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Islamistischer Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus. Über Gleichzeitigkeiten und die Notwendigkeit zur Differenzierung in pädagogischen Räumen

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Die Diplom-Politologin Saba-Nur Cheema ist Leiterin der pädagogischen Programme in der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank. Sie hat in diesem Rahmen den Sammelband „(K)eine Glaubensfrage. Religiöse Vielfalt im pädagogischen Miteinander“ herausgegeben.

Von Saba-Nur Cheema

Aktuell wird in diversen Räumen und auf unterschiedlichen Ebenen über die Ursache, das Ausmaß und die Auswirkung von Antisemitismus bei migrantisch positionierten Muslim_innen in Deutschland diskutiert. Mehrere Vorfälle von Mobbing und Ausgrenzung seitens arabisch-muslimischer Jugendlicher gegen jüdische Schüler_innen oder offen islamistisch-antisemitische Parolen und Symbole auf Demonstrationen werden als Indizien für das Problem benannt. Der Diskurs über diese Vorfälle, zum Teil auch im Kontext der Verlegung der US-amerikanischen Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem, verläuft problematisch und nicht selten zuschreibend – und wird von zwei radikalen Positionen dominiert, die wie folgt zugespitzt zusammengefasst werden können: „Alle Muslime sind Antisemiten, das heißt ohne Muslime gibt es keinen Antisemitismus mehr“ versus „Weil Muslime selbst Opfer von Rassismus sind, ist jeder, der ‚Muslime‘ und ‚Antisemitismus‘ in einem Atemzug erwähnt, ein Rassist.“ 

In Zeiten eines gefährlichen Rechtsrucks besteht die Gefahr, dass beide Positionen – sowohl die Thematisierung als auch die De-Thematisierung – für rechtspopulistisches Agenda-Setting missbraucht und instrumentalisiert werden. Im Folgenden werden beide Positionen diskutiert und anschließend die Notwendigkeit eines differenzierten und zuschreibungssensiblen Umgangs insbesondere im pädagogischen Raum dargestellt.

Islamistischer Antisemitismus ist (k)ein importierter Antisemitismus 

Damit das schon mal klar ist: Der Hass auf Juden und Jüdinnen ist keine Importware. Zumal importierte Ware im besten Falle gerne gekauft wird, ist der Vergleich mit Geflüchteten und Migrant_innen in Anbetracht der massiven Anfeindungen und politischen Entscheidungen rund um Abschiebungen und Aufnahmeregelungen absurd. Damit gemeint ist eigentlich, dass der Antisemitismus von den Anderen kommt, von denen, die „nicht Deutsche“ sind und auch nicht wie diese aussehen. Die verkürzte Erklärung wird im Kontext einer antisemitismuskritischen Auseinandersetzung dem Phänomen selbst nicht gerecht. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus muss alle Artikulations- und Erscheinungsformen sowie Ausprägungen in spezifischen Milieus einbeziehen – und dabei nicht außer Acht lassen, wie verflochten und wechselwirksam beispielsweise rechtsextreme und islamistische Artikulationsformen sind. Wenn Antisemitismus definiert wird als „eine anhaltende latente Struktur feindseliger Überzeugungen gegenüber Juden als Kollektiv, die sich bei Individuen als Haltung, in der Kultur als Mythos, Ideologie, Folklore sowie Einbildung und in Handlungen manifestieren (…), die dazu führen und/oder darauf abzielen, Juden als Juden zu entfernen, zu verdrängen oder zu zerstören“ (Fein 1987:67), dann sind dieses Feindbild und der Vernichtungsdrang ein Kernelement im Antisemitismus. 

Wie ist es nun mit dem Antisemitismus unter migrantischen Muslim_innen, in Deutschland geboren und/oder mit Migrationsgeschichte aus islamisch geprägten Ländern? In der Antisemitismusforschung werden unter dem Label ‚neuer Antisemitismus‘ (1) antisemitische Deutungsmuster in der politischen Linken, (2) die Frage nach den Grenzen legitimer Israelkritik sowie (3) Antisemitismus seitens Muslim_innen debattiert (Rabinovici u. a. 2004). Die drei Topoi stellen kein einheitliches Analyseraster dar. Während es zum einen um antisemitische Einstellungen in einem politisch heterogenen Spektrum und zum anderen um die Frage nach nicht-antisemitischer Kritik am Staat Israel geht, rückt der ‚muslimische Antisemitismus‘ eine bestimmte Gruppe bzw. Religionsgruppe in den Fokus. Es fällt bereits in der sprachlichen Benennung auf, dass „muslimischer“ Antisemitismus eine Gruppenzuschreibung verursacht („die Muslime“) und einen Verdacht formuliert („Muslime sind antisemitisch“). Letztlich folgt diese Gruppenkonstruktion einer rassifizierenden Logik, in der Muslimsein nicht als religiöse Zugehörigkeit gelesen wird, sondern ethnisiert wird. Dazu führt Stender richtigerweise aus, dass „die Bezeichnung ›muslimische Jugendliche‹ […] viel zu pauschal und ähnlich verzerrend ist, wie wenn man ›junge Christen‹ als Sammelbegriff für alle Jugendlichen verwenden würde, die den christlichen Konfessionen formal zugehören“ (Stender 2010:22). Ein Ergebnis der Antisemitismusforschung heute ist, dass der in islamisch geprägten Gesellschaften existierende Antisemitismus im Ursprung ein europäisches Phänomen und im Zuge des Kolonialismus einen „Import aus Europa“ darstellt (Holz/Kiefer 2010:109) – so müssten die Vertreter_innen der These des importierten Antisemitismus eigentlich einen Re-Import beklagen. Michael Kiefer beschreibt drei historische Entwicklungsphasen der Verbreitung des europäischen Antisemitismus in islamisch geprägten Gesellschaften und weist darauf hin, dass sich der Antisemitismus an eine „islamistische Semantik“ angepasst habe (Kiefer 2006; vgl. auch Holz 2005; Holz/Kiefer 2010). Stender (2010), Kiefer (2006) und Schmidinger (2008) verwenden daher den Begriff des islamisierten Antisemitismus. Bei islamisiertem Antisemitismus handelt es sich um ein genuin europäisches Phänomen, das mit denselben antisemitischen Mythen und transportierten Stereotypen arbeitet, die „aus ihrem ursprünglichen kulturellen und religiösen Kontext herausgelöst werden können, um andernorts vorhandene Feindbilder zu ergänzen oder zu modifizieren“ (Kiefer 2006: 284). So ist das Feindbild des „Juden“ aus dem europäischen Antisemitismus und der spezifisch nationalsozialistischen Ideologie von arabisch-palästinensischer Seite nach der Staatsgründung Israels im Jahre 1948 durch das konstruierte Feindbild „Israel“ erweitert bzw. abgewandelt worden. Dieser zunächst recht simpel erscheinende Transfer ist ein wesentlicher Aspekt, um antisemitische Aussagen und Deutungen in der heutigen Zeit zu verstehen, insbesondere dann, wenn sie von migrantisch-muslimischen Jugendlichen kommen. Klaus Holz und Michael Kiefer zeigen vier in einer Kontinuität existierende semantische Muster des Antisemitismus auf, die im europäischen und im islamisierten Antisemitismus vorzufinden sind und damit die Verwobenheit erklären (Holz/Kiefer 2010; Kiefer 2006; Holz 2005): (1) die antimoderne Gemeinschaftsideologie, in der die Moderne bzw. die Globalisierung als (Zer-)Störung einer vormodernen, heilen und besseren Welt gesehen wird; (2) das Phantasma der jüdischen Macht und Verschwörung, bei dem Juden/Jüdinnen unter anderem Geld und Kapital verkörpern, und (3) die Konstruktion von Juden/Jüdinnen als Dritte, das heißt Juden/Jüdinnen werden in antisemitischen Weltanschauungen zu keiner „Wir“-Gruppe gezählt, sie sind immer die dritten Anderen, denn anders als die binäre Ordnung im rassistischen Othering („Wir“ und „die Anderen“) werden Juden/Jüdinnen als „Weltfeind“ konstruiert und nicht als „‘normale‘ Nation, Rasse oder Religion“ (Holz/Kiefer 2010:124). Ein weiteres Muster ist (4) die Vermischung von Religion und Nation, in der Identitätsmerkmale wie religiöse Zugehörigkeit, Nationalität und Herkunft inkohärent miteinander verschachtelt werden und Juden/Jüdinnen nicht nur als religiös Andere, sondern auch bezüglich anderer Merkmale als „besonders“ gelten. Die vier genannten semantischen Muster sind sowohl im europäischen als auch im islamisierten Antisemitismus zu finden und für Holz und Kiefer eine Erklärung dafür, dass der Antisemitismus in islamisch geprägten Gesellschaften „eine Variation des europäischen ist“ (ebd.: 126). 

Auch ist die Begriffsverwendung islamisierter Antisemitismus eine Kritik an der weit verbreiteten Praxis, dass bestehende antisemitische Weltbilder, Ideen, Feindbilder und Stereotype in islamisch geprägten Gesellschaften auf einen von europäischer Geschichte unabhängigen, dezidiert islamischen Hintergrund zurückzuführen sind. Gleichzeitig haben antisemitische Feindbilder in islamistischen Ideologien und Gruppen allerdings eine zentrale Rolle, weshalb die Bezeichnung islamistischer Antisemitismus ebenfalls zutreffend ist. 

Der islamistische Antisemitismus ist als ein modernes Phänomen zu begreifen, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts durchsetzen konnte – bestärkt durch einen Import aus Europa. Zu dessen Spezifik tragen diverse Ereignisse in islamisch geprägten Ländern sowie die Zunahme transnational agierender islamistischer Gruppen bei. Auch spielt der Nahost-Konflikt eine besondere Rolle, denn seit der Staatsgründung Israels 1948 und den zeitgleichen politischen Entwicklungen und Modernisierungsprozessen in vielen arabischen und mehrheitlich muslimischen Staaten, wurden antisemitische Feindbilder verstärkt. Die Krisen und teils gescheiterten Nationalstaatswünsche seitens arabisch-muslimischer Nationalbewegungen bewirkten zum Teil eine tiefe Frustration gegenüber Europa und westlicher Kolonialpolitik, die die damaligen politischen und ökonomischen Bedingungen mitverantwortete. 

Muslimische Jugendliche in Deutschland, die selbst oder deren (Groß-)Eltern einen Migrationshintergrund in Staaten haben, die im Konflikt mit Israel stehen, bekommen antisemitische Stereotype und Verschwörungstheorien mit. Diese spezifischen Narrative werden oftmals von der hiesigen nicht-migrantischen Gesellschaft schlecht oder gar nicht verstanden, was bei vielen (nicht-migrantischen) Pädagog_innen zu einer Verunsicherung führt. Die Reaktion ist dabei entweder eine Skandalisierung, die vielfach mit (rassistischen) Zuschreibungen gegenüber muslimischen Jugendlichen einhergeht oder das absolute Schweigen und Nicht-Benennen aus Angst vor dem Vorwurf, rassistisch oder islamfeindlich zu sein. Diese Angst ist mindestens aus einer antisemitismuskritischen Perspektive fatal – und hat gleichzeitig einen realen Kontext, aus dem sie entsteht.

Es gibt so etwas wie antimuslimischen Rassismus

Schon wieder durften die in Deutschland lebenden Muslim_innen zuhören und beobachten, wie es um ihre Zugehörigkeit im Jahre 2018 steht – das Jahr nach der Bundestagswahl, in der eine Partei in den Bundestag gezogen ist, die eine offene islamfeindliche und rassistische Agenda hat (vgl. Häusler 2018). Die Frage, die die Gemüter bewegt, ist, ob der Islam, nein die Muslim_innen, zu Deutschland gehören? – Unabhängig davon, ob die Frage bejaht oder verneint wird, ist sie selbst ein praktisches Beispiel dafür, wie Muslim_innen zu Anderen gemacht werden. Über sie wird gesprochen, über ihre Zugehörigkeit gestritten, über ihre Anpassungsfähigkeit gerätselt. Auch wenn die Frage von vielen Nicht-Muslim_innen bejaht wird, konstatiert bereits die Infragestellung der Zugehörigkeit zur Gesellschaft eine ausgrenzende diskursive Praxis, auch als Othering bekannt. Im Rahmen einer Medienanalyse erkennt Yasemin Shooman bezüglich der Debatten über und Darstellung von Muslim_innen im öffentlichen Diskurs: »Aus einer dominanten gesellschaftlichen Position heraus werden sie als eine homogene und quasi-natürliche Gruppe in binärer Anordnung zu weißen christlichen/atheistischen Deutschen bzw. Europäern konstruiert und mit kollektiven Zuschreibungen versehen; es wird ein Wissen über sie und ihr Wissen als Gruppe erzeugt, und sie gelten anhand verschiedener Merkmale als ›identifizierbar‹.« (Shooman 2014:64) Im Othering wird die mächtigere Eigengruppe – das exklusive »Wir« – erzeugt. Aus dieser gesellschaftlichen Dominanzposition heraus werden Menschen, die Muslim_innen sind oder aufgrund bestimmter Differenzmarker (das Äußere, der Name, die Sprache etc.) (vermeintlich) als Muslim_innen erkennbar sind, muslimisiert (vgl. Sezgin 2010).[1]Andere Identitätsaspekte der Personen fallen außer Acht, die Vielfalt kollektiver Zugehörigkeiten wird ignoriert, und das Muslimsein wird als wesentliches und entscheidendes Merkmal wahrgenommen.

Die Diskussion um die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, zeigt die Wirkmächtigkeit der binär konstruierten Gesellschaftsordnung. Menschen, die sich in gesellschaftlichen Dominanzpositionen befinden, verhandeln nach wie vor darüber, wer »dazu« gehören kann oder darf. Dabei werden deutsche Muslim_innen zu den »Anderen« gemacht, indem über sie und ihre Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft gesprochen wird – anstatt mit ihnen. Während sich deutsche Muslim_innen geäußert haben und das noch immer tun, bleibt das »Wir« exklusiv. Neben den Verbotsdebatten über Kopftuch, Burka, Burkini, Minarette oder das Beten an Schulen tragen auch einfache Bilder von Mainstream-Magazinen und -Zeitungen zu einem Negativimage bei, das islamfeindliche Stimmen und Stimmungen verstärkt. Inwiefern dadurch die Wahrnehmung des Islams beeinflusst wird, wurde u.a. in einer Studie der Bertelsmann Stiftung erforscht (Vgl. Hafez/Schmidt 2015). Über fünfzig Prozent der Befragten bejahten die Unvereinbarkeit von „Islam und westlicher Welt“ und die Verfasser_innen der Studie stellen fest: „Der Islam wird in der Demokratie geduldet, nicht aber als ein Teil der freien Gemeinschaft der Bürger respektiert“ (Hafez/Schmidt 2015: 41). Und in der Studie „Deutschland postmigrantisch“ ziehen Naika Foroutan et al. (2014) das Fazit, „dass es nur einen kleinen ‚harten Kern‘ gibt, der tatsächlich ein geschlossenes antimuslimisches Weltbild hat“, aber dass „die Zahl der Menschen, die zumindest einzelne negative Stereotype von Musliminnen und Muslime hat, noch deutlich größer“ (ebd.: 41) ist. Inzwischen werden Straftaten gegen Muslim_innen auch offiziell als „islamfeindliche Straftaten“ gezählt, die gemeldeten Strafhandlungen umfassen, um nur einige Beispiel zu nennen, Drohbriefe, Angriffe auf kopftuchtragende Frauen, Sachbeschädigungen und Schmierereien auf Moscheen.[2]

In der Forschung zu antimuslimischem Rassismus werden die Fremdzuschreibungen, die aus der Dominanzgesellschaft kommen, tendenziell aus einer eher funktionalen Perspektive analysiert. Wie Floris Biskamp kritisiert, würde in den meisten Arbeiten lediglich die Funktion von rassistischen Zuschreibungen als ein Mittel der Selbst- bzw. Aufwertung der privilegierten Dominanzgesellschaft behandelt. Weniger geht es in diesen Fällen um die „entsprechenden Probleme unter Muslim_innen“, was dazu führt, dass im Islam tatsächlich existente und zu klärende Fragen nicht zur Kenntnis genommen werden, und offen gelassen wird, wie »legitime Formen des kritischen Sprechens über islamische Kultur und Religion« aussehen können (Biskamp 2016:82). Dazu zählt beispielsweise auch, ob es einen spezifischen Antisemitismus unter Muslim_innen gibt. Eine Ausblendung von „kulturellen Hintergründen“ von Antisemitismus trägt dazu bei, dass diese Phänomene nicht aussprechbar sind und somit nicht bearbeitet werden (können) (ebd.: 85). Aber reden wir nicht seit geraumer Zeit schon darüber? Wird die Frage, ob Muslim_innen antisemitisch(er) sind, gerade nicht höchst prominent zum Gegenstand öffentlicher Debatten, politischer Diskussionen und Forderungen und das auch im Kontext von Schule und anderen pädagogischen Orten? In einer Zeit, in der „Islamkritik“ als Umwegkommunikation für rassistische Zuschreibungen dient (vgl. Shooman 2014), islamfeindliche Parolen im Bundestag Platz gefunden haben und – die oftmals unter Radikalisierungs- oder Terrorismusverdacht stehenden – Moscheen zunehmend Angriffe verzeichnen, ist das Sprechen über „entsprechende Probleme“ unter Muslim_innen erst möglich, wenn eine differenzierte und zuschreibungssensible (An-)Sprache genutzt wird.

Gleichzeitigkeit verstehen und in der pädagogischen Praxis anwenden

Und gleichzeitig ist es ein Fehler, aus Angst vor einem Rassismus-Vorwurf, antisemitische Erscheinungsformen und Äußerungen seitens migrantisch-muslimischer Jugendlicher nicht zu thematisieren. Es muss immer reagiert werden, wenn eine antisemitische Äußerung getätigt wird – selbiges gilt bei einer rassistischen oder anderen menschenfeindlichen Äußerung. Um eine pädagogische Intervention gegen Antisemitismus zu stoppen und zu begründen, sind der tatsächliche Gehalt der antisemitischen Aussage und die Sprecher_innenposition – erst einmal – nicht relevant. Gut zu überlegen sind die Sprache und Gestaltung der weiteren Intervention, die wiederum mit der Haltung der pädagogisch Agierenden zusammenhängt (Vgl. Cheema 2017). Während es zunächst irrelevant ist, werspricht, wenn es darum geht antisemitische Handlungen zu beenden, ist es danach dringend erforderlich, die Sprecher_innenposition zu beachten: Die Herausforderung für pädagogisch Verantwortliche ist, das Erleben von Rassismus und Ausgrenzung der muslimischen Jugendlichen anzuerkennen, bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass islamistisch-antisemitische Einstellungen vorhanden sein können. Denn tatsächlich unterliegen Muslim_innen nicht nur dem Antisemitismus-, sondern immer wieder mal einem Radikalisierungs-, Gewalt- und Sexismusverdacht. In ihrer empirisch-qualitativen Forschung zu Rassismuserfahrungen von Jugendlichen hat Wiebke Scharathow herausgearbeitet, wie sich Rassismus „in den Lebenswelten von Jugendlichen, die als ‚Andere‘, als ‚nicht-deutsch‘ kategorisiert werden“ manifestiert (Scharathow 2014: 414). In der Auswertung der Interviews, in denen auch muslimische Jugendliche befragt wurden, stellt sie fest, dass die Erfahrungen der Jugendlichen „deutlich mit gesellschaftlichen Diskursen verbunden“ sind, in denen Jugendliche „als ‚Ausländer‘ oder ‚mit Migrationshintergrund‘ gelten, als (potentiell) problematisch von einer vermeintlichen ‚deutschen Normalität‘ Abweichende konstruiert werden“ (Scharathow 2016: 113). 

Antisemitismuskritische Bildungsarbeit muss auf diese Gleichzeitigkeit reagieren. Um eine antisemitismuskritische Perspektive zu entwickeln, „ist zunächst anzuerkennen, dass antisemitische Positionen vielfältig eingenommen werden und sich nicht an Herkunftskontexten festmachen lassen“ (Messerschmidt 2010:96). Wenn Antisemitismus als gesamtgesellschaftliche Aufgabe erachtet wird, dann müssen Pädagog_innen ein fundiertes Wissen über gesellschaftliche Artikulationsformen des Antisemitismus verfügen, dazu zählen neben dem islamistischen Antisemitismus auch die antisemitische Umwegkommunikation der Israelkritik, antisemitische Deutungsmuster in der Linken, Wissen über den Nahost-Konflikt usw. Essentiell ist auch das Erkennen eigener Antisemitismen oder der „eigenen Beziehung zum Rassismus“, denn diese kritische Reflexion gehört zu einer effektiven Bildungsarbeit gegen Antisemitismus (und Rassismus) dazu (Ebd. 106). In der postnationalsozialistischen Gesellschaft ist eine ganz spezifische Form des Antisemitismus sichtbar, der nicht trotz, „sondern wegen Auschwitz“ artikuliert wird, wie es der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex sarkastisch sagte: "Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nicht verzeihen." Die deutlich überwiegende Zahl der nicht-migrantischen und nicht-muslimischen Pädagog_innen kennt eine Form der Judenfeindschaft aus dem Motiv der Erinnerungsabwehr heraus und kann mit diesen Erscheinungsformen im Klassenzimmer womöglich leichter umgehen – schließlich kommt es bekannter vor. Ohne nun eine kulturalisierende Erklärung anzubringen, sind die unterschiedlichen Narrative des Antisemitismus relevant für die antisemitismuskritische Bildungsarbeit. Eine solche Erklärung verkompliziert das Problem, denn in Deutschland aufgewachsene migrantisch-muslimisch positionierte Jugendliche sehen sich mit mehreren – durchaus kompatiblen – antisemitischen Narrativen konfrontiert. 

Da migrantisch-muslimische positionierte Jugendliche auch im pädagogischen Alltag oft mit Kulturalisierungen und Zuschreibungen seitens vieler Pädagog_innen und Lehrkräfte konfrontiert sind, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass mehr migrantisch-muslimisch positionierte Pädagog_innen zu diesen Themen arbeiten, um gesellschaftliche Machtverhältnisse von Dominanz und Marginalisierung nicht erneut zu reproduzieren. Letztlich spielen die gesellschaftlichen Positionen von Macht und Ohnmacht der Sprecher_innen in Bildungsräumen eine wesentliche Rolle bei der Akzeptanz von Lernangeboten und der Wahrnehmung gesellschaftlicher Diskurse. Wenn sich Jugendliche kaum oder selten mit Autoritätspersonen identifizieren können, kann dies unter Umständen zu einem verstärkten Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit führen. Daher ist neben dem gleichzeitigen Bewusstsein für Antisemitismus- und Rassismuskritik auch der Raum pädagogischer Professionalität zu erweitern, um sich auf die Diversität von Pädagog_innen zu beziehen, die Gegennarrative präsentieren und neue Perspektiven in ihre Arbeit einbringen – eine dringende und notwendige Bereicherung des pädagogischen Könnens in der Migrationsgesellschaft.[3] 

Literatur

Cheema, Saba-Nur (2017): Gleichzeitigkeiten: Antimuslimischer Rassismus und islamisierter Antisemitismus – Anforderungen an die Bildungsarbeit. In: Mendel, Meron/Messerschmidt, Astrid: Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt, New York.

Fein, Helen (1987): The Persisting Question. Sociological Perspectives and Social Contexts of Modern Antisemitism, New York.

Häusler, Alexander (2018). Völkisch-autoritärer Populismus: Der Rechtsruck in Deutschland und die AfD. Hamburg.

Holz, Klaus (2005): Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft. Hamburg.

Holz, Klaus/Kiefer, Michael (2010): Islamistischer Antisemitismus. Phänomen und Forschungsstand. In: Stender,Wolfram/Follert,Guido/Özdogan,Mihri (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis. Wiesbaden, S.109-137.

Kiefer, Michael (2006): Islamischer, islamistischer oder islamisierter Antisemitismus? In: Die Welt des Islams, Jg. 46, H. 3, 2006, S. 277-307. 

Messerschmidt, Astrid (2010): Flexible Feindbilder – Antisemitismus und der Umgang mit Minderheiten in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. In: Stender,Wolfram/Follert,Guido/Özdogan,Mihri (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis. Wiesbaden, S. 91-108.

Rabinovici, Doron/Speck,Ulrich/Sznaider,Natan (Hg.) (2004): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Frankfurt/M.

Schmidinger, Thomas (2008): Zur Islamisierung des Antisemitismus. In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands(Hg.), Jahrbuch 2008, Wien u.a., S. 103-139.

Sezgin, Hilal (2010): Deutschland schafft mich ab. Debatten wie Thilo Sarrazin sie führt, haben mich als türkischstämmige Intellektuelle muslimifiziert. Was ist in diesem Land nur schief gelaufen? In: Schwarz, Patrik (Hrsg.): Die Sarrazin-Debatte. Eine Provokation – und die Antworten. Hamburg. S. 183-191. 

Shooman, Yasemin (2014). »... weil ihre Kultur so ist« Narrative des antimuslimischen Rassismus. transcriptverlag Bielefeld. 

Spielhaus, Riem (2013): Wer ist Muslim und wenn ja wie viele? Ein Gutachten im Auftrag vom Mediendienst Integration. Berlin.  

Stender, W. (2010): Konstellationen des Antisemitismus. Zur Einleitung. In: Stender, Wolfram/Follert, Guido/Özdogan, Mihri (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis.Wiesbaden, S. 7-38. 


[1]Hilal Sezgin (2010) reagierte auf die Debatte um die Thesen von Thilo Sarrazin und führte den Begriff »Muslimifizierung« ein: »Eine ursprünglich religiöse Kategorie wird zur ethnischen Beschreibung. Ich nenne es: Muslimifizierung.«

[2]Im ersten Quartal des Jahres registrierten Sicherheitsbehörden über 200 Übergriffe auf Muslime und ihre Einrichtungen. Diese Zahl geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage Linksfraktion im Bundestag hervor: http://www.migazin.de/2017/06/06/mehr-als-200-islamfeindliche-straftaten-im-ersten-quartal/ (Letzter Zugriff: 08.04.18).

[3]Der Ausdruck pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaftist dem gleichnamigen Sammelband von Aysun Doğmuş, Yasemin Karakaşoğlu und Paul Mecheril (2016) entnommen. Dabei erklären die Herausgeber_innen, dass es eine wesentliche Aufgabe des pädagogischen Könnens ist, „der Pluralität migrationsgesellschaftlicher Positionen und (Bildungs-)Biographien Rechnung zu tragen und dabei gleichzeitig stereotype und stigmatisierende Fest- und Zuschreibungen zu reflektieren und zu vermeiden.“ (Doğmuş u. a.2016:3). 

 

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