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Demokratieentwicklung in Ungarn: BTI Country Report Ungarn 2018

Von Tanja Kleeh

Der Transformations Index der Bertelsmann Stiftung gibt einen Einblick, wie sich Transformationsprozesse in Bezug auf die Demokratieentwicklung, die Marktwirtschaft und das politische System niederschlagen. Der vorliegenden Bertelsmann Stiftungs Transformations Index (BTI) für Ungarn stammt aus dem Jahr 2018. Somit werden Entwicklungen und Daten vom 1.Februar 2015 bis zum 31. Januar 2017 berücksichtigt. Das Bild, das dabei von Ungarn bzw. seinem politischen System entsteht, ist in weiten Teilen deprimierend. Der Transformationsprozess, so der Eindruck nach Lesen des BTI, hat dem Land mehr geschadet als genutzt.

Der Report stellt bereits zu Beginn fest, dass das aktuelle ideologische System der Regierung als „illiberale Demokratie“ bezeichnet werden kann. Diese stellt das nationale Wohl über das der einzelnen Bürger_innen, womit staatliche Einmischung in wirtschaftliche, soziale und kulturelle Angelegenheiten gerechtfertigt werden. Als Folge dieses Regierungsstils, der mit der Person Viktor Orbáns verbunden ist, hat Ungarn erhebliche demokratische Defizite erlitten. Diese werden einzeln im Laufe des Reports detailliert nach dem Prinzip „Ursache und Wirkung“ erläutert. Die breite öffentliche Unterstützung verdankt die ungarische Regierung laut dem BTI der sogenannten Flüchtlingskrise. Das Spielen mit Ängsten, der Zaun an der Grenze zu Serbien und das Referendum über Quoten für Migrant_innen untermauerten die Positionen der Regierung (S.3).

Der BTI hält zudem fest, dass Ungarn von Korruption geprägt ist – „corruption is now systematic and organized by the state“ (S.4). Es werden Gesetze zu Gunsten einzelner Personen und Firmen verabschiedet, Politiker_innen – insbesondere Angehörige der Fidesz – müssen keine Strafverfolgung fürchten, während sie auf mehr oder minder legalen Wegen ihr Vermögen vermehren.

 

Eine große Stärke des BTI über Ungarn ist, dass zur Einführung die Geschichte und Charakteristika des Transformationsprozesses dargestellt werden. Diese ermöglichen die Einordnung und Kontextualisierung der vorgestellten Ergebnisse. So wird etwa darauf hingewiesen, dass es Ungarn nach dem Systemwechsel 1989/90 gelang, ein stabiles, demokratisches Parteiensystem zu etablieren, „characterized by alternating governments of either center-right or socialist-liberal coalitions that were largely sustained over their full terms of office“ (S.4). Auch die Rolle des Landes sowie die Folgen für Ungarn in Bezug auf größer Ereignisse, wie etwa die Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008, werden beleuchtet.

Die Transformation wird in zwei Bereiche – politische und wirtschaftliche Transformation – aufgeteilt. Die jeweiligen Unterbereiche werden detailliert ausgeleuchtet und mit einem Score, der von eins bis zehn reicht, bewertet. Dabei werden Veränderungen seit dem Jahr 2006 bis ins Jahr 2018 berücksichtigt. Für die politische Transformation sind die Unterbereiche Staatlichkeit, politische Teilhabe, Rechtsstaatlichkeit, die Stabilität politischer Institutionen sowie politische und soziale Integration untersucht worden.

Wie diese Untersuchung genau aussieht zeigt besonders das Beispiel der Rechtsstaatlichkeit. Zum einen Verzeichnen die Untersucher_innen der Bertelsmann Stiftung einen deutlichen Rückgang der Gewaltenteilung. Im Jahr 2006 noch mit dem Bestwert zehn bewertet, gibt es nur noch eine fünf. Die Gründe hierfür werden nachvollziehbar und detailliert dargelegt. Die Exekutive habe sich selbst Freiheiten zur Regierungskontrolle garantiert, welche sie jetzt im eigenen Interesse und im Interesse der Machthabenden sowie deren Verbündeten nutze. Es sei laut den Verfasser_innen sogar so weit gekommen, das seit 2017 die „uniquely powerful“ (S.11) Exekutive eng mit Geschäftskreisen zusammenarbeite. Abhängigkeiten der Exekutiven sind somit nachgewiesen. Etwas anders sieht es bei der Judikative aus, die von den Autor_innen als weitgehend unabhängig betrachtet wird – auch wenn Entscheidungen natürlich von Seiten der Politik beeinflusst werden. Allerdings erfülle die Judikative noch immer ihre Rolle in der Gesellschaft und treffe auch Entscheidungen gegen die Regierung. Dies ist umso bemerkenswerter betrachtet man die Tatsache, dass zum Zeitpunkt des Reportes die Mehrheit des Verfassungsgerichtes aus Regierungsanhänger_innen bestand.

Negativ bewertet wird hingegen die Entwicklung bezüglich der Korruption im Land. Zwar werden generell solche Fälle verfolgt, jedoch hat die Regierung Einfluss darauf, welche Fälle verfolgt werden. Ähnliches gilt für die Bürgerrechte. Zwar sind sie rein formell durch das Gesetz geschützt, bei der Durchsetzung jedoch gibt es Probleme.

 

Die wirtschaftliche Transformation wird anhand von sieben Unterbereichen erläutert: Level der sozioökonomischen Entwicklung, Organisation des Marktes und Wettbewerb, Währung und Preisstabilität, Privateigentum, Wohlfahrtsstaat, wirtschaftliche Leistung und Nachhaltigkeit. Das Beispiel der Nachhaltigkeit ist besonders eindrucksvoll, da das Land hier gegenüber 2006 (neun Punkte) im Jahr 2018 deutlich verloren hat (sechs Punkte). Gerade Nachhaltigkeit in Bezug auf die Umwelt wird von der ungarischen Regierung nicht als Priorität behandelt, was unter anderem im EU-Vergleich deutlich wird: „Hungary is performing worse than the EU average regarding resource productivity (how efficient the economy usesmaterial resources to produce wealth)“ (S.25).

 

Neben der ausführlichen Betrachtung und Bewertung des Transformationsprozesses gibt es noch die Analysekategorie „governance“. Hierbei werden hauptsächlich strukturelle Aspekte erläutert und analysiert. Als Unterkategorien sind Lenkfähigkeit, Ressourceneffizienz, Konsensbildung und internationale Kooperation aufgeführt. Insbesondere der Blick auf letztere Kategorie lohnt, denn auch hier bescheinigt der BTI Ungarn einen erheblichen Abbau. Noch im Jahr 2006 bewertete die Bertelsmann Stiftung die internationale Kooperation mit neun, jetzt nur noch mit sechs Punkten. Internationale Unterstützung wird primär zum eigenen Vorteil genutzt. Zudem steht Ungarn bzw. die ungarische Regierung, bedingt durch sein Handeln und Vorgänge im Transformationsprozesse, unter Beobachtung durch die Europäische Union (S.36).

Insgesamt bietet der BTI Länderreport eine ausführlichen Bericht über die momentane politische Lage in Ungarn. Durch seine detaillierte Ausarbeitung ist er jedoch mehr als Hintergrundinformation geeignet, als um einen kurzen Überblick zu gewinnen. Zudem ist es von Vorteil, sich mit politikwissenschaftlichen Analysen bzw. den entsprechenden Analysenkategorien bereits einmal auseinandergesetzt zu haben, da diese wie selbstverständlich angewandt werden. Aber auch Laien können, vor allem bei der gezielten Auswahl eines Themas, gut mit dem Index arbeiten.

Der fast vierzig Seiten umfassenden BTI ist bei der Bertelsmann Stiftung online verfügbar (auf Englisch). Insgesamt sind 129 Länder untersucht worden, auf deren Berichte zugegriffen werden kann.

 

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