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„Lernort der Demokratie"

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Dr. Wolfgang Beutel ist in der Geschäftsführung des Projektes "Demokratisch Handeln" tätig und Mitherausgeber des Jahrbuchs Demokratiepädagogik. Zudem ist er Mitglied im pädagogischen Expertenkreis des Deutschen Schulpreises und arbeitet als Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin.

Von Wolfgang Beutel

Der Ort - die Ausgangslage

Ein Ort, das ist auf das Erste, aktuell und begriffsnah gelesen ein geographischer Punkt, ein Raum, ein Haus oder eine Institution, an die man gehen kann, in der man sich mit anderen Menschen trifft, um etwas zu tun, in diesem Falle für die Erhaltung und Entwicklung der Demokratie zu lernen und entsprechend umgekehrt auch einen Anlass oder gar Menschen zu finden, die demokratisches Lernen ermöglichen oder fördern wollen und können.

Mit der Perspektive dieses alltagsnahen Sprachverständnisses und im Kontext der Projektentwicklung des Programms "Thüringen 19_19" ist ein Lernort eine exemplarische Institution innerhalb Thüringens - und in der Summe der Orte landesweit verteilt - in denen Demokratie-Lernen engagiert, durch Erfahrung und im Kontext praktischer Lebensverhältnisse ermöglicht und gefördert werden kann. Für das Projekt "19_19" waren das zur Zeit seiner Konzeption die drei institutionellen pädagogischen Bereiche der Schule, der Kita und weiterer Lernorte, die insbesondere Gedenkstätten einbeziehen. Letzteres deshalb, weil diese eine besondere Verpflichtung zur historischen Bezugnahme, zum Gedenken und Erinnern haben. Und ein Anlass des Programms "Thüringen 19_19" ist unter anderem das breite und vielfältige Jubiläumsjahr 2019. Gedenkstätten als Orte der Demokratie sind auch deshalb wichtig, weil - demokratiepädagogisch gewendet - an und in ihnen gelernt werden kann, dass die Erinnerung an undemokratische, totalitäre sowie gewaltsame gesellschaftliche und staatliche Verhältnisse eine Voraussetzung zur Bewahrung von Demokratie ist. Dies gilt deshalb, weil sie die Grenzen markieren, an denen Herrschaft Verbrechen wird und Menschen unterdrückt oder gar getötet werden. 

Aber es bleibt dabei: Der Ort - immer schwingt eine primär räumliche oder gar lokale Bestimmung mit. Ein Lernort heute hat so gesehen eine Adresse. Ein Lernort der Demokratie darüber hinaus eine auf professionelle Standards gründende institutionelle Verankerung als Schule, Kita, Jugendhaus oder Gedenkstätte. Zugleich wissen wir, dass nicht alle auf professionelle Standards und institutionelle Verfassung bezogenen Lernformen primär räumlich zu bestimmen sind. 

Insofern ist für Thüringen 19_19 ein Lernort zunächst und zuerst eine professionelle pädagogische Umgebung, die aus den vorliegenden Erfahrungen der Demokratiepädagogik schöpft oder sich darauf bezieht. Ferner nimmt sie die Zukunft der Demokratie als Herausforderung und Verpflichtung ernst und entwickelt in ihrem eigenen individuellen Umfeld und Kontext Strategien zur Förderung, Weiterentwicklung und Stabilisierung der Demokratie im Generationenverhältnisse wie alle Pädagogik: Jüngere und ältere Menschen lernen gemeinsam und dies in einem Lernverständnis, das demokratische Praxis, öffentliches Engagement sowie möglichst herrschaftsfreie Kommunikation in abwägend-deliberativer Haltung und in der demokratischen Öffentlichkeit einschließt.

Aber auch hier dominiert das in der Moderne tradierte räumliche Verständnis von "Ort". Ein Blick in die Etymologie des Wortes und des dahinterstehenden Begriffs sowie der damit verbundenen Vorstellungen und Erfahrungen vermag den Horizont noch etwas zu öffnen und dazu beizutragen, dass man "Lernorte der Demokratie" in einem die alltäglichen und praxisnahen Lebensverhältnisse erweiternden Sinne konzipieren kann. 

Der "Ort" und seine Etymologie

Der in der deutschen Sprache aktuell normgebende Duden erklärt den "Ort" als "lokalisierbare(n), oft auch im Hinblick auf seine Beschaffenheit bestimmbare(n) Platz [an dem sich jemand, etwas befindet, an dem etwas geschehen ist oder soll". Wenn wir unter Beschaffenheit Aspekte verstehen wie die professionelle berufliche pädagogische Umgebungoder das historische Gewicht und die damit verbundene Aussage eines Gedenkortes, dann trifft diese Bestimmung auch für die "Lernorte" zu.

Diese Bedeutungssuche lässt sich zudem noch erweitern, wenn man die Herkunft des alten und elementaren Wortes und Begriffes "Ort" in den Blick nimmt. Dann ist ein Ort zunächst einmal Schnittpunkt, Ecke, Winkel, scharfe Kante - auch im instrumentellen Sinne noch bis ins Mittelalter und die frühe Neuzeit anwendungsbezogen etwa Messer, Schwerter oder die Ahle des Schusters bis ins 19. Jahrhundert (solange man eben noch Schuster kennt). Orte markieren Schnittstellen, aber auch die Möglichkeit "übereinzukommen", also Lösungen in Konflikten oder im Handel zu erzielen. Dieses Verständnis gilt ebenfalls bis in die Neuzeit in der Wendung "über ort kommen", für z. B. einen Handel abzuschließen, einen Kompromiss zu finden - was im Übrigen auch eine demokratierelevante politische Handlungsnotwendigkeit kennzeichnet. 

Die maßgebliche Bestimmung des Elementarbegriffs "Ort" beschreibt die zentrale Quelle germanistischer Sprachforschung, das GRIMMsche Wörterbuch in Bd. 13 unter dem entsprechenden Stichwort "ort" wie folgt: "der begriff von end- oder anfangspunkt (rand, saum, seite) dehnt sich schon in mhd. zeit aus zum begriffe eines festen punktes oder theiles im raume, eines standpunktes und platzes, einer stelle und stätte (im concreten und abstracten sinne), wobei allerdings noch manchmal der ursprüngliche sinn von spitze, ecke und ende hindurchschimmert" (Grimm, Bd. 13, Sp. 1355) sowie vertiefend: "in von menschen besuchter und benutzter platz, ein platz des öffentlichen verkehrs" (Sp. 1357) und dann: "überhaupt ein bestimmter persönlicher platz bei tische, im kirchenstuhle, in der schule" (Sp. 1358). 

Man sieht, der Begriff des "Ortes" erweitert sich in der Moderne von instrumentell technischen Anwendungsfall und einer problemlösenden Begegnung oder einem zugehörigen Handwerk in den eines zu einer "wohnungsgesamtheit abgeschlossenen raumes oder eines angebauten und bewohnten landtheiles." (Grimm Bd. 13, Sp. 1361).

Jenseits philologischen Wissens verweist diese Begriffsgeschichte auf die Chance, die in diesem Begriff liegt, wenn wir ihn von der alltagsnahen und alltagsbelegten räumlich-lokalen Bedeutung ein klein wenig befreien. Dann sind die Orte der Demokratie beides: einerseits lokale und regionale Thüringer Projekte, meistens auch institutionell und kommunal verankert, andererseits aber eben auch Vereine, Gruppierungen oder Bündnisse, die mit ihrer Begegnung, ihrem Instrument, ihrer Idee und deren pädagogischer Konkretisierung die Entwicklung der Demokratie durch ein tätiges - das meint hier vor allem im Kontext von Engagement und demokratischer Politik angesiedeltes - Lernen kultivieren und dabei nicht unbedingt nur in Tautenhain, Jena oder Apolda zu finden sein müssen, sondern eben im Falle unsers Projektes landesweit in Wirkung stehen. 

Es geht in einer solchen Perspektive um Projekte und Initiativen, die damit zugleich einen über die räumliche Bindung an einen Ort im Bundesland Thüringen herausgehenden und - wenn es besonders gut läuft - exemplarisch ausstrahlenden Charakter erhalten können. Um Beispiele anschaulicher Art zu geben: Mit guten semantischen und sprachhistorischen Gründen ist dann etwa der "Wettbewerb Demokratisch Handeln", das "Bündnis für Demokratie der DeGeDe" oder - wenn es denn im Einzelfall Substanz beweist - das Netzwerk der Schulen SOR/SMC eben nicht nur Programm oder Projekt, sondern ein "Ort der Demokratie".

Unsere bisherige Festlegung und Beschreibung

Im Sachbericht zum ersten Förderjahr des Programms "Thüringen 19_19" formulieren wir das Konzept "Lernorte der Demokratie" wie folgt: "Sie (die Lernorte) sollen im Sinne einer für das Demokratielernen gehaltvollen politischen Bildung und eines demokratischen Lern- und Erfahrungskontextes fachlich und professionell qualifiziert und (…) sichtbar gemacht werden. Ziel ist die dauerhafte Etablierung, die auch für die künftige demokratische und politische Bildung in Thüringen sowohl exemplarische Qualität als auch Anschlussfähigkeit für Innovationen gewährleisten.

Zugleich soll damit das Konzept „Lernort der Demokratie“ als „Marke und Label“ für eine gemeinwesenorientierte und professionell abgesicherte demokratiebildende Entwicklungsqualität etabliert werden, damit das dabei entstehende Netz von „Lernorten der Demokratie“ in Thüringen weiter ausgebaut und an zukünftige Herausforderungen angepasst werden kann. Entscheidend dabei ist, dass der Begriff des "Ortes" nicht primär räumlich, sondern als soziale und kriterienscharf bezogene Umgebung von Lernen durch Handeln und Erfahrung im Kontext demokratischer Kompetenzförderung zu verstehen ist. Hier liegt zugleich ein besonderes, weil innovatives und damit für das Projekt ebenso wie für die Bildungslandschaft in Thüringen exklusives Qualitätsmerkmal. Eine weitere und besondere Qualität des Projektansatzes liegt darin, dass das Vorhaben „Thüringen 19_19“ auf eine umfangreiche und langfristige Zusammenarbeit freier Bildungsträger und außerschulischer Lernorte mit Kindertagesstätten und Schulen zielt. Deshalb braucht es einen breiten Ansatz, der in jeder einzelnen Initiative sowohl deren besondere Qualität entfaltet, zugleich aber in dieser Qualitätsprofilierung auch über die Wirkung im einzelnen "Lernort" deutlich hinausweist. Es geht also um modellhafte Projekte, die auf eine Veränderung der Regelstrukturen zielen.

Dem Projekt liegt dabei ein Bildungsverständnis zugrunde, das formales, non-formales und informelles Lernen verbindet. Bezeichnend ist dann, dass Lernen nicht nur im schulischen Kontext stattfindet, wenngleich dieser zur wichtigen Vermittlung von Grundlagenwissen dient. Auch der außerschulische Bereich sowie der Elementarbereich tragen wesentlich sowohl zum formalen - hier liegt eine der Stärken guter Elementarpädagogik - als auch schwerpunktmäßig zum non-formalen und informellen Lernen bei."

Schon hier haben wir eine solche auf Wirkung, gemeinsam geteilte Standards und Ziele sowie auf Innovation im sozialen Handeln aus bezogene Charakterisierung gewählt. diese wird - mit einem begriffsanalytischen Blick - noch gestärkt und unterstreicht so die besondere Qualität des Konzepts der "Lernorte", das also räumlich und konzeptionell zugleich genutzt werden kann.

                                                                  ***

Man kann deshalb zusammenfassend formulieren: Lernorte der Demokratie sind nicht in erster Linie normierte Häuser und gesellschaftliche Institutionen, sondern vielfältige Ereignisse, die Probleme der gesellschaftlichen Lebenspraxis in unserem Gemeinwesen und darüber hinaus auf demokratischem Wege durch Lernen und Engagement in beispielhafter Weise gestalten. Sie sind gegenwärtig und zukunftsoffen, ein besonderes und Vielfalt generierendes Merkmal einer lebendigen, pluralen und offenen demokratischen Gesellschaft.

Literatur

Dudenredaktion (Hrsg.) (2013): Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim: DUDEN-Verlag.

Grimm, Jacob und Wilhelm (1999): Deutsches Wörterbuch. Bd. 13 - N, O, P, Q. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. 

 

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