Die Reformen des „Prager Frühlings“ und ihr Platz in der Geschichte Osteuropas
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Der Essay gibt einen Überblick zur Ereignisgeschichte des Prager Frühlings und zeigt die vertanen Chancen und Folgen aufgrund des militärischen Eingreifens der Sowjetunion auf. In diesen Zusammenhang stellt der Autor auch die spätere Rechtsentwicklung der tschechischen Gesellschaft.
Von Dieter Segert
Die in der Überschrift erwähnten Reformen sind nie vollständig realisiert worden. Sie haben trotzdem einen messbaren Einfluss auf die Geschichte Europas ausgeübt. Einerseits dadurch, dass sie den sozialistischen Versprechen zeitweise ein größeres Gewicht gaben. Dadurch unterstützten sie alle Kräfte, die eine sozial gerechtere Ordnung anstrebten. Der Wettbewerb der Systeme hat dazu beigetragen, den entwickelten westlichen Kapitalismus zu zivilisieren. Andererseits hat das Scheitern der Prager Reformhoffnungen die Krise des autoritären Sozialismus in Osteuropa vertieft und schließlich 1989 zu seiner Ablösung geführt.
Was aber war Inhalt jener Reformen? Wodurch wurden sie ausgelöst und vorangetrieben? Woran sind sie gescheitert? Schlagwortartig abgekürzt lässt sich die erste Frage so beantworten: Es ging im „Prager Frühling“ um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, um eine umfassende Demokratisierung und eine lebendige Öffentlichkeit sowie um die Herausbildung einer „sozialistischen Marktwirtschaft“.
Ursachen, Inhalt und Akteure der Reformen
Den unmittelbaren Anstoß der Reformen bildete 1961 die zweite sowjetische Destalinisierung. Tiefer verursacht wurden sie durch eine krisenhafte Wirtschaftsentwicklung der Tschechoslowakei sowie durch nationale Konflikte zwischen Tschech_innen und Slowak_innen. Was waren die wichtigsten Akteur_innen jenes Wandlungsprozesses? Die Wirtschaftsreformen wurden durch ein Bündnis zwischen Reformer_innen an der Parteispitze und einem Teil der Intelligenz vorangetrieben. Nachdem ein Teil der Führung davon überzeugt war, dass Strukturreformen nötig sind, wurde eine Gruppe von Ökonom_innen unter Ota Šik zu ihrem Motor. Ihre Ziele waren: 1) Die Unternehmen verblieben im Eigentum des Staates, aber durch mehr rechtliche Selbständigkeit und eine intensivere Beteiligung der Manager_innen sowie der Belegschaften sollte die Eigenständigkeit der Unternehmen gefördert werden. 2) Die zentralen Planvorgaben sollten in der Zahl reduziert und stärker durch indirekte Steuerung (Investitionsanreize, Steuerpolitik) erreicht werden. 3) Die Bevölkerung sollte stärker an der Auswahl der zentralen Planziele beteiligt werden. 4) Manager und Belegschaften sollten umfassend nach Leistung entlohnt werden. Ab dem Jahr 1965 wurde die Wirtschaftsreform schrittweise verwirklicht.
1968 kamen – nach einer personell veränderten Parteispitze – dann politische Reformen dazu: Nach der Ablösung des bisherigen Parteichefs durch Alexander Dubček rückten reformorientierte Parteimitglieder in die politische Führung ein. Dazu gehörten neben O. Šik (der stellvertretender Ministerpräsident wurde) auch Josef Smrkovský, František Kriegel und Zdeněk Mlynář. Die Zensur wurde ab März des Jahres schrittweise aufgehoben, was zu einem deutlichen Anstieg der freien Debatten in den Zeitungen, in Rundfunk und Fernsehen führte. In einem Aktionsprogramm der KP im April wurden eine Pluralisierung der politischen Debatten im Rahmen der „Nationalen Front“ sowie der Ausbau der Rechtsstaatlichkeit angekündigt. Die Rolle der Gerichte sollte gestärkt werden. Die „Staatssicherheit“ (Geheimpolizei), deren Macht im Staatssozialismus den Kern der autoritären Herrschaft bildete, sollte dem Staat deutlich untergeordnet werden. Im Aktionsprogramm hieß es dazu: „Jeder Bürger […] muss die Gewähr haben, dass seine politische Überzeugung, seine Ansichten, persönlichen Bekenntnisse und Beschäftigungen nicht Gegenstand der Aufmerksamkeit der Organe der Staatssicherheit sein können.“ (Segert 2008, S. 31)
Dadurch kam es zur Ausbildung einer aktiven Zivilgesellschaft, zur Gründung neuer, unabhängiger Zeitschriften und autonomer Verbände. Die Kommunistische Partei wollte ihre eigene Vorherrschaft dabei keinesfalls völlig aufgeben. Es sollte zumindest mittelfristig keine Mehrparteiendemokratie geben, eher ging es um eine politische Liberalisierung. Trotzdem waren die praktischen Veränderungen und die angekündigten Reformen für die Führungen der übrigen sozialistischen Staaten Anlass zu aggressiver Kritik. Es wurde behauptet, dass eine „Konterrevolution“ drohe. Dieser Begriff wurde immer dann verwendet, wenn man über eine gewaltsame Niederschlagung der Reformbewegungen nachdachte, so wie 1953 (DDR), 1956 (Polen, Ungarn) oder auch 1980/81 (Polen).
1968 wurde diese Kritik zunächst vor allem von den Führungen der DDR und Polens geäußert. Ab Mai war dann die sowjetische Parteiführung besonders aktiv. Sie übte Druck auf Alexander Dubček und andere tschechoslowakische Führer aus. Militärmanöver der Warschauer Vertragsstaaten in der Tschechoslowakei wurden von September auf Juni vorgezogen. Damit kamen Truppen der Sowjetunion ins Land. Bis dahin hatte es nämlich anders als in der DDR oder Ungarn keine ständige Stationierung von sowjetischem Militär gegeben.
Eine aufwachende Zivilgesellschaft
Im Land entwickelte sich in jenen Wochen eine von der Parteiführung relativ unabhängige Dynamik. Einerseits forderten Teile der Parteimitgliedschaft, v.a. Schriftsteller_innen und Wissenschaftler_innen, die eigene Führung zu energischerer Reform auf, andererseits entwickelten nichtkommunistische Persönlichkeiten und Gruppen eigene Vorstellungen. So forderte der Klub engagierter Parteiloser (KAN) in seinem Manifest echte Wahlen: „Der springende Punkt in den kommenden Monaten ist in unseren Augen die Durchführung demokratischer Wahlen, welche allein als geheime Wahlen mit separaten Listen einer gewissen Anzahl politischer Parteien und gleichermaßen unabhängiger Kandidaten denkbar sind.“ (Segert 2008, S. 39) Die reformorientierten Parteimitglieder initiierten u.a. das öffentliche Manifest „Zweitausend Worte“, in denen die eigene Partei dazu aufgefordert wurde, sich radikaler von den Fehlern der Vergangenheit zu distanzieren.
Die Parteiführung musste auf jene gegensätzlichen Forderungen von außen wie innen reagieren. Sie versuchte das, in dem sie zwischen der Forderung, die Reformen ganz zurückzunehmen und der, jene noch zu beschleunigen, lavierte. Dadurch wurde das Reformtempo verlangsamt. Es gab in der Parteiführung allerdings auch eine Minderheit, die schon damals den „Prager Frühling“ insgesamt ablehnte und gegen ihn mehr oder weniger offen auftrat. In jenen Wochen wurden Briefe von Belegschaften großer Industriebetriebe an die sowjetische Parteizeitung „Prawda“ organisiert, in denen der Schutz der „Errungenschaften des Sozialismus“ und der „Kampf gegen die Konterrevolution“ gefordert wurden.
Mitte August wurde der militärische Einmarsch und die gewaltsame Zerschlagung der Reformen durch die sowjetische Führung beschlossen. In der Nacht vom 20. zum 21. August war es soweit. Die Reformer_innen in der Parteiführung und Regierung wurden verhaftet und in ein sowjetisches Gefängnis gebracht. Der Präsident weigerte sich allerdings, eine provisorische Regierung einzusetzen, die das Land wieder unter autoritäre Kontrolle bringen sollte. Stattdessen forderte er den Beginn von Verhandlungen zwischen der verhafteten Führung und der sowjetischen Staatsführung.
Im Land setzten viele Menschen der militärischen Gewalt einen gewaltfreien und ideenreichen Widerstand entgegen. In den nächsten Monaten kam es immer wieder zu Protestaktionen. Allerdings gingen die Reformer_innen Kompromisse ein, um den Rest an Eigenständigkeit und Veränderung zu retten. Das misslang. Bis Ende 1970 wurden nicht nur die führenden Reformer abgesetzt, sondern auch Hunderttausende Parteimitglieder ausgeschlossen. Sie verloren wie auch die nichtkommunistischen Aktivist_innen des Jahres 1968 ihre bisherige Arbeit. Ausgebildete Akademiker_innen mussten als Fensterputzer_innen oder Heizer_innen arbeiten. Die Zeit der „Normalisierung“ war eine verlorene Zeit für die Entwicklung der Gesellschaft, die 1989 durch die samtene Revolution beendet wurde.
Das widersprüchliche Erbe des „Prager Frühling“
Im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung verblieb vom „Prager Frühling“ vor allem sein gewaltsames Ende in der Nacht zum 21. August. Das führte in den nachfolgenden Jahren dazu, dass die bisher stärker politisch links und sozialistisch orientierte tschechische Bevölkerung sich stärker antikommunistisch und nach rechts orientierte. Jedoch könnte der „Prager Frühling“ ebenso an die Hoffnungen erinnern, die mit einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verbunden gewesen waren. Er gehört zu den Versuchen einer Verbindung von politischer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit in der europäischen Geschichte, so wie auch der jugoslawische Selbstverwaltungssozialismus oder aber die Erfolge einer sozialdemokratischen Zivilisierung des Kapitalismus in West- und Nordeuropa seit 1918. Ohne den massenhaften demokratischen Lernprozess von großen Teilen der aktiven Bevölkerung, den der „Prager Frühling“ ermöglicht hat, wäre die erfolgreiche Demokratisierung nach 1989 wohl nicht möglich gewesen.
Zitierte Literatur
Dieter Segert: Prager Frühling. Gespräche über eine europäische Erfahrung, Bonn: Schriftenreihe der bpb 722, 2008.
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- 28/03/2018 - 06:34