Antisemitismus, Rassismus und das Lernen aus Geschichte(n)
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Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Von Anne Lepper
Von Geschichte(n) zu lernen bedeutet immer auch, diese in ihrer Wechselwirkung mit anderen Geschichten und Kontexten wahrzunehmen und zu verstehen. Dazu gehört nicht nur, in der Lage dazu zu sein, Geschichte(n) in weiter gefasste, historische Zusammenhänge einzuordnen, sondern auch, Verbindungen und Bezüge zur Gegenwart herzustellen und diese mit der eigenen Realität zu verknüpfen. Um Geschichte(n) nachvollziehbar und verständlich zu vermitteln bedarf es deshalb zunächst der Schaffung einer gemeinsamen Ebene, die eine kongruente Wahrnehmung und ein Verständnis von Erfahrenem und Erzähltem ermöglicht. In heterogenen gesellschaftlichen Strukturen, die u.a. geprägt sind von migrationsgesellschaftlichen Realitäten und sehr diversen und komplexen individuellen Erfahrungshorizonten, stellt die Entwicklung einer solchen gemeinsamen Ebene innerhalb des historischen Lernens eine besondere Herausforderung dar.
In Bezug auf das Lernen aus Geschichte(n) im Kontext von Antisemitismus und Rassismus gerät die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah unmittelbar in den Fokus. Betrachtet man jedoch vorhandene Lernkonzepte und gängige Lehrmethoden insbesondere im schulischen Zusammenhang wird schnell deutlich, dass das Dritte Reich und die damit in Verbindung stehenden Vorgänge oft als abgeschlossene Ereignisse dargestellt werden, in denen historische Interdependenzen und Auswirkungen auf die Gegenwart wenn überhaupt nur eine marginale Rolle spielen. Dieses entkontextualisierte Lernen, bei dem Daten, Fakten und historische Abläufe im Zentrum des Erkenntnisgewinns stehen, lässt jedoch wenig Raum für eine gesamtgesellschaftliche Einordnung des Geschehenen und für eine Anknüpfung an eigene Erfahrungswelten.
Ein jüngst im Beltz Juventa Verlag erschienener, von Anne Broden, Stefan E. Hößl und Marcus Meier herausgegebener Sammelband widmet sich nun dem Versuch, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Formen von Antisemitismus und Rassismus in einen historischen Zusammenhang zu stellen und dadurch bei den Lernenden Verständnisprozesse auf der Basis historischen Lernens anzuregen. Der Band, der in vier Unterkategorien geordnet ist und sowohl individuelle, subjektorientierte Perspektiven als auch kollektive Erfahrungshorizonte und Lernprozesse einbezieht, umfasst zahlreiche Beiträge multidisziplinärer Autor_innen.
Die Basis des Bandes bildet dabei die Grundannahme, erneuten Ausgrenzungsprozessen und der damit einhergehenden Zementierung von Stereotypen und Vorurteilen müsse in der historischen Bildungsarbeit durch die gezielte Entwicklung inklusiver Konzepte und die Ablehnung separater Angebote für Jugendliche mit Migrationserfahrungen entgegengewirkt werden. Durch die Vermittlung eines tiefer gehenden Verständnisses darüber, dass rassistische und antisemitische Erfahrungen und Ideologien der Vergangenheit bis heute in der Selbst- und Fremdwahrnehmung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen fortleben, müsse vielmehr eine Basis geschaffen werden, um gemeinsam über Auswirkungen, Parallelen und Unterschiede von Rassismus und Antisemitismus aus historischer Perspektive und in heutigen Gesellschaften zu diskutieren.
Durch seinen vielschichtigen und multiperspektivischen Ansatz eröffnet die Publikation ein „facettenreiches Mosaik“ (S.12) in Bezug auf das Lernen zu Antisemitismus und Rassismus aus historischer und gegenwärtiger Perspektive. In den verschiedenen Beiträgen, die in vier Unterkategorien geordnet sind, stehen sowohl individuelle biografische Zugänge zur Geschichte als auch der Blick auf weiter gefasste historische Zusammenhänge und Einordnungen im Zentrum.
Im ersten Teil, der biografischen Reflexionen über die Erfahrung von Rassismus und Antisemitismus gewidmet ist, verbinden sich zwei überaus interessante Beiträge zu einer Bestandsaufnahme in Bezug auf beide Phänomene im bundesrepublikanischen Kontext. Gabriel Goldberg beschreibt zunächst persönliche Erfahrungen von Antisemitismus, die er im Laufe seiner Kindheit und Jugend im Deutschland der 1990er Jahre gemacht hat und bis heute macht. Mithilfe der Metapher des buchstäblichen Sitzens auf gepackten Koffern beschreibt er die Situation, in der sich viele jüdische Deutsche nicht zuletzt aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre in Deutschland befinden.
Im Anschluss daran und bezugnehmend auf die Ausführungen Goldbergs erzählt Doğan Akhanlı von seinem Ankommen im Deutschland der frühen 1990er Jahre, dem eine jahrelange Verfolgung und Folter in der Türkei vorausgegangen war. Akhanlıbeschreibt in seinem Text seine Erfahrungen und Empfindungen in dieser ersten Zeit in der Bundesrepublik, in der oft rechtsextreme Gewaltausbrüche in Form von Pogromen und alltäglichen physischen und verbalen Angriffen auf gesellschaftlicher Ebene erfahrener Solidarität und Unterstützung auf persönlicher Ebene gegenüberstanden.
Im zweiten Teil des Bandes behandeln gleich mehrere Beiträge literarische und biografische Zugänge zu Nationalsozialismus und Holocaust. Susanne Urban befasst sich mit der Rolle der Zeitzeug_innen in der Auseinandersetzung mit der Shoah. Dabei reflektiert sie über die Anforderungen und Erwartungen, die innerhalb der historischen Bildungsarbeit an so bezeichnete Zeitzeug_innen gestellt werden ebenso wie über die Frage, wer eigentlich in die Kategorie eines/r Zeitzeug_in fällt und welche Veränderungen mit dem Ableben eines Großteils der Zeitzeug_innen und der Entstehung des Phänomens einer „sekundären Zeugenschaft“ einhergehen. Anhand verschiedener Beispiele stellt sie dar, welche Formen von Zeugnissen über die Shoah heute existieren und welche Anknüpfungspunkte für die historisch-politische Bildungsarbeit diese bieten. Dabei geht sie u.a. auch auf einen umfangreichen Bestand an Fragebögen und Personalakten ein, die heute als frühe Zeugnisse des Holocaust im International Tracing Service (ITS) Bad Arolsen aufbewahrt werden.
Mit diesem Quellenbestand befasst sich schließlich auch Akim Jah ausführlich in seinem Beitrag. Er stellt darin ein Seminarkonzept vor, das auf der Basis dieser Dokumente durch das ITS entwickelt wurde und welches den nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Polen immer noch virulenten Antisemitismus in den Fokus nimmt. In seinem Text zeigt Jah, dass die Beschäftigung mit dem Antisemitismus in Polen nach 1945, der ohne die vorausgegangen Jahre der gesellschaftlichen Segregation und der nationalsozialistischen Verfolgung nicht zu denken ist, zahlreiche Möglichkeiten und Ansätze bietet, um historische Kontinuitäten und Verbindungslinien bis in die Gegenwart aufzuzeigen.
Gottfried Kößler und Meron Mendel stellen in ihrem Text die 2003 entwickelte Ausstellung „Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland“ vor und reflektieren dabei über die konzeptionellen Überlegungen bezüglich der Ausstellung und die Erfahrungen, die in der praktischen Bildungsarbeit mit Besucher_innen aus verschiedenen Zusammenhängen gemacht wurden.
Stephan Bundschuh untersucht schließlich in seinem Beitrag anhand des Theoriemodells des Autoritarismus verschiedene Ausgrenzungs- und Gewaltregime aus historischer und räumlicher Perspektive. Im Fokus seiner kritischen Analyse steht dabei die Frage, inwiefern die Auseinandersetzung mit Geschichte ein Lernen aus derselben und eine entsprechende Ausrichtung des eigenen Verhaltens zur Folge haben kann.
Der dritte Teil des Bandes widmet sich anschließend verschiedenen multiperspektivischen Ansätzen in der historisch-politischen Bildung. Laura Digoh-Ersoy stellt in ihrem Beitrag Anknüpfungspunkte zu Schwarzen Geschichten in Deutschland vor und beschreibt Möglichkeiten, diese in die rassismuskritische und empowernde Bildungsarbeit einzubeziehen. Sie zeigt dabei anhand der Beispiele von Marie Nejar und Theodor Wonja Michael – zwei Schwarze Deutsche, die ihre Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland erlebten –, dass Verfolgungsgeschichten auf der einen und Selbstbehauptungsprozesse auf der anderen Seite im bundesrepublikanischen Kontext seit der Kolonialzeit fortlebten und leben.
Auch Vanessa Höse und Susanne Schmidt sprechen sich in ihrem Beitrag dafür aus, marginalisierte Stimmen in der historischen-politischen Bildungsarbeit zu Wort kommen zu lassen und diese als Ausgangspunkte für die Entwicklung von Empowermentprozessen und Solidarität zu sehen. Am Beispiel des im Rahmen der Anschlagserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) verübten Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße zeigen sie auf, wie über Formen der physischen und strukturellen Gewalt anhand von Geschichten von Menschen, die selbst Rassismuserfahrungen gemacht haben, gelehrt und diskutiert werden kann.
Astrid Messerschmidt thematisiert in ihrem Text als Abschluss des dritten Teils die Frage nach einer reflektierten und differenzierten Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus. Sie macht darauf aufmerksam, dass dabei neben der Thematisierung von Rechtsextremismus und militantem Antisemitismus insbesondere auch der Blick für innerhalb der Mehrheitsgesellschaft virulente Phänomene geschärft werden muss, wobei sie unter anderem auf die verbreiteten Formen von Alltagsrassismus und -antisemitismus und anderen Ausgrenzungs- und Abgrenzungsmechanismen verweist.
Der vierte und letzte Teil des Bandes nimmt schließlich verschiedene Perspektiven für die Jugendarbeit und den schulischen Kontext in den Fokus. Dabei fragen sowohl der Beitrag von Heiko Klare und Michael Sturm als auch der von Silke Baer und Oliver Kossack nach den Möglichkeiten und Grenzen einer historisch-politischen Bildungsarbeit im Bereich Nationalsozialismus und Holocaust in Bezug auf die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Während der erste Text dabei die konkrete pädagogische Arbeit an Gedenkstätten in den Blick nimmt, analysiert der zweite Text am Beispiel der Arbeit des Vereins cultures interactive e.V. die Chancen einer menschenrechtsorientierten, rassismuskritischen Jugendkulturarbeit im schulischen und außerschulischen Kontext.
Zwei weitere Texte widmen sich im Anschluss daran Konzepten zur Bekämpfung von gegenwärtigem Antisemitismus. Stefan E. Hößl und Jan Raabe befassen sich in ihrem Beitrag mit Antisemitismus in der Musik innerhalb von Jugendkulturen am Beispiel von Rechtsrock und HipHop und stellen verschiedene Materialien und Konzepte vor, die sich zur Arbeit mit den jeweiligen Zielgruppen eignen. Anschließend daran gibt Katja Bauch einen Einblick in Formen des Antisemitismus im schulischen Bereich und stellt eine Studie vor, in deren Rahmen sie mehrere Jugendliche in Bezug auf ihre individuellen Erfahrungen befragte. Bezugnehmend auf die Ergebnisse dieser Studie entwickelt die Autorin verschiedene Handlungsstrategien und Konzepte für den Umgang mit Antisemitismus in Unterricht und Schule. Mit antisemitischen und rassistischen Denkmustern und Strukturen im schulischen Kontext befassen sich auch Rainer Jansen und Maik Wunder in ihrem abschließenden Beitrag und weisen dabei darauf hin, dass Ausgrenzungsmechanismen und die Nicht-Anerkennung von Gruppenzugehörigkeiten oft Ausdruck eines Homogenitätsbedürfnisses sind – ein Identitätsmuster, welches an Schulen als dem Nationalstaat verpflichtete Institutionen reproduziert und aufrecht erhalten wird.
Der Band, der durch seine vielseitigen und multiperspektivischen Beiträge ein überaus vielschichtiges und dabei zugleich sehr dichtes Bild aktueller Debatten und Entwicklungen in der historisch-politischen Bildungsarbeit im Kontext von Antisemitismus und Rassismus zeichnet, eignet sich hervorragend sowohl für die wissenschaftliche als auch für die praktische Arbeit in diesem Bereich. Er nimmt eine Bestandsaufnahme vor, die ein gleichzeitig ernüchterndes und ermutigendes Bild von der bundesrepublikanischen Bildungslandschaft zeichnet und dazu anregt, in der pädagogischen Arbeit immer wieder neue Wege zu gehen.
Broden, Anne; Hößl, Stefan E.; Meier, Marcus: Antisemitismus, Rassismus und das Lernen aus Geschichte(n). Beltz Juventa Verlag, Weinheim/Basel 2017, 208 Seiten.
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- 30/05/2018 - 06:34