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Unterm Messer. Der illiberale Staat in Ungarn und Polen

Sapper, Manfred/Weichsel, Volker (Hg.): Unterm Messer. Der illiberale Staat in Ungarn und Polen. Berlin 2018 (=OSTEUROPA, 3-5/2018), 528 Seiten, 32€.

Von Lucas Frings

In der OSTEUROPA-Ausgabe vom Juli 2018 mit dem Titel „Unter Messer. Der illiberale Staat in Ungarn und Polen“ widmen sich die Autor_innen den Einschränkungen von Gewaltenteilung und Medien, den Regierenden der Länder und dem Verhältnis der beiden Staaten zur EU. In der hier vorliegenden Rezension liegt der Fokus, entsprechend dem Thema der LaG-Ausgabe, auf Ungarn.

Im ersten Beitrag analysiert Ellen Bos, wie die Regierung unter Viktor Orbán kontinuierlich das politische System umstrukturiert hat, wobei am Ende mehr Macht bei der Exekutive liegt. Dazu zählen maßgeblich die Verfassungsänderung 2011 und nachfolgende Änderungen am Grundgesetz, stets mit dem Ziel die Kompetenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit einzuschränken, sowie die Kontrolle der öffentlich-rechtlichen Medien durch das Mediengesetz 2011. Weitere Gesetze zielen ganz offensichtlich auf George Soros und die von ihm gegründete Stiftung und Universität ab. Nicht nur durch Gesetze, auch durch Neubesetzungen von Schlüsselpositionen in Staat, Justiz, Kultur und Medien festigte die Orbán-Regierung ab 2010 ihre Macht. Erhellend ist dabei, wie Fidesz und Orbán bereits ab ihrer Wahlniederlage 2002 die Strukturen für einen solchen Umbau vorbereitetet haben. Als weitere Elemente des „System Orbán“ benennt Bos stimmungsmachende Meinungsumfragen und die Heraufbeschwörung eines permanenten Ausnahmezustandes durch Bedrohungen von innen und außen. Ihre Beschreibung eines zunehmend antipluralistischen und illiberalen Staates bietet eine gelungene Analyse und Grundlage für das gesamte Heft.

An die Meinungsumfragen, sogenannte Konsultationen, und das Feindbild Soros knüpft Peter Frank in seiner Beschäftigung mit Fremdenfeindlichkeit in Orbáns Kampagnen an. So führte die Regierung 2015 eine Umfrage „über Einwanderung und Terrorismus“ durch, 2017 folgte eine „Befragung zum Soros-Plan“. Neben den manipulativ-suggestiven Fragen dienen vor allem die begleitenden Werbeanzeigen, finanziert durch staatliche Gelder, zur Stimmungsmache. Die Themen, Migration und „ausländischer Einfluss“ setzen sich auch im regulären Wahlkampf fort, wie Frank mit Werbeplakaten illustriert.

Im Überkapitel „Elemente“ nehmen gleich mehrere Beiträge einen Vergleich zwischen Ungarn und Polen vor. Kai Olaf-Lang bezeichnet die Parteien PiS und Fidesz als „zweieiige Zwillinge“, mit vielen Parallelen aber auch Unterschieden. So verläuft ihr Umbau von Staat und Gesellschaft unter traditionalistischer und völkischer Argumentation ähnlich, die Demokratie ist für sie eine Mehrheitsherrschaft ohne ausgeprägte Gewaltenteilung und die Sicherung der eigenen Grenzen hat hohe Priorität. Der Erfolg der Fidesz sei auch Vorbild für die PiS in Polen gewesen. Da die beiden Parteien aber auch abweichende Positionen vertreten, etwa hinsichtlich der Russland- und Europapolitik, spricht Lang von einem „souveränistische[n] Zweckbündnis“ (S.77). So fordert Polen zum Schutz vor Russland eine Stationierung von NATO-Truppen auf eigenem Gebiet, während sich Fidesz die Kooperation mit Russland offen hält um der Abhängigkeit von westlichen Staaten vorzubeugen. Zudem will Polen seine Bedeutung in der EU ausbauen, auch in der Rivalität zu Deutschland. Daher, aber auch weil beide Regierungen ihre Interessen vor eine Solidarität stellen dürften, sei nicht von einer „nationalkonservativen Achse in Mitteleuropa“ (S.98) auszugehen.

Durch die Entwicklungen der letzten Jahre sind die Regierungen beider Länder im Europäischen Parlament und in der Europäischen Kommission stark kritisiert worden. Anhand ähnlicher Argumente wie Kai Olaf-Lang skizzieren Piotr Buras und Zsuzsanna Vegh in ihrem Beitrag die unterschiedlichen außen- und europapolitischen Interessen von Polen und Ungarn. Zuvor befassen sie sich jedoch mit der Argumentation hinsichtlich nationaler Souveränität innerhalb der EU und der Zurückweisung von Einflussnahme in die jeweilige nationale Politik. Bereichernd sind die nachgestellten Chroniken über die Einschränkung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in den Ländern und die Reaktion der EU sowie über den EU-Ungarn-Konflikt über Asylpolitik.

Klaus Bachmann und Dominik Héjj vergleichen die „Baupläne aus Ungarn und Polen“ (S.127) beim Umbau der politischen Systeme, deren zentrale Elemente für Ungarn bereits oben genannt wurden, in diesem Beitrag aber etwa hinsichtlich des Justizsystems ausführlicher beschrieben werden. Der Ausbau der auf „konservative Werte gestützten Obrigkeitstaaten“ ist in Ungarn schon weiter fortgeschritten, möglicherweise so Bachmann und Héjj, durch die zeitliche Verteilung der Einschränkungen, während die polnische Regierung „den Marsch in eine illiberale Demokratie sehr viel dynamischer und hastiger angetreten“ (S.146) ist und somit womöglich größeren Widerstand auslöste.

An einer Charakterisierung der ungarischen Politik versuchen sich mehrere Autor_innen dieses Bandes. András Bozóki und Daniel Hegedüs bezeichnen die Regierung als „Hybridregime unter externer Kontrolle“, weder Demokratie noch Diktatur – ein Hybrid. Die Einbindung in die EU und die Wahrung der Grundrechte der Bürger_innen stehe der weitgehenden Auflösung der Gewaltenteilung entgegen. Bozóki und Hegedüs diskutieren Regierungsmischformen, also Theorien hybrider Regime zwischen Demokratie und Diktatur, wie die Demokratur, die Dictablanda, Liberale Autokratie oder Elektoraler Autoritarismus und fragen sich wie das ungarische Beispiel diese Theorien erweitern könnte. Schlussendlich ordnen sie Ungarn der von Fareed Zakaria geprägten „illiberalen Demokratie“ zu.

Die zentrale Person der ungarischen Regierung wird von Gregor Mayer porträtiert. Er zeichnet Orbáns vorgeblich liberale Anfänge in den 1990er-Jahren nach, beleuchtet seine lange bestehenden Männerfreundschaften mit mehreren Oligarchen und zeigt auf, wie sich die politische Taktik des „Zündeln und Konflikte schüren“ (S.196) sowie die Selbstinszenierung als volksnaher Siegertyp durch seine Karriere ziehen. Gerade letzteres zeigt Mayer in der differenzierten Darstellung auch durch ausgewählte Fotografien.

Aus einer anderen Perspektive blickt Felix Eick auf Orbán, über dessen Oligarchenfreund Lórinc Mészáros. Der aufgestiegene Multimillionär ist seit ein paar Jahren der engste Verbündete Orbáns aus der Wirtschaft. Mészáros ist ein Schulfreund Orbáns und fußt seinen Reichtum vor allem Aufträgen, die aus EU-Geldern finanziert wurden. Journalist_innen nehmen sogar an, er lege dadurch Geld für Orbán beiseite, der kein Geld in der Privatwirtschaft verdienen darf. Eick bezeichnet das Vorgehen als Orbáns „personalisierte Herrschaft (...), in der Klientelismus und Patronage eine wichtige Rolle für den Erhalt der Macht spielen“(S.214).

Die nur kurz vor der Veröffentlichung der OSTEUROPA-Ausgabe abgehaltenen ungarischen Parlamentswahlen hat Ellen Bos in einem weiteren Beitrag ausgewertet. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Fidesz vor allem in ländlichen Regionen erfolgreich war und die Opposition sich gegenseitig geschwächt hätte. Dabei geht sie nochmal auf das 2011 veränderte Wahlsystem ein, das größere Parteien bevorzugt. Ein zentraler Grund für den Erfolg der Fidesz-Partei sei der monothematische Wahlkampf über Migration ohne vollständiges Wahlprogramm. Aber auch die von Wahlbeobachter_innen monierte Überschneidung von Wahlkampf und Regierungsinformationen habe die Wahl beeinflusst. Um Bos Ausführungen nachzuverfolgen, sind detaillierte Ergebnisse zu Wahlkreisen und vergangenen Wahlen dem Artikel beigefügt.

Dem in der gesamten Ausgabe etwas unterrepräsentierten Aspekt der ungarischen Wirtschafts(politik) nimmt sich Hella Engerer an und konstatiert dabei strukturelle Schwächen, die trotz umfangreichen Zahlungen aus EU-Töpfen nicht überwunden sind. Durch die hohe Staatsverschuldung sei das Land krisenanfällig. Die Versuche der Orbán-Regierung, das Haushaltsdefizit einzuschränken, sieht Engerer als inkonsistent und kaum vorhersehbar an, womit Ungarn unattraktiv für Investition werde und durch fehlendes Engagement in Wirtschaftsdiversifizierung und Qualifizierung auch an Wettbewerbsfähigkeit einbüße.

Spielt die ungarische Medienpolitik auch in viele andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und politischer Prozesse hinein, widmen sich Péter Bajomi-Lázár und Dalma Kékesdi-Boldog ausschließlich diesem Thema. Die Umformung der öffentlich-rechtlichen Medien zu „Instrumenten der Regierungspropaganda“ (S.273) ab 2010 habe einen großen Schritt Richtung Autoritarismus bedeutet. Dass die wichtigsten Printmedien Orbán-nahen Oligarchen gehören, vergleichen die Autor_innen mit der Situation in den 1980er-Jahren als ein neues Pressegesetz es zur Aufgabe der Presse machte, „’authentische, genaue und aktuelle Informationen zu liefern’“ (S.278) wobei das Monopol und die Kontrolle weiterhin beim Staat blieben. So sei heute die Medienaufsicht ähnlich undurchschaubar und diene lediglich der machthabenden Partei, nur den Eindruck demokratischer Normen versuche man aufrecht zu erhalten.

Dass ab 2010 nicht nur Positionen in Exekutive und Judikative ausgetauscht wurden, sondern auch kulturelle Führungsposten an Fidesz-Getreue wanderten, beschreibt László J. Györi. Dies sei neben ideologischen Fragen auch aus macht- und finanzpolitischen Beweggründen geschehen. Unter anderem die Verlagerung der Kulturfördergeldervergabe an eine rechtskonservative Kunstakademie beschleunigte den unverhohlenen „Elitewechsel“. Auch die Leitung bedeutender Theaterhäuser landesweit gingen an Fidesz- oder sogar Jobbik-Gefolgsleute, die Filmszene wurde durch einen dreijährigen Förderstopp zerlegt oder gefügig gemacht.

In zwei Beiträgen mit Geschichtsbezug nehmen Maciej Górny und Joachim von Puttkamer Vergleiche von Polen und Ungarn in der Zwischenkriegszeit und seit 1945 vor. Obwohl der Erste Weltkrieg für beide Länder unterschiedlich ausging, waren die Lebensbedingungen in beiden Ländern denkbar schlecht, die Demokratie überzeugte viele nicht als politisches System und in einer „nationalen Wiedergeburt“ wurden Freiheitsrechte eingeschränkt und Minderheiten, allen voran Jüdinnen_Juden, angefeindet und ausgegrenzt. Interessanterweise fehlt in der Ausgabe ein ausführlicher Beitrag zu Ungarn während dem Zweiten Weltkrieg. Krisztián Ungváry nimmt zwar einen gelungenen Regimevergleich Horthy/Orbán vor. Für den analytischen Vergleich muss er sich aber auf das Wahlsystem, die Parteidisziplin, die Rolle des Parlaments und das Verhältnis von Politik und Wirtschaft beschränken. Trotz des zunehmenden Horthy-Bezuges der aktuellen Regierung, sieht Ungváry hier keine Systemrestauration, unter anderem durch das Bestehen einer Verfassung bei gleichzeitiger Abwesenheit eines breiten Spektrums von Interessengruppen, das vor 1944 durchaus bestand. Vielmehr sei die Aushöhlung demokratischer Einrichtungen mit russischen Zuständen vergleichbar. Dass in der gesamten Ausgabe die Jobbik-Partei kaum berücksichtigt wird, ist äußerst bedauerlich. Ungvárys kurzer Abriss über deren Verwandlung einer rechtsextremen Gruppierung zu einer links von Fidesz stehenden Partei kann das nicht wettmachen.

Die unterschiedlichen Entwicklungen nach 1945 in beiden Staaten, samt der Ereignisse 1956 mit dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Ungarn und der Befriedung in Polen nach dem Posener Aufstand und der Abwendung einer sowjetischen Intervention betrachtet Joachim von Puttkamer. In seiner ausführlichen Darlegung beginnt er mit der Vorgeschichte ab 1918, lässt die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges einfließen um zu belegen, warum weder der Erfolg von PiS noch Fidesz als unmittelbare Reaktion auf die kommunistische Ära zu lesen ist, sondern sich an dem Geschichtsbild der Parteien erklären lässt. So weisen beide eine Mitverantwortung an der Verfolgung von Jüdinnen und Juden zurück und sehen in den Jahrzenten der Volksrepubliken eine schmerzhaften Verlust nationaler Souveränität, die sich nun wiedererkämpft werden müsse.

Dieser Antikommunismus und der „Mythos von Ungarn als unschuldiges Opfer zweier fremder totalitäter Regime“ (S.435) beschäftigt auch Ferenc Laczó. Anhand von drei neugegründeten ungarischen Geschichtsinstituten zeigt Laczó auf, wie sie versuchen, ein solches offizielles Geschichtsbild zu prägen. Dieses sei abgedroschen keineswegs neu, stoße aber „aufgrund der allgemeinen historiographischen Trends“ (S.445) Richtung Totalitarismustheorie international kaum auf Widerspruch.

Dieser umfangreiche Sammelband – Artikel mit ausschließlich polnischem Bezug blieben hier unerwähnt – liefert eine breite Betrachtung von historischen Prozessen, politischen Analysen und deren Verknüpfung. Durch die Aktualität ist der Band eine der wenigen deutschsprachigen Veröffentlichungen, die die Entwicklungen der letzten Jahre so differenziert und ausführlich wiedergeben und deuten können. Die Frage, worin die Erstarkung des Autoritarismus in beiden Ländern begründet liegt und wie sie weiter voran getrieben wird, zieht sich durch „Unterm Messer“.An einigen Punkten, erklärbarerweise insbesondere zu Gesetzesänderungen der letzten Jahre, gibt es stellenweise Überschneidungen zwischen den Beiträgen. Manche Themen, die ökonomische Situation, Ungarn während des Zweiten Weltkrieges oder die Jobbik-Partei hätten noch ausführlicher behandelt werden können bzw. gut in diesen Band gepasst. Dies soll jedoch nicht die Leistung der einzelnen Artikel und auch ihrer Zusammenstellung schmälern. Eine Stärke ist die große Anzahl an historischen oder regionalen Vergleichen. Trotz des Umfangs der knapp 500 Seiten-starken Publikation, ist keiner der Texte zu ausführlich geraten, Beispiele und Bebilderungen ermöglichen auch Leser_innen ohne Osteuropa-Bezug eine Lektüre. Zudem sind manchen Beiträgen umfangreiche Statistiken oder veranschaulichendes Kartenmaterial beigefügt. 

 

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