüht haben, das literarische Erbe möglichst unverfälscht zu übersetzen und aufzubereiten.

Michael Kraus: Tagebuch 1942-1945. Aufzeichnungen eines Fünfzehnjährigen aus dem Holocaust, Metropol Verlag 2015, 19€.

 

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