Antiziganismus und Gesellschaft. Soziale Arbeit mit Roma und Sinti aus kritisch-theoretischer Perspektive
Von Ingolf Seidel
Antiziganismus scheint, ebenso wie Antisemitismus, ein beständiges Ressentiment zu sein, dass sich in Worten, Gewalttaten und in Form von institutioneller Diskriminierung immer wieder Bahn bricht. Im Vergleich mit der Antisemitismusforschung ist die Erforschung von Antiziganismus noch ein junger Forschungszweig. Gemeinsam ist beiden Ideologien, dass sie in ihrer modernen Form in der Aufklärung, also im Aufkommen der nationalstaatlichen Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Verständnis von Arbeit, fußen.
André Lohse hat mit seinem Buch „Antiziganismus und Gesellschaft“, basierend auf seiner Promotion in den Erziehungswissenschaften, eine Untersuchung vorgelegt, die sich der antiziganistischen Struktur, aus Sicht der Kritischen Theorie, bzw. der aus ihr hervorgegangenen analytischen Sozialpsychologie, annimmt. Dabei orientiert sich Lohse nicht ausschließlich an den Schriften Max Horkheimers und Theodor Adornos zum autoritären Charakter, sondern zieht in weiten Passagen Herbert Marcuses Überlegungen zum „eindimensionalen Menschen“ in der nachbürgerlichen Gesellschaft heran, die in der Rezeption als wesentlich näher an gesellschaftlichen Praxen gelten, als die Arbeiten der beiden anderen. Die autoritäre Persönlichkeit wie die Kritische Theorie sie analysiert zeichnet sich aus durch eine unreflektierte Bindung an soziale Normen und Werte, die sich in starker und steifer Konventionalität und einem Hang zum Konformismus ausdrückt. Autoritätsgebundene Individuen ordnen sich in der Regel Autoritäten unter, wobei sie ihre eigene, real erfahrene Ohnmacht aggressiv kompensieren. Die Grundlage des kritisch-theoretischen Modells ist also die Herrschaftsinternalisierung der Einzelnen, die gefangen sind in der sadomasochistischen Dialektik von Bemächtigung und Unterwerfung. Darüber hinaus zieht der Autor Michel Foucaults machttheoretische Überlegungen über die Disziplinargesellschaft zur Analyse des gesellschaftlichen Entstehungszusammenhangs von Antiziganismus heran.
Lohses Arbeit ist in drei Oberkapitel untergliedert: „Antiziganismus in der bürgerlichen Gesellschaft“, „Antiziganismus in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“ und „Zur Sozialpädagogisierung des antiziganistischen Ressentiments“. In den beiden ersten Kapiteln wird eine Kritische Theorie des Antiziganismus diskutiert, die im letzten Abschnitt auf die Soziale Arbeit bezogen wird.
Das erste Kapitel beginnt mit einer begrifflichen Diskussion des Ressentiments. Dies ist für die Soziale Arbeit, aber auch den Bereich der außerschulischen Bildung schon deshalb relevant, da die begrifflichen Kategorien Vorurteil und Ressentiment häufig synonym und unklar benutzt werden. Ressentiment wird in den Ausführungen Lohses begrifflich der geschichtlichen Dimension von Vorurteilen, die sich gegen Sinti und Roma richten, zugeordnet. Lohses Bezugspunkt ist die „Psychologie des Ressentiments“ von Nietzsche sowie Max Schelers Nietzsche Rezeption. Der Autor zielt damit auf den „Blick des Kleinbürgertums, des an die Moral adaptierten Leistungssubjekts, das, am Übergang von der mittelalterlichen Gesellschaft zum Konkurrenzsystem der frühkapitalistischen Gesellschaft stehend, jene emotionale Peripherie von Moral, Arbeitsethos und ihren naturhaften Gegenspielern bildet, auf deren Grundlage es das antiziganistische Thema ‚fremd, faul und frei’ ausformt.“ (S. 23). Wie der Antisemitismus beruht das antiziganistische Ressentiment auf den abgespaltenen Wünschen und Aggressionen des bürgerlichen Subjekts, die es auf ein so wahrgenommenes Anderes pathisch projiziert. Während jedoch Lohse zufolge sich der Antisemitismus gegen bedrohlich wirkende Impulse aus der Über-Ich-Struktur wendet, richtet sich im Antiziganismus die Abwehr gegen scheinbar antigesellschaftliche Es-Impulse. Ersteres wird in den antisemitischen Verschwörungsmythen von allmächtigen Juden und deren angeblicher Lobby deutlich. Im Unterschied dazu werden Sinti und Roma als vorzivilisatorisch perzipiert. Das Bild des „Zigeuners“ entspricht dabei dem inneren Feind, der Unlust zur Unterordnung unter den Zwang zu Lohnarbeit und Sesshaftigkeit, der im Äußeren bekämpft wird. Die Bilder von Sinti und Roma werden zu „anarchische(n) Negativbilder(n) bürgerlicher Werte“ (S.185). Damit funktionieren Antiziganismus und Antisemitismus als komplementäre Projektionsstrukturen.
Auch in der nachbürgerlichen Industriegesellschaft werden diese Strukturen nicht durchbrochen. Lohse zufolge ist in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft die „Austreibung des Fremden aus dem Gebiet der Nation (auf gesellschaftlicher Ebene) (...) eine permanente Selbstaustreibung (auf innerpsychischer Ebene), deren Quelle nicht versiegen kann, solange Entfremdung und unerfüllte, reale Möglichkeit zur Befreiung gleichzeitig fortdauern“ (S. 154). Anschließend an Marcuse argumentiert Lohse, dass die Entsublimierung repressiven Charakter habe und zu einer neuen Qualität „lustvoller Unterwerfung“ (S.97) führe. In der Folge stelle sich die Frage, ob das antiziganistische Ressentiment in den fortgeschrittenen Industriestaaten nicht eher verstärkt würde (vgl. S.99).
Im Abschlusskapitel konzentriert sich Lohse auf „das Feld der Sozialen Arbeit als vergesellschaftende Institution“ (S.188), die sich Sinti und Roma in pädagogisierender Weise zum Objekt ihrer Arbeit erklärt und dabei kontrollierend wirkt. „Letzteres geschieht nun gewissermaßen definierend, denn wenn ‚Roma und Sinti als Roma und Sinti’ zur potenziellen Zielgruppe der Sozialen Arbeit erklärt werden, dann trifft sie auch die Kontrolle als jene spezifisch ethnische Gruppe“ (S.213). Die Kontrollfunktion selbst ist hier schon ethnozentrisch, da sie auf virulenten Zigeunerbildern basiert und zugleich wird die Minderheit unter dem Blickwinkel einer vorgeblich notwendigen ‚Normalisierung’ betrachtet. Aus diesem Verstrickungsverhältnis Sozialer Arbeit heraus formuliert Lohse als allgemeine Zielsetzung, dass sich eine kritische Soziale Arbeit mit Sinti und Roma der eigenen „gesellschaftlich-historischen Bedingtheiten“ (S.230) nicht nur bewusst sein müsste, sondern sich als Kritik zu formulieren habe, die „an der gesellschaftlichen Funktion von Sozialer Arbeit an(setzt, IS), die ihrerseits sich von den gegenwärtigen Wissensbeständen über ‚Zigeuner’ bisher nicht lossagen konnte“ (230). Die Kritik der Sozialen Arbeit mit Sinti und Roma ist für Lohse demzufolge nicht loszulösen von der Kritik des Antiziganismus.
André Lohse faltet die komplexen Zusammenhänge von Individuum, Gesellschaft und Ressentimentstruktur grundlegend auf. Diese Themensetzung bedingt es, dass seine Arbeit kein nebenbei zu konsumierendes Werk ist. Gleichzeitig liegt hierin die Stärke der Ausführungen, die den_die Leser_in zum Nachdenken und zur (Selbst-)Reflexion anhält. Lohses Ausführungen über Soziale Arbeit als „Agentur der Gesellschaft“ (Erich Fromm) sind auf den Bereich (historisch-)politischer Bildungsarbeit und die Schule übertragbar. Lohses Plädoyer, sich den Fragen, auf welche antiziganistischen Bilder Lehrende und andere Pädagog_innen unbewusst zurückgreifen und wo sie Sinti und Roma als Objekte sehen, die es zu ‚integrieren’ und zu ‚normalisieren’ gilt, theoriegeleitet zu stellen ist ein wichtiger Beitrag zur Diskussion. Die grundlegende Prämisse der Sozialen Arbeit sollte darin liegen, nicht Projekte für oder über Roma zu machen, sondern möglichst Angehörige der Minderheit selbst einzubinden und von ihren Perspektiven zu lernen.
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- 02/10/2017 - 06:37