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Lassen Sie die Kirchenbücher zu! Kommentar zur Demontage Wolfgang Seiberts, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, im Spiegel

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Einleitung

Ende Oktober trat der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, Wolfgang Seibert, von seinem Amt zurück, "um weiteren Schaden abzuwenden" (Pinneberger Tageblatt online, 26.10.2018). Eine Woche zuvor hatte Der Spiegel in einem mehrseitigen Artikel berichtet, dass Seibert kein Jude und seine Erzählungen über eine jüdische Großmutter erfunden seien, und bezeichnete ihn auf Grund von Betrugsdelikten in der Vergangenheit als Betrüger und Hochstapler (DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018). Die Jüdische Gemeinde Pinneberg ist eine von sechs Gemeinden im Landesverband Jüdischer Gemeinden von Schleswig Holstein, der den Sachverhalt prüft und auf die Stellungnahme des Anwalts von Wolfgang Seibert verweist. RA Alexander Hoffmann empfahl Seibert, sich selbst vorerst nicht zu den Vorwürfen zu äußern, denn "[e]s besteh[e] kein Interesse an einer öffentlich geführten Debatte über die Frage, wer legitimes Mitglied einer jüdischen Gemeinde sein darf und wer nicht." 

Zu diesem Punkt schrieb Rosa Fava kurz vor der Rücktrittserklärung einen Kommentar, der das Vorgehen des Spiegels einer Kritik unterzieht. Mit der Ignoranz gegenüber jüdischen Institutionen, so die Autorin, inszeniert sich das Magazin als rechtschaffener Tabubrecher: Nach dem Holocaust dürfe man als nichtjüdischer Deutscher keinesfalls nachfragen, ob jemand tatsächlich Jude sei, so die Behauptung im Spiegel. Indem der Spiegel dies gemäß seiner Begründung im Interesse der Wahrheit dennoch tue, setze er sich öffentlich über Lehren aus der Geschichte hinweg. Dies kennzeichnet die Autorin als wesentliches Element des sekundären Antisemitismus: die Überwindung von Restriktionen, die sich aus der Verantwortung für den Mord an der jüdischen Bevölkerung Europas ergeben. 

In der Einführung erwähnte Materialien zur Diskussion um Wolfgang Seibert:

Zum Rücktritt Seiberts: https://www.shz.de/lokales/pinneberger-tageblatt/vorsitzender-der-juedischen-gemeinde-pinneberg-wolfgang-seibert-tritt-zurueck-id21444302.html

Presserklärung der Jüdischen Gemeinden Schleswig-Holsteins: http://lvjgsh.de/data/documents/LV-Seibert-26.10.18.pdf

Erklärung des Rechtsanwalt von Wolfgang Seibert: http://lvjgsh.de/data/documents/Erklaerung-fuer-Wolfgang-Seibert.pdf

Kommentar zur Demontage Wolfgang Seiberts, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, im Spiegel

Von Dr. Rosa Fava

"Wer jüdisch ist, entscheidet die Jüdische Gemeinde und nicht der Spiegel"[1], lautet der Kommentar eines Mitglieds der Jüdischen Gemeinde Pinneberg auf die Enthüllungsstory des Spiegels (Nr. 43 / 20.10.2018), ihr seit 2003 amtierender Vorsitzender Wolfgang Seibert sei kein Jude und seine Vorfahren keine Holocaustüberlebenden.[2]Ähnlich beim Landesverband Schleswig Holstein: „Jüdisch oder nicht-jüdisch: Das entscheiden nicht Redakteure, sondern Rabbiner.“ Wolfgang Seibert ist kein Unbekannter, sondern angesichts seiner vielfältigen politischen und kulturellen Aktivitäten eine bekannte Persönlichkeit. Auch wenn der Spiegel zu wissen angibt, was sich "seit den Nürnberger Gesetzen" (S. 77) gehöre, wollte er die Entscheidung, wer jüdisch sei, die doch „allein bei den Vertretern des Judentums“ liege (ebd.), nichtsdestotrotz lieber selbst treffen und machte daraus ein fünfseitiges Dossier, irgendwo zwischen Forschungsbericht, Kriminalroman und moralischer Lektion. Kirchen- und Hausstandsbücher sowie Aussagen von Bekannten Seiberts sind die Hauptquellen. Anstatt sich mit den Unterlagen, die zu belegen scheinen, dass Seibert sich nicht vorhandene jüdische Vorfahren erdacht hat, vertraulich an den Landesverband oder andere jüdische Instanzen zu wenden und ihnen den Umgang mit den Informationen zu überlassen, ließen die Autoren Doerry und Gerlach unter dem Titel „Der gefühlte Jude“ die Bombe platzen. Seit der Veröffentlichung erscheinen weltweit Artikel zum Thema. Dies ist zwar der Job von Journalist_innen und Jews are newswie sex sells, aber welche Intention die Autoren hatten jenseits einer "Generalabrechnung" mit Seibert (Jean-Philipp Baeck in der taz), geht aus dem Artikel nicht hervor.

Um "die Wahrheit" (S. 79) und die Aufdeckung der Täuschung der „in Deutschland lebenden Juden (und alle[r] anderen Menschen ebenso)“ (S. 77) gehe es ihnen. Mit der öffentlichen Demontage Seiberts schaden sie aber gerade den Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, die nun unter öffentlicher Beobachtung mit dem Schrecken und allen Folgen umgehen müssen. Und die Autoren führen passend zum kommenden 80. Jahrestag der Reichspogromnacht in Zeiten eines massiven Erdrutschs nach rechts vor, folgt man ihrer Erzählung, dass "nicht jüdische Deutsche" sich nun nicht mehr in imaginierte Zwänge und Verbote zu fügen brauchen, sondern zum Wohle aller selbst bestimmen, wer als Jude leben, auftreten und handeln darf. Die mehrfache Bezugnahme auf allgemeine, aus den nationalsozialistischen Verbrechen resultierenden Handlungsmaximen geben der Geschichte eine über den Einzelfall hinausweisende Bedeutung und erscheinen als Schritt zur Neujustierung des jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses: Wer jüdisch ist, bestimmt der Spiegel. 

Antisemitische Topoi

Bemerkenswert ist, wie sehr der Artikel, der Unrecht gegenüber einer jüdischen Gemeinde entgegenzutreten vorgibt, tatsächlich vor Antisemitismus nur so strotzt. Bereits Jean-Philipp Baeck weist in der taz auf eine Reihe klassischer Topoi und Mechanismen hin: Geld ist zentrales Thema, aber nicht nur, weil Seibert in früheren Lebensabschnitten zum Teil große Beträge veruntreut dafür eine Gefängnisstrafe verbüßt hat. Stattdessen wird suggestiv angemerkt, dass er als Gemeindevorsitzender über sehr viel Geld verfüge. Die Passage liest sich so, als würden jüdische Gemeinden hohe und ständig wachsende Unsummen an öffentlichen Geldern beziehen, deren Verbleib niemand, gerade einmal der Landesrechnungshof zu prüfen befugt sei (S. 79). Fast schon jenseits der allgemeinen Gesetzgebung führen jüdische Gemeinden aus unseren Steuergeldern ein Eigenleben, so der leise Hinweis für diejenigen, die für antisemitische Codes empfänglich sind. Sogar Seiberts Partnerin wird angeführt, die als Betreiberin eines Pflegedienstes in der laut Seibert überalterten Gemeinde Kaffeekränzchen organisiere und so einen „Vorteil“ aus Seiberts Amt ziehe, der demnach wiederum Vetternwirtschaft betreibt, so ein weiterer Code. Steinwürfe gegen das Gemeindehaus werden im Artikel heruntergespielt und so Antisemitismus geleugnet – auch kein Gefallen, den die Autoren der Gemeinde tun. Leicht recherchierbare Angriffe auf Seibert bis hin zu Morddrohungen werden gar nicht erwähnt; sie lassen sich vielleicht nicht ganz so leicht umdeuten zu etwas, woraus Seibert „profitiert“ (S. 78) und einen nach Meinung der Autoren solch hohen persönlichen Gewinn zieht, wie den Besuch des Innenministers des Landes (S. 79). Als „raffiniert“ und „geschickt“ wird Seibert beschrieben (S. 74, 77), und auch andere Anspielungen lassen sich finden. Bemerkenswert ist, dass solche klassischen antisemitischen Figuren dennoch Anwendung finden, auch wenn die Autoren gerade nachweisen wollen, dass es sich bei Seibert gar nicht um einen Juden handele. Allein das Sprechen über Juden_Jüdinnen, so scheint es, triggert traditionelle Denkmuster.

Diskreditierung von Antifaschismus

Auch Antiziganismus und Rassismus sowie plattes Linkenbashing finden sich im Artikel: Eine Zeit lang hat Seibert sich anscheinend als Sinto oder Rom präsentiert, und die Autoren schreiben von einem „verwegenen Habitus“ und „wilder Musik“ nicht als Projektionen, sondern als Realität (S. 78). „Kurdendemonstrationen“ wählen sie als Ausdruck für nicht näher definierte politische Proteste wahrscheinlich gegen das gewaltsame Vorgehen der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung, an denen Seibert sich in seiner Funktion als Vorsitzender beteiligte (S. 79). Die Autoren reduzieren dies zu „Solidarität mit der Terrororganisation PKK“ (ebd.). „G-20-Proteste, Kurdendemonstrationen – er mischt immer mit, wenn es irgendwo Krach gibt“, heißt es bewusst entpolitisierend unter Heraufbeschwörung des Bilds vom linken Chaoten, und weiter leicht süffisant: „Er ist gern gesehener Gast in den autonomen Zentren der Republik, in der Roten Flora in Hamburg oder im Leipziger Conne Island. ‚Ich bin immer noch militant‘, verriet er 2013 in der ‚taz‘ im Interview. Für seine politischen Aktionen habe er die ‚Rückendeckung der Gemeinde‘.“(Ebd.) Mit „Freunde[n] vom schwarzen Block aus Hamburg“, die er zum Schutz der Gemeinde „anheurere“ (S. 74), so wurde schon in der Einleitung markiert, handele Seibert an der Grenze der Legalität. Evangelische Gemeinden und Medien kommen im Artikel auch nicht gut weg, da sie Seibert „hofieren“ (ebd.) würden, deutlich ist aber, dass vor allem die Nähe zur vielfach lächerlich gemachten Linken und zum Antifaschismus den Autoren als etwas erscheint, was zur Diffamierung Seiberts beiträgt. 

Antisemitismus wegen Auschwitz

Zentral ist aber der sekundäre Antisemitismus, der manchmal so genannte „Antisemitismus wegen Auschwitz“. Leitmotiv des Artikels ist die Denkfigur, als Jude sei man „unangreifbar“. Eine dreiste, den allgegenwärtigen Antisemitismus negierende Lüge: „Wer sich einmal hinter den Schutzschild einer – vermeintlich – jüdischen Identität flüchten kann, darf damit rechnen, unangreifbar zu sein. Eine Gesellschaft, die zu Recht wegen des grassierenden Antisemitismus besorgt ist, würde wohl kaum etwas strenger ahnden als den Rufmord an einem unschuldigen jüdischen Mitbürger.“(ebd.) Ein „Schutzschild einer jüdischen Identität“ und eine Unangreifbarkeit zu behaupten, ist zynisch. Mit dem letzten Teil des Satzes bereiten die Autoren sich gewissermaßen einen eigenen Schutzschild: Da die Gesellschaft es strengstens ahnden würde, würden sie „Rufmord an einem unschuldigen jüdischen Mitbürger“ begehen, kann ihr Angriff auf einen Unangreifbaren nur einen Schuldigen treffen. 

Gleich zwei Mal sprechen die Autoren davon, dass es eine „geradezu unangreifbare Identität“ gebe, „die Zugehörigkeit zum Judentum“. (S.79) Warum sie diese angreifen, wollen sie gut begründen. Ausgehend von der Entscheidung von Rabbinern, Seibert sei jüdisch, stellen sie ostentativ selbstreflexiv ein moralisches Dilemma dar: „Unter normalen Umständen wäre die Geschichte an dieser Stelle zu Ende, weil sich für nicht jüdische Menschen jede weitere Nachfrage verbietet. Spätestens seit den Nürnberger Gesetzen, mit denen die Nazis Menschen jüdischer Herkunft stigmatisierten, hat es die nicht jüdischen Deutschen nicht zu interessieren, ob jemand nach den Regeln der Orthodoxie Jude ist oder nach den Regeln der Liberalen: Wenn er sich als solcher empfindet, so liegt die Entscheidung allein bei den Vertretern des Judentums.“ Hier wird ein Absatz gesetzt, eine Denkpause markiert, die den folgenden Einwand als umso wohlüberlegter erscheinen lässt: „Eine Ausnahme allerdings muss gelten: Wenn nämlich ein nicht jüdischer Deutscher sich eine jüdische Identität erschwindelt und damit die in Deutschland lebenden Juden (und alle anderen Menschen ebenso) täuscht. Und wenn er sich dabei dann auch noch einer Legende bedient, die ihn zum Nachfahren von Holocaust-Überlebenden macht.“ (S. 77)

Ins Auge springt zunächst die Verharmlosung der Nürnberger Gesetze zu einer „Stigmatisierung“, wie auch der Holocaust kein einziges Mal genannt wird, außer wenn es um die Erfindung von Shoahüberlebenden als Vorfahren geht, um Unwahrheit. Wie schon in der gehaltlosen Behauptung, die Gesellschaft würde „kaum etwas strenger ahnden“ als die Schädigung eines Juden oder einer Jüdin, verweisen die Autoren mit ihren Begriffen und Formulierungen wie „etwas verbietet sich“ oder „hat nicht zu“ auf ein quasi absolutes Gesetz einer metaphysischen Instanz. Sie formulieren allgemeine ethische Handlungsmaximen jenseits des Einzelfalls. Die im Spiegel postulierten ehernen Gesetze als Konsequenz aus dem Unrecht der Nürnberger Gesetze sind dabei keine Gebote, sondern Verbote für nichtjüdische Deutsche, deren Freiheit eingeschränkt werde. Die Autoren sehen keine Freiheit darin, Kirchenbücher, die im Nationalsozialismus vielfach Grundlage für Deportationslisten wurden, geschlossen zu lassen, wenn sie wissen wollen, ob jemand Jude ist. Daher finden sie ethische Prinzipien, die selbst den Lehren aus der Geschichte übergeordnet sind: das Allgemeinwohl und die Wahrheit. 

Hier wird ein typischer Mechanismus des sekundären Antisemitismus deutlich: Einsichten, die aus der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik folgen, werden als Zwang, der einem auferlegt sei, die eigene Handlungsfreiheit beschränke und machtlos gegenüber Juden_Jüdinnen mache, erfahren. Überall Verbote und jüdische Vertreter, die mehr dürfen als man selbst, dazu noch entscheiden, wer jüdisch ist. Überall die „Angst“, „mit kritischen Bemerkungen gleich als Antisemit zu gelten“, oder „Angst vor Scherereien“ (S. 79). Dies fordert zum Widerstand heraus, um das Machtverhältnis umzukehren und sich dabei ins Recht zu setzen. Als nichtjüdische_r Deutsche_r muss man um der Wahrheit willen die Kirchenbücher öffnen. Widerstand gegen auf Juden projizierte Zwänge, Unfreiheit und Macht sind essentieller Bestandteil des antisemitischen Ressentiments. Sekundär bedeutet: Die klassische Projektion jüdischer Macht, der man angeblich unterworfen sei, lebt weiter, und gerade der Holocaust wird als Ursprung der Macht gesetzt. Das schlechte Gewissen wird externalisiert und in der Figur des kontrollierenden Juden personifiziert. 

Nichtjüdische Selbstermächtigung

Der Spiegel betreibt mit dem Artikel die Selbstermächtigung nichtjüdischer Deutscher gegenüber einer gefühlten jüdischen Autorität als Widerstand gegen Handlungsmaximen, die sich aus der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ergeben und als Unfreiheit empfunden werden. Quintessenz ist: Wir trotzen den (gefühlten!) Beschränkungen nach Auschwitz, und wer Jude ist, entscheiden wir. Die Welt soll das wissen. 

Zum Thema Konversion heißt es zwei Mal, es sei zu einer unbestimmten Zeit wie im „Wilden Westen“ gewesen: „[Rabbiner] Rothschild erinnert sich mit gemischten Gefühlen an die vielen Konversionen der ersten Jahre. Manchmal sei es schon wie im Wilden Westen zugegangen, nicht immer habe man so gründlich prüfen können wie vorgeschrieben.“(S. 76). Es gibt also für wahrheitsliebende Zeitgenoss_innen zum Wohle aller noch viel aufzudecken. Besser ist: Lassen Sie die Kirchenbücher zu, wenden Sie sich an die nächstgelegene jüdische Autorität, und ja genau, wegen jener zwölf Jahre.


[1] Pinneberger Tageblatt 23.10.2018, https://www.shz.de/21418872.

[2] Taz 21.10.2018, http://www.taz.de/Vorwuerfe-gegen-Vorsitzenden/!5544665/.

 

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