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„Gemeinsam erinnern für eine gemeinsame Zukunft“

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Kathrin Freier-Maldoner ist pädagogische Mitarbeiterin für das außerschulische Arbeitsfeld bei Tandem und zuständig für die Koordinierung des Schwerpunktes. Thomas Rudner ist Leiter des Koordinierungszentrums Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch – Tandem.

Von Kathrin Freier-Maldoner und Thomas Rudner

Das Koordinierungszentrum Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch – Tandem ist seit seiner Gründung im Jahr 1997 bundesweit die zentrale Fachstelle für den Jugend- und Schüler_innenaustausch mit Tschechien. Tandem fördert den deutsch-tschechischen Jugendaustausch aus Mitteln des Kinder- und Jugendplans des Bundes. Tandem unterstützt Fachkräfte der Jugendarbeit, Lehrkräfte, Erzieher_innen und Jugendliche mit Interesse am Nachbarland, leistet Hilfestellung bei der Partner_innensuche in Tschechien und berät bei inhaltlichen Fragen. Tandem Regensburg ist eine Einrichtung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die Trägerschaft liegt beim Bayerischen Jugendring. Das Partnerbüro Tandem Pilsen ist eine Einrichtung des tschechischen Ministeriums für Schulwesen, Jugend und Sport und der Westböhmischen Universität angegliedert.

Neuland in der jugendpolitischen Zusammenarbeit

Nur wenige Jugendliche beschäftigten sich bisher in ihrem deutsch-tschechischen Austausch mit historischen Themen. Besuche an Gedenkstätten finden häufig nicht in einem bilateralen, sondern in einem rein nationalen Kontext statt. Gerade der internationale Austausch eröffnet aber die einzigartige Möglichkeit, Perspektiven zu wechseln, die eng verwobene Geschichte der Nachbarländer zusammen zu betrachten und über aktuelle Fragestellungen in einem gemeinsamen Europa zu sprechen. Aus diesem Grund ebnete Tandem einen neuen Weg für Jugendliche aus beiden Ländern, wie sie sich intensiv mit Geschichte und Zukunft auseinandersetzen können. In Kooperation mit Vertreter_innen von Jugendverbänden und Gedenkstätten erschloss Tandem seit 2008 Erinnerungsarbeit als neues Lernfeld für den deutsch-tschechischen Austausch. Ab dem Jahr 2012 trafen sich Mitarbeiter/-innen der KZ-Gedenkstätten Ravensbrück, Sachsenhausen und Flossenbürg, des Max-Mannheimer-Studienzentrums Dachau, von DoKuPäd Nürnberg sowie der Gedenkstätten Terezín/Theresienstadt und Lidice im Rahmen einer Arbeitsgruppe, um für den außerschulischen und schulischen bilateralen Austausch Handreichungen zu entwickeln. Ergebnisse dieser Arbeit sind die von Tandem herausgegebene Publikation „Gemeinsam auf dem Weg zur Erinnerung. Materialien und Methodenbausteine für deutsch-tschechische Erinnerungsarbeit“ sowie die in Kooperation mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V., der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk entstandene Publikation „Wegweiser zur Erinnerung. Informationen für Jugendprojekte in Gedenkstätten der NS-Verfolgung in Deutschland, Polen und Tschechien“. Unmittelbar vor dem Erscheinen der beiden Publikationen (im Jahr 2013 bezogen die Koordinierungszentren das erprobte Format des Jugendtreffens erstmals auf ein Thema der historisch-politischen Bildung. Im April 2014 fand das neunte große Deutsch-Tschechische Jugendtreffen mit über 100 Jugendlichen in Terezín/Theresienstadt statt. Tandem erweiterte bzw. festigte damit nicht nur den Kreis der Kooperationspartner, sondern zeigte eindrücklich, welche Zugänge und Methoden zum Thema im deutsch-tschechischen Jugendaustausch möglich sind. Die Erfahrungen gerade aus dieser Veranstaltung flossen in die anschließende intensive Befassung mit Erinnerungsarbeit und aktueller politischer Bildung in den Gremien der deutsch-tschechischen jugendpolitischen Zusammenarbeit ein. 

Auftrag und Auftakt

Von diesen wurden die Koordinierungszentren damit beauftragt, in den Jahren 2017-2019 einen Fokus auf die Themen „historisch-politische Bildung“ und „politische Bildung“ für deutsch-tschechische Jugend- und Schüler_innenbegegnungen zu legen. Zielsetzung ist, mit Hilfe dieses Schwerpunktes die Jugendarbeit inhaltlich zu erweitern, neue Träger für den Austausch zu gewinnen und die Zahl an Begegnungen zu steigern. Der Auftakt unter dem Motto „Gemeinsam erinnern für eine gemeinsame Zukunft“ erfolgte im Februar 2017 bei einer dreitägigen Veranstaltung in Berlin für Fachkräfte der Jugendarbeit, Lehrer_innen und Vertreter_innen von Gedenkstätten und aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich. Das Auftakttreffen diente in erster Linie zur Ermittlung des Bedarfs auf diesem breiten Feld. Diesen deckte Tandem in der Folge über Fortbildungen, bei denen die Teilnehmenden unter Einbeziehung von Gedenkstätten und zivilgesellschaftlichen Kooperationspartnern fachliches und methodisches Wissen zum Schwerpunktthema mitnehmen konnten. Es wurde eine begleitende Arbeitsgruppe mit Wissenschaftler_innen, Vertreter_innen von Kooperationspartnern und Menschen mit direktem Praxisbezug eingerichtet. Beim dreitägigen Fachforum im April 2018 in München setzten sich die Fachkräfte und Lehrer_innen in Workshops, Projektpräsentationen und Referaten mit einzelnen Themen auseinander, die dem Fokus zuzurechnen sind, und lernten Kooperations- und Projektpartner kennen. Die Dokumentation dieses Fachforums mit mehr als 100 Beteiligten aus der Bundesrepublik und aus der Tschechischen Republik ist unter http://gemeinsam-erinnern.eu/downloads/ nachzuschlagen. 

Begegnungen entstehen

Vieles ist seit dem Auftakt entstanden. Einen Eindruck geben die Jugendbegegnungen, die Tandem fördern konnte. Tandem Regensburg fördert im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus Mitteln des Bundes. Konkret geht es dabei um außerschulische deutsch-tschechische oder trilaterale Jugendbegegnungen und Fachkräfteprogramme, die von Trägern der Jugendarbeit angeboten werden. Das Sonderprogramm “Gemeinsam erinnern für eine gemeinsame Zukunft ist“ mit 100 000 € pro Kalenderjahr ausgestattet. Bereits in der Förderung aktive Träger nahmen dieses Angebot dankend an. Sie setzten erstmals Themen des Schwerpunkts in ihrem Austausch um, neue Träger kamen hinzu. Innovative Ausdrucksformen fanden Eingang in die Befassung mit historisch-politischer Bildung im Austausch: Über Tanz, Kunst, Sport oder z.B. eine Spurensuche wurden Jugendliche und Vertreter_innen von Jugendorganisationen angesprochen: 

  • So brachten der Bayerische Jugendring und das Muzeum romské kultury (Museum der Kultur der Roma) in Brno, das auch für die Gedenkstätte für den Roma-Holocaust in Hodonín u Kunštatu zuständig ist, Fachkräfte der Jugendarbeit aus Bayern und Tschechien zusammen, die sich mit dem Thema der Erinnerung an den Roma-Holocaust auseinandersetzten und die Herausforderungen an das Erinnern und Gedenken in der internationalen Jugendarbeit erarbeiteten.

  • Die Multiplikator_innenschulung „Rechtspopulismus begegnen“ der Partner djo - Deutsche Jugend in Europa in Berlin und Arabela Liberec hat zum Ziel, Jugendleiter_innen im Grenzgebiet zu stärken, wenn es um die Themen Extremismus und Rechtspopulismus geht.

  • Wie man sich künstlerisch-kreativ einem historischen Ort wie der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg nähern kann, erlebten Jugendliche aus beiden Ländern beim Tanzworkshop „Formen finden – Geschichte erfahren – Erinnerung gestalten“. Ausgangspunkt des fünftägigen Workshops war Kunst als Überlebensmittel der Häftlinge im Lager, konkret von Bildern und Zeichnungen der ehemaligen Häftlinge des KZ Flossenbürg Miloš Volf (1924-2012), Eliane Jeannin-Garreau (1911-1999) und Richard Grune (1903-1983). Der Tanzpädagoge Alan Brooks unterstützte die Jugendlichen dabei, die Emotionen und das Wahrgenommene tänzerisch auszudrücken. Partner waren bei diesem Projekt die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und der tschechische Verein „A Basta!“.

  • Der Jugendclub Burgwedel in Hamburg und Proxima Sociale in Prag bringen junge Menschen aus beiden Städten im Projekt „Zusammen in Europa – aus der Geschichte lernen“ zusammen. Sie beschäftigen sich mit der Fragestellung, warum Menschen aus ihrer Heimat flüchten, welche Träume und Wünsche sie hatten und haben, aber auch wer von ihrem Schicksal profitiert. Die Jugendlichen kamen ins Gespräch mit Flüchtlingen und konnten Fragen stellen und sich austauschen.  

  • Am Beispiel der deutsch-jüdischen Familie Getreuer im Böhmerwald begaben sich Jugendliche auf die Suche nach Spuren antisemitischer Ausgrenzung infolge der nationalsozialistischen Annexion des Grenzlandes im Jahr 1938. Die Themen zu Flucht und Vertreibung setzten sie in einer Theater- und Tanzperformance vor Ort um und nutzten die Kunstsprache Čojč zur sprachlichen Verständigung. Diese Sprache wurde von den Partnern des Projektes, der Čojč GmbH und „A basta!“ entwickelt.

  • Einen sportlichen Zugang zu Themen wie jüdisches Leben und Zwangsarbeit wählten Tüpfelhausen – Das Familienportal in Leipzig und der tschechische Sportverein SK Hakoach in Prag. Die Jugendlichen spielten nicht nur auf dem Fußballplatz zusammen, sondern setzten sich auch intensiv mit dem jüdischen Leben in Leipzig auseinander. 

Kooperationen erweitern sich, Projekten wachsen aus Ideen

Neben den Beispielen bisher geförderter Projekte sind auf den von Tandem angebotenen Veranstaltungen neue Entwicklungen für die deutsch-tschechische jugendpolitische Zusammenarbeit angestoßen worden:

Das bisherige Netzwerk in der Zusammenarbeit zu den Gedenkstätten erweiterte sich um die Gedenkstätten Buchenwald und Hodonín u Kunštatu bzw. um weitere Partner wie das NS-Dokuzentrum München. Die aktive Einbindung der pädagogischen Abteilungen der Kooperationspartner in den bilateralen Austausch ermöglicht neue Perspektiven im Austausch für Pädagog_innen aus Gedenkstätten und Träger der Jugendarbeit. Die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission gibt im Rahmen der begleitenden Arbeitsgruppe fachliche Impulse. Es gibt Arbeitshilfen mit Informationen und Didaktik in beiden Sprachen zur Nutzung für die Begegnung, weitere Materialien sind in Arbeit. Tandem vermittelte neue Kontakte zu Partnern im Nachbarland und unterstützte außerdem bei der Gewinnung von Teilnehmenden der Begegnungen. Erstmals fanden außerdem deutsch-tschechische Schulklassenbegegnungen an der Gedenkstätte Terezín statt. Weitere Austausche sind in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Prag geplant. 

Die Themensetzung stößt insbesondere bei Lehrer_innen auf Interesse, die bei ihren Klassenfahrten weg wollen vom „reinen Tourismus“ hin zu einer Begegnung mit Jugendlichen aus dem Nachbarland und der Befassung mit ausgewählten Themen. Für Berufsschulen und Berufsfachschulen kann die historische Entwicklung des Berufsbildes der jeweiligen Auszubildenden thematisiert werden. So könnte z.B. eine Fragestellung lauten, welche Aufgaben Beschäftigte in Pflegeberufen in der Zeit der NS-Diktatur zu verrichten hatten. Materialien dazu bieten verschiedene Gedenkstätten und Bildungseinrichtungen.

Nach einem Arbeitstreffen von Tandem-Sprachanimateur_innen und Vertreter_innen von Gedenkstätten soll die Methode der Sprachanimation (eine Methode zur spielerischen Annäherung an die Nachbarsprache) um ein spezielles Angebot zu Themen der Diversität im Austausch erweitert werden.

Auf der Website www.gemeinsam-erinnern.eu sind weitere Informationen über aktuelle Angebote und Materialien abzurufen. 

„Gemeinsam erinnern für eine gemeinsame Zukunft“ wird bis Ende 2019 fortgesetzt. Themen der historisch-politischen Bildung sollen auch nach dem Abschluss dieses Themenschwerpunkts ihren Platz im deutsch-tschechischen Jugendaustausch finden, unabhängig davon, in welche Richtung ein neues Fokusthema geht.

Wenn Tandem auch weiterhin dazu beiträgt, dass sich Jugendliche aus den Nachbarländern kennenlernen, sich gemeinsam mit der Geschichte auseinandersetzen und über Lösungen aktueller europäischer Fragestellungen nachdenken und an der Umsetzung mitarbeiten, dann ist dieser Weg im Sinne einer gemeinsamen Gestaltung Europas und guter nachbarschaftlicher Beziehungen nur weiterzugehen. Eine Möglichkeit der weiteren Beteiligung von Jugendlichen bietet im November 2019 das Deutsch-Tschechische Jugendtreffen in Berlin, mit dem diese Schwerpunktsetzung abgeschlossen wird.

Aus Sicht der Koordinierungszentren ist „Gemeinsam erinnern für eine gemeinsame Zukunft“ schon jetzt als Schritt zur Weiterentwicklung der deutsch-tschechischen Zusammenarbeit zu werten, und dies auf mehreren Ebenen: zum einen durch die Vertiefung von Erinnerungsarbeit in einem bilateralen Kontext, zum anderen durch die Initiierung neuer Kooperationen, die eine neue Qualität von grenzübergreifender Vernetzung darstellen. Vorbehaltlich der Beschlussfassung in den zuständigen bilateralen Gremien wird Tandem diese Befassung mit einem in die Zukunft gerichteten Fokusthema fortsetzen können. Dabei geht es nicht nur darum, an Erreichtes anzuknüpfen, sondern auch um die Frage, wie die aktuelle politische Entwicklung Eingang finden kann in den deutsch-tschechischen Jugendaustausch. Damit sind vor allem Fragen der gemeinsamen Zukunftsgestaltung in einem hoffentlich weiterhin friedlichen Europa verbunden.

 

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