Dialogue

Zwischen moralischem Kompass und politischer Indienstnahme. Jugendliche erforschen Religion und Glauben in der Geschichte

Content-Author Profile / Contact

Content-Author: Ingolf Seidel

You have to be logged in to view the profile
and to contact the author.

Click here to register

Die Historikerin Carmen Ludwig leitet den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten bei der Körber-Stiftung. Sven Tetzlaff ist Sozial- und Wirtschafthistoriker. Seit 2008 leitet er den Bereich Bildung der Körber-Stiftung.

Von Carmen Ludwig und Sven Tetzlaff

„Gott und die Welt. Religion macht Geschichte“ - so lautete die 25. Ausschreibung des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten 2016/2017. Der Wettbewerb griff damit ein Thema auf, das in den Medien regelmäßig präsent ist und für Schlagzeilen sorgt: Von der Debatte zur sogenannten christlichen Leitkultur über das Verhältnis der Kirchen zur „Ehe für alle“ bis hin zur Frage des Zusammenhangs von Gewalt und Religion. So aktuell das Wettbewerbsthema auf der einen Seite war, so wenig war es bei Ausschreibungsstart auf der anderen Seite vorhersehbar, ob es Kinder und Jugendliche tatsächlich reizen würde, zur Geschichte von Glaube und Religion in ihrem persönlichen und lokalen Umfeld auf Spurensuche zu gehen. Nach Einsendeschluss war klar: Das Wettbewerbsthema hat mobilisiert. 1.639 Beiträge von 5.064 Schülerinnen und Schülern (der Anteil der Mädchen lag bei 59,8%) gingen bei der ausrichtenden Körber-Stiftung ein. Im Vergleich zu den vorangegangenen Wettbewerbsrunden zeigte sich, dass die Beteiligung zum vierten Mal in Folge gestiegen war. Dazu trug auch eine erstaunlich rege Beteiligung in den östlichen Bundesländern bei. Auch wenn die gesellschaftliche Bedeutung von Kirche und Religion von Staats wegen in der DDR massiv zurückgedrängt worden war, schlug sich das Erbe des staatlich verordneten Atheismus nicht in einem mangelnden Interesse an dem Thema bei jungen Leuten nieder.

Auf zahlenmäßig sehr hohem Niveau beteiligten sich die Gymnasien am Wettbewerb. Ihr Anteil lag bei 86,8% gegenüber den Gesamtschulen mit 6,7% und den Haupt- und Realschulen mit 3,2%. 1.423 Beiträge waren von 699 Tutoren_innen betreut worden. Die Teilnehme_innen nahmen in ihren Projekten ein breites Spektrum an Themen in den Blick. Es reichte von der friedensstiftenden und karitativen Rolle von Kirche und Religion über politische Instrumentalisierungen bis zum Einfluss auf die persönliche Lebensführung und den gesellschaftlichen Umgang mit Werten. Auch wenn über 50% aller Beiträge einem Beispiel aus der Zeitgeschichte nachgingen, wählten immerhin noch knapp 20% auch Themen aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit. Allein 100 Projekte widmeten sich den Auswirkungen der Reformation vor Ort, hier dürfte nicht zuletzt die Luther-Dekade Inspirationen geboten haben.

Auf Spurensuche vor Ort in Familien und Archiven

Wie haben sich die Teilnehmer_innen dem Thema genähert, wo sind sie auf Spurensuche gegangen und was haben sie forschend und entdeckend erkundet? Für viele ging es zu Beginn ihrer Recherche zunächst darum, sich persönlich mit dem Thema auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, welche Rolle Glaube und Religion für sie spielen. Dabei kaum auch die eigene Familiengeschichte in den Blick. „Ich habe bei der Arbeit für den Wettbewerb sehr viele Dinge über meine Familie erfahren, von denen ich bisher noch nichts wusste: Welchen Weg sie gegangen sind, was sie dabei erlebt haben, warum unsere Familie über die ganze Welt verteilt ist und welche Bedeutung der Glaube, auch meiner, dabei spielt“, resümiert Anna-Viviane, 6. Klasse, aus Berlin, die in ihrem Beitrag erforscht hat, inwiefern ihre jüdischen Urgroßeltern in der Zeit des Nationalsozialismus religiös motivierte Nächstenliebe erfahren haben. Für andere Teilnehmer_innen bot sich eine Spurensuche innerhalb der Familie nicht an. „Weder meine Familie in Deutschland, noch jene in den Niederlanden beschäftigte sich in der Vergangenheit viel mit der eigenen oder anderen Religionen. Ich entschied mich somit für einen regionalen Bezug“, schreibt die 18-jährige Adriana aus Mosbach zu Beginn ihrer Arbeit, in der sie sich mit dem Bau der Moschee in ihrem Wohnort Anfang der 1990er Jahre auseinandersetzte.
Wie Adriana zog es knapp 40 Prozent der jungen Spurensucher_innen zur Recherche in Archive. „Die alten Akten und Zeitungen waren hochspannend für mich. Durch das Forschen im Archiv wurde mein Thema lebendig, ich konnte die Erlebnisse und Erfahrungen der Personen besser verstehen und mich in sie hineinversetzen“, fasst Adiza, 10. Klasse, aus Bremen, zusammen. Im Staatsarchiv Bremen erhielt die Schülerin unter anderem Einblicke in die Wiedergutmachungsakten von zwei im Nationalsozialismus verfolgten Zeugen Jehovas. Für viele der jungen Forscher_innen war die Archivrecherche Neuland. „Es war sehr spannend für mich, die alten Quellen tatsächlich in der Hand zu halten und zu lesen. Man fühlt sich so, als würde man Detektivarbeit machen, weil man sich Zusammenhänge erschließen muss und das Geschehene mit den Quellen wie ein Puzzle zusammensetzt“, beschreibt die Zehntklässlerin Isabelle aus Münster ihre Recherche über übersinnliche Fähigkeiten und religiöse Wunder im 19. Jahrhundert am Beispiel einer Ordensschwester.

Wertefragen im Mittelpunkt

Im Spektrum der behandelten Themen zeigen sich größere Schwerpunkte bei Ausgrenzung und Verfolgung aufgrund der Religionszugehörigkeit (200 Beiträge), dem Verhältnis zwischen Staat und Kirche (160 Beiträge) und religiösen Traditionen und Bräuchen (150 Beiträge). Mehrheitlich gingen die Teilnehmer zum Christentum auf Spurensuche. Wie sich religiöse Feste wie die Konfirmation oder die Eheschließung wandelten, griffen gleich mehrere Teilnehmer_innen auf. So forschten beispielsweise die Schülerinnen Kelly-Christin und Maike aus Lebach im Saarland zur interkonfessionellen Ehe zwischen Katholiken und Protestanten und fragten, wie sich die Situation von „Mischehen“ im Laufe der Zeit wandelte und wie die Kirchen darauf reagierten. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche wurde insbesondere mit Blick auf die Rolle der Kirche im Nationalsozialismus und die Stellung der Kirche in der DDR bearbeitet. Eine neunköpfige Schülergruppe von Acht- und Neuntklässler_innen aus Erfurt ging der Frage nach, inwiefern das Leben von gläubigen Christen in der DDR durch den Staat beeinflusst wurde und wie es sich nach 1989 veränderte. Ihre Ergebnisse stellten sie in einem 45-minütigen Dokumentarfilm zusammen. Das Resümee: „Anhand der geführten Interviews erkannten wir, welche Risiken manche Christen in der DDR auf sich nahmen, um ihren Glauben und ihre Überzeugungen zu leben. Die Lebenswege unserer Zeitzeugen zeigen, dass es mit Einschränkungen auch in der DDR möglich war, sich als Christ mit dem Staat zu arrangieren. Nichtsdestotrotz erkannten wir, je mehr wir an unserem Projekt arbeiteten, dass die Freiheit des Glaubens und der eigenen Überzeugungen ein kaum zu überschätzendes Privileg unserer heutigen Zeit ist“.

Auf großes Interesse stießen bei den Teilnehmern_innen Beispiele von Menschen, die in Wertkonflikte gerieten. Katinka, 12. Klasse, aus Hamburg, untersuchte etwa das Verhalten des Hamburger Pastors Peter Hansen Petersen während der NS-Zeit. Sie wollte wissen, wie sich der persönliche Glaube und der Beruf als Pastor auf seine Einstellungen und sein Handeln auswirkten. Anhand von biographischen Quellen, Literatur und Gesprächen rekonstruierte sie verschiedene Lebenssituationen des Pastors. Seinen couragierten Einsatz für jüdische Gemeindemitglieder konnte sie belegen, unklar blieb jedoch, ob Petersen Mitglied in der NSDAP war, da sich die Aussagen in den Quellen widersprachen. „Deshalb sehe ich es persönlich als besonders wichtig an, zu erforschen, welche Situationen tatsächlich quellenmäßig belegt sind“, resümiert die Schülerin. Das Interesse an Themen aus der NS-Zeit war auch in dieser Runde des Geschichtswettbewerbs wieder hoch. Über 20% aller Beiträge beschäftigten sich mit dieser Epoche der deutschen Geschichte.

Plädoyer für Toleranz

Als besonders von religiöser und kultureller Diskriminierung betroffene Gemeinschaften identifizierten die Wettbewerbsteilnehmer_innen Juden und Muslime. Zum jüdischen Leben in Vergangenheit und Gegenwart arbeiteten 164 Wettbewerbsprojekte. Dabei stand für viele Teilnehmer_innen im Fokus, die Vergangenheit aufzuarbeiten und nach den Lehren aus der Geschichte zu fragen. Die Zwölftklässlerin Judith aus Wittlich in Rheinland-Pfalz beispielsweise lernte im Rahmen einer Stolpersteinverlegung in der Nähe ihres Wohnortes Angehörige der jüdischen Familie Geisel kennen. Leopold Geisel starb 1935 im Alter von 59 Jahren. Seine Ehefrau Helene wurde 1941 ins Ghetto Lodz/Litzmannstadt deportiert, ein Jahr später im Vernichtungslager Kulmhof ermordet. Die Schülerin wollte wissen, welche Rolle der Glaube für das Ehepaar spielte und wie dieser im Nationalsozialismus gelebt werden konnte. In ihrem Beitrag unterstrich sie die besondere Bedeutung der Erinnerung an die NS-Verfolgten: „Erinnerung ist anstrengend. Diese Anstrengung lohnt sich jedoch, um ein Gefühl für Unrecht zu entwickeln sowie Demokratiefähigkeit und Zivilcourage zu stärken“.

59 Beiträge beschäftigten sich mit dem Islam. Im Vordergrund standen dabei häufig Fragen der Wahrnehmung von Muslim_innen durch die christliche Mehrheitsgesellschaft. In ihrer Arbeit zu den sogenannten „Türkenkriegen“ vom 16. bis 20. Jahrhundert hob Carina, 9. Klasse, aus Münster beispielsweise hervor, dass die wachsende Intoleranz gegenüber Muslim_innen in der Vorverurteilung und einer fehlenden Differenzierung zwischen Muslim_innen und Islamisten liege.
Wie Toleranz und gesellschaftliches Miteinander im Alltag umgesetzt werden können, war für die Schüler_innen ein zentraler Aspekt. „Religion und damit die Identität jedes Einzelnen in einer Gesellschaft ist wichtig, wobei jeder die Religion des Anderen respektieren und bei sich die Fähigkeit erwecken muss, eigene, auch extreme Meinungen mit den Augen des anderen zu sehen, abzuwägen und gegebenenfalls zu relativieren. Das ist die Basis eines toleranten, friedlichen Miteinanders in unserer Gesellschaft“, betonen Bjarne und Adrian aus Buxtehude nach ihren Recherchen zur Entwicklung der muslimischen Gemeinde im Großraum Hamburg seit den 1960er Jahren. Niclas aus Reutlingen zog in seiner Arbeit über die islamische Gemeinde in seinem Wohnort das Fazit: „Der Islam ist heute nach den beiden christlichen Konfessionen die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft Reutlingens. Ich finde, dass die Muslime auf jeden Fall ein fester Bestandteil dieser Stadt sind. Für alle begann die Zugehörigkeit, als sie sich integrierten und die Gesellschaft durch den interreligiösen Dialog bereicherten“.

Glaube und Religion als moralischer Kompass

In den Arbeitsberichten der Jugendlichen wird deutlich, dass viele dem Thema Glaube und Religion am Anfang ihrer Projekte eher distanziert gegenüberstanden. Manche spontane Reaktion klang wie die des 17-jährigen Paul aus Hamburg: „Mein Gott, das ist ja für mich als Atheisten gar nichts!“ Dennoch fand er schnell einen Zugang zum Thema über das Leben seines Urgroßvaters, der als evangelischer Pfarrer und Mitglied der sogenannten Bekennenden Kirche im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv war. Paul stellt fest: „Auch wenn sich der christliche Glaube von Wilhelm Fresenius bei seinen Nachkommen immer mehr verflüchtigt hat, sein Erbe des Widerstands hat er an seine Nachkommen weitergegeben.“ Die Teilnehmer_innen entdeckten, dass Religion für viele Menschen als moralischer Kompass Halt und Orientierung im Leben gab. „Es war für mich eine ganz neue Erkenntnis, dass die Religion einem Menschen so viel Willen, Kraft und Mut geben kann – oder wie das Sprichwort sagt: ›Der Glaube versetzt Berge‹“, schreibt der Siebtklässler Brand-Loïc aus Berlin.

Neue Erfahrungen machten die Teilnehmer_innen nicht nur durch die Auseinandersetzung mit dem Wettbewerbsthema. Auch ihr Blick auf methodische Vorgehensweisen und Grenzen geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis wurde geweitet, wie drei Neuntklässler_innen aus Dresden am Ende ihres Projektes festhielten: „Wenn wir etwas für alle Zeiten gelernt haben, dann das, dass alle Dinge am besten aus vielen Perspektiven zu betrachten sind, dass ‚gut’ oder ‚schlecht’ oft nicht eindeutig als Prädikat vergeben werden können, sondern die meisten Sachen ihre guten und schlechten Seiten haben, dass ‚konservativ’ nicht ‚überholt’ bedeuten muss, dass in ideologisierten Quellen ordentlich zwischen den Zeilen gelesen werden muss, dass Geschichte nicht Geschichte ist, sondern immer das Erzählen aus einer bestimmten Position in der Gegenwart über das Vergangene, in das sich einem nur ein gewisser Einblick ergibt.“

Literatur

Bodo von Borries: „Forschendes historisches Lernen“ ist mehr als „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“. Rückblick und Ausblick, in: Heuer, Christian und Pflüger, Christine (Hrsg.): Geschichte und ihre Didaktik. Ein weites Feld… Unterricht, Wissenschaft, Alltagswelt. Gerhard Schneider zum 65. Geburtstag; Schwalbach/Ts. (Wochenschau) 2009, 130-148.

Stefan Frindt / Sven Tetzlaff: „Der Geschichtswettbewerb als Labor für eine demokratische Geschichtskultur“ in: Michael Sauer (Hg.): Spurensucher. Ein Praxisbuch für die historische Projektarbeit, Hamburg 2014, S. 352-367.

Sven Tetzlaff: „Gott und die Welt. Religion macht Geschichte“. Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2016/2017, in: Geschichte für heute (Glaubensfragen), Jg. 9 (2016), Heft 4, S. 85-93. 

 

Add comment

CAPTCHA
This question is for testing whether you are a human visitor and to prevent automated spam submissions.
Image CAPTCHA
Enter the characters shown in the image.