"25 Jahre Systemtransformation in Osteuropa"
Von Lucas Frings
2015 liegt der Systemumbruch in den Ländern Mittel- und Osteuropa rund 25 Jahre zurück. Dieser Abstand bietet die Möglichkeit erste Schlüsse über die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen seitdem in der Region und ihren einzelnen Ländern zu ziehen.
Der vorliegende Sammelband ist zum größten Teil das Produkt eines Seminars im Masterstudiengang „Politik in Europa“ an der TU Chemnitz, welches Thieme im Format einer wissenschaftlichen Tagung konzipiert hatte. Die elf Beiträge bieten vielfältige Zugänge zur Beurteilung von Transformationsprozessen. Manche fokussieren sich auf ein Land, andere stellen Vergleiche zwischen mehreren Ländern Mittel- und Osteuropas an.
Am Beispiel von Ungarn der 2010er- Jahre widerspricht Laura Stellbrink der These vom „Tod des Intellektuellen“, der nach populärer Annahme mit dem Ende des 20. Jahrhunderts und dessen Extremen eingesetzt habe. Dafür zeichnet sie eine kurze Geschichte der demokratisch-oppositionellen Intellektuellen nach. Nach 1989 hatte der gesellschaftliche Einfluss von diesen zunächst abgenommen, u.a. da für die Bevölkerung nun „die Kompetenz der Politiker, die Probleme des Alltags lösen zu können, und nicht die Fähigkeit der Intellektuellen, sich mit abstrakten Werten der Gesellschaft auseinanderzusetzen“ (S.28) zählte. Für Stellbrink fällt durch die Einschränkung der öffentlichen Meinung, durch nationalistische Politik und das Mediengesetz von 2010, den Intellektuellen wieder eine bedeutendere Rolle zu, sie sprechen nun für diejenigen, die nicht mehr sprechen dürfen.
Wie sich Mediensysteme im Transformationsprozess verhalten beleuchtet Robert Steudtner in seinem Beitrag. In einem Vergleich von Radio, Fernsehen und Printmedien der Tschechien Republik und Bulgarien untersucht er die Verknüpfungen von Politik und Medien auf dem Weg zur Etablierung eines demokratischen und pluralistischen Mediensystems. Die These, dass ein Systemwechsel der weitestgehend von alten Eliten getragen wird ¬– wie in Bulgarien – zu einer stärkeren Bindung von Medien und Staat führt als im Falle eines Umbruches „von unten“ – wie in Tschechien – bestätigt sich dabei nur bedingt. Dies liegt vor allem am starken Einfluss des tschechischen Parlaments auf die Kontrollgremien des Rundfunks. Dennoch ist dort der Einfluss zivilgesellschaftlicher Akteur_innen deutlich höher als in Bulgarien. Die Printlandschaften haben sich in beiden Ländern weitestgehend vom Staat entkoppelt, mit dem Unterschied, dass in Tschechien teilweise Redaktionen in der Lage waren ihre Blätter eigenständig zu privatisieren, während in Bulgarien ausschließlich ausländische Investor_innen die Boulevardisierung voran treiben.
Einen innovativen Ansatz zur institutionellen Stabilisierung von Wahlsystemen in Mittel- und Osteuropa entwirft Thomas Meißner mit seinen Vorschlägen zu automatischen Regelungen, also sich selbst anpassenden technischen Elementen eines Wahlsystems. Anzahl und Größe der Wahlkreise, Sperrklauseln wie eine Prozent-Hürde, die Parlamentsgröße sind nach Meißner die relevantesten Faktoren an denen ein Wahlsystem verändert werden kann. Um die Koalitionsfindung zu erleichtern ließe sich etwa eine über die maximale Anzahl im Parlament vertretener Parteien definierte automatische Sperrklausel installieren. In einer Simulation demonstriert er anhand von Wahlergebnissen aus Litauen und Tschechien Anpassungsmöglichkeiten und informiert gleichzeitig über die Wahlsysteme der beiden Länder.
Daniel Kleines Vergleich der EU-Integrationsfortschritte von Ländern des ehemaligen Jugoslawiens sowie Albanien beruht auf der Annahme, dass die Perspektive eines baldigen EU-Beitritts ein wichtiges Element der Stabilisierungsstrategie für die Region sei. Die wirtschaftliche Situation der Länder ist jedoch, in Augen der EU-Kommission, aufgrund hoher Staatsverschuldung, struktureller Arbeitslosigkeit und hoher Jugendarbeitslosigkeit ein zentrales Hindernis für einen Beitritt. Aber auch die Lage von Minderheiten und ethnische Konflikte oder der anhaltende Namensstreit Mazedoniens mit Griechenland erschweren einen Beitritt. Der informative Artikel behält auch 2018 weitestgehend seine Gültigkeit. Neu ist lediglich der Antrag auf EU-Mitgliedschaft Bosnien-Herzegowinas vom Februar 2016 und der langsame Fortschritt der Verhandlungskapitel Montenegros und Serbiens.
Die Beziehung zwischen EU und postkommunistischen Staaten während der Transformation betrachtet Liza Ruschin anhand mehrerer Hypothesen unter den Gesichtspunkten von Intergouvernementalismus, Europäisierung, der Wirtschaftskraft der Transformationsstaaten und Demokratieförderung. Beispielhaft sei hier die Rolle der Eliten während der Beitrittsverfahren aufgeführt. Dadurch, dass sowohl „alte“ als auch „neue“ Eliten der jeweiligen Staaten die EU-Osterweiterung aushandelten, ließ sich ein Konsens der Elitengenerationen schließen, der dem reformierten System Stabilität verleiht. Gleichzeitig führt dieser Elitenpakt aber auch zu Skepsis in der Bevölkerung und kann Regierende und Regierte auseinandertreiben.
Einen empirischen Vergleich zur Bevölkerungsentwicklung in sechs mittel-und osteuropäischen Staaten nimmt Dajana Richter vor und untersucht ob es sich dabei um – dem westeuropäischen Trend entsprechend – alternde, schrumpfende Gesellschaften handelt. Sind sie aktuell noch relativ jung, wird sich Mittel- und Osteuropa „innerhalb der nächsten 20 bis 30 Jahre vom jüngsten in den ältesten Teil Europas verwandeln“ (S. 99). In der Prognose ist Tschechien das einzige Land mit leicht zunehmender Bevölkerung. Während Polen, die Slowakei und Estland leicht sinkende Einwohner_innenzahlen zu erwarten haben, ist der Trend für Lettland und Litauen deutlich drastischer. Der aktuellen Entwicklung folgend wird etwa Litauen bis 2030 annähernd 20% seiner Bevölkerung verlieren.
Der Stabilität des autokratischen Regimes von Belarus widmet sich Jeanette Wilfer und benennt Legitimität, Repression und Kooptation als die drei tragenden Messfaktoren des Machterhalts Alkjaksandr Lukaschenkas seit 1994. Ein andernorts zu Revolutionen führendes Nationalbewusstsein besteht in Belarus kaum, stattdessen legitimiert die Ideologie, dass der Staat für das Wohl des Volkes verantwortlich sei, dessen Machtanspruch, ist jedoch stets von der Wirtschaftslage abhängig. Als wichtiger Stabilitätsfaktor gilt die starke Repression, die sowohl Opposition als auch Zivilgesellschaft zu spüren bekommen. Die politische und wirtschaftliche Elite ist verhältnismäßig klein, verfolgt keine eigenen politischen Ambitionen und weiß um ihre Austauschbarkeit und stellt somit keinen Instabilitätsfaktor für die Regierung dar. Trotz Konflikten in der Energiepolitik und einer EU-Annäherung von Belarus ist die Bindung an Russland durch Subventionen und Exporte weiterhin stark und bildet eine ökonomische und politische Absicherung Lukaschenkas.
In Estland bildet die russischstämmige Bevölkerung mit fast 25% die größte Minderheit. Konrad Gerber fragt, ob diese ethnische Spaltung die Demokratieentwicklung im Land gefährde. Half die Fokussierung auf die estnische Identität zur Konsolidierung des neuen Staates und zum Wandel der politischen Eliten führte die „Bevorzugung der estnisch-ethnischen Majorität“ (S.143f.) zur „Ausgrenzung der ethnischen Minderheiten“ (S.144) und wirkt destabilisierend. Dadurch ist auch die politische Kultur stark von ethnisch-nationalen Zugehörigkeiten geprägt, etwa durch den Erfolg nationalkonservativer Parteien einerseits und dem starken Zuspruch der russischsprachigen Minderheit für die Zentrumspartei andererseits.
Sebastian Brückner gibt anhand eines Vergleiches einen Überblick der Beziehungen Russlands zu Polen und Ungarn. Sowohl Ungarn als auch Polen war nach 1989 eine schnelle Anbindung an den politischen Westen gelungen. Während Polen seine Energiezulieferung diversifizierte, blieb Ungarn von russischen Gaslieferungen abhängig. Auch wenn beide Länder ausreichend historische Gründe für eine antikommunistische Politik hätten, verlief die Abkehr und die Aufarbeitung des Kommunismus in Polen unter Kaczyński deutlich radikaler, was sich in auch in heutigen politischen Haltungen niederschlägt. Die Ukraine-Krise machte deutlich, dass Polen Russland vor allem als Bedrohung wahrnimmt, während Ungarn ein Interesse an guten Beziehungen hat, aber auch eine Partnerschaft Russlands anstrebt.
Joseph Walthelms Blick auf die Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten in Mittel-und Osteuropa vor, während und nach der Transformation zielt auf eine Einordnung in eine aus Westeuropa bekannten Typologie. Durch die Systemumbrüche des 20. Jahrhunderts mit grundlegenden wirtschaftlichen Veränderungen besteht in Mittel- und Osteuropa hingegen nur eine geringe Kontinuität der Wohlfahrtsregime. Nach 1989 stieg die Zahl der Leistungsempfänger_innen, Finanzierungslücken zeichneten sich ab. Während einige Länder am Umlageverfahren festhielten, entwickelten sich andernorts erwerbsabhängige und private Rentenvorsorgen. Walthelm gibt einen Überblick über verschiedene Modelle und der Verwobenheit von Krankenversicherung, Rentenversicherung und Sozialhilfe und stellt fest, dass ein Typologisieren nach bekannten Mustern in Ländern Mittel- und Osteuropas nicht zielführend ist.
Eine Bilanz der deutsch-tschechischen Beziehungen nach 1989 zieht Lukáš Novotný. Die Entwicklung ordnet er in drei sich überlappende Phasen der Konfrontation (bis 1991), des Kennenlernens (1991-1997) und der Kooperation (ab 1997) ein. Waren die Beziehungen auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene von Beginn an äußerst harmonisch, führte der Umgang mit den Vertreibungen von Deutschen nach 1945 regelmäßig zu Misstönen, insbesondere zwischen Bayern und Tschechien. Die Sudetendeutsche Landsmannschaft, eng mit der CSU verwoben, konnte sich kaum zu einer Entschuldigung für NS-Verbrechen durchringen forderte jedoch umgekehrt einen Ausgleich für die Vertreibungen; in diesem Punkt waren die Fronten verhärtet. Mit der Deutsch-Tschechischen Erklärung von 1997 wurden diese Wogen zwar nicht gänzlich geglättet, die darin enthaltenen Entschuldigungen und das Bekenntnis zu einer zukunftsorientieren Zusammenarbeit waren allerdings ein grundlegender Schritt, der die Phase der Kooperation einleitete. Novotný stellt abschließend bei Kooperationen eine Asymmetrie fest, Tschechien sei „stärker auf Deutschland fixiert als umgekehrt“ (S.191), die Zusammenarbeit sei bei allem weiteren Bedarf ein achtbares Ergebnis.
Die elf Artikel zeichnen – ohne den Anspruch auf Vollständigkeit – ein spannendes Panorama von Transformationsentwicklungen in vielen der Länder Mittel- und Osteuropas. Insbesondere die Diversität der Themen und der Regionen sind eine Stärke des Bandes, dessen dicht geschriebene Beiträge gleichermaßen einen Einblick in Theoriediskurse als auch in politische Diskussionen liefern.
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- 25/04/2018 - 06:36