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Gedenkstättenpädagogik im Zeitalter der Globalisierung. Forschung Konzepte, Angebote

Von Christian Schmitt

Mit seiner Definition einer deutschen Leitkultur hat Innenminister Thomas de Maiziere jüngst eine überflüssige Debatte erneut angestoßen und dabei alle Aspekte von Pluralität und Lebensvielfalt in einer globalisierten Gesellschaft ignoriert. Argumente, die gegen die Konstruktion einer solchen Leitkultur sprechen, lassen sich auch auf dem Gebiet des historischen Lernens anbringen. Sie sehen Kultur als „nichts Einheitliches, Fixiertes und Unveränderliches“ (S.142) und plädieren für die zunehmende Notwendigkeit einer interkulturellen Pädagogik, „die prinzipiell die Gleichwertigkeit von Kulturen in einer Gesellschaft anerkenn[t], die durch eine migrationsbedingte Pluralität gekennzeichnet ist“ (ebd.). Bünyamin Werker geht in seinem Buch „Gedenkstättenpädagogik im Zeitalter der Globalisierung“ der Frage nach, wie NS-Gedenkstätten in Deutschland auf diese Herausforderung reagieren.

Neue Erinnerungsgemeinschaften partizipieren am kollektiven Gedächtnis

Die Grundfrage hat in der Vergangenheit bereits Micha Brumlik gestellt und wird vom Autor des vorliegenden Buches aufgegriffen: „Globalisierung und Gedenkstättenpädagogik – wie passt das zusammen?“. Die fünf Kapitel widmen sich insbesondere dem Umstand, dass heute vielen Besucher_innen deutscher NS-Gedenkstätten andere Genozide näherliegen als der Holocaust, sei es aufgrund biografischer Verbindungen oder gar aufgrund eigener Erfahrung. Um diesen Zusammenhängen nachzugehen, vertieft Werker zunächst aus einer historischen Perspektive die Funktion von NS-Gedenkstätten als Orte der Erinnerungskultur und des historisch-politischen Lernens und zeichnet dabei die Entwicklungen nach, die in Deutschland zu einer „Pädagogisierung“ (S.64) der Erinnerung an den Nationalsozialismus geführt haben. Im zweiten und dritten Kapitel folgt eine Bestandsaufnahme dessen, was die Forschung in der Vergangenheit auf den Gebieten der Erinnerungskultur und Gedenkstättenpädagogik in Bezug auf die Globalisierungsthematik geleistet hat. Das vierte Kapitel untersucht die Konzepte von Gedenkstätten auf die Frage, ob und in welcher Form das Thema Globalisierung berücksichtigt ist, bevor das abschließende Kapitel konkrete pädagogische Angebote von NS-Gedenkstätten betrachtet.

Am Ende des ersten Abschnitts entwickelt Werker zwei Grundthesen, an denen sich seine Untersuchung im weiteren Verlauf orientiert. Dies ist zum einen die Annahme, dass sich der Prozess wandelbarer gesellschaftlicher Strukturen auf den institutionellen Gedächtnisrahmen von Gedenkstätten auswirken kann; insbesondere dann, wenn „neue Erinnerungsgemeinschaften […] am kollektiven Gedächtnis partizipieren (wollen)“ (S.64). Die zweite Annahme ist, dass mit dem Sterben der Zeitzeug_innen „eine authentische und emotional geprägte Perspektive“ (S.65) auf den Nationalsozialismus verschwindet und diese Geschichte in naher Zukunft ausschließlich medial vermittelt werden kann. Dies stellt Gedenkstätten vor die Herausforderung, „die symbolischen Codes der historischen Orte nationalsozialistischer Verbrechen mit angemessenen Medien in die Sprache nachfolgender Generationen zu übersetzen“ (ebd.).

Neuausrichtung der Ziele von Geschichtsvermittlung

Nach der umfangreichen Rezeption vergangener Studien und Publikationen betrachtet Werker die Gedenkstättenpädagogik aus einer interkulturellen Perspektive und betont angesichts der heterogenen Zusammensetzung der deutschen Einwanderungsgesellschaft die zunehmende Wichtigkeit der „Anerkennung und Vermittlung unterschiedlicher Geschichtsbilder im pädagogischen Umgang mit dem Holocaust“ (S.141). Er zitiert die Forderung Dietmar von Reekens nach einer Diskussion über eine Neuausrichtung der Ziele von Geschichtsvermittlung. „Welche historische Orientierung [brauchen] Jugendliche in einer von Multiethnizität und Globalisierung geprägten Gesellschaft“ (ebd.)? Weiterhin rezipiert er das Konzept des interkulturellen Geschichtslernens und formuliert das Ziel, bei den Lernenden „‘die Förderung der Wahrnehmung der kulturellen Geprägtheit des eigenen historischen Denkens und seiner zumindest partiellen Kontingenz‘ zu unterstützen“, ebenso wie „die Fähigkeit, mit unterschiedlichen Interessen, Normen, Werthaltungen und Deutungsmustern umzugehen“ (S.143). In der Folge erarbeitet Werker in Anlehnung an Andreas Körber, Bettina Alavi, Bodo von Borries und weitere Geschichtsdidaktiker_innen Kategorien und Bedingungen interkulturellen Geschichtslernens. Er weist darauf hin, dass Überlegungen speziell zum Thema Holocaust bislang weder für das schulische, noch für das außerschulische Lernen kaum erfolgt sind.

Das Buch porträtiert zwei Projekte mit Vorreiterrolle, die beide auch in früheren LaG-Ausgaben vorgestellt wurden: Zum einen das Konzept „Konfrontationen“ von der pädagogischen Abteilung des Fritz-Bauer-Instituts, dass sowohl für die schulische als auch für die außerschulische Bildungsarbeit zu Holocaust und Nationalsozialismus geeignet ist. Werker hebt hierbei den Schwerpunkt des Konzepts auf der Interkulturalität im Lernprozess hervor; innerhalb der Lerngruppe soll an einem „gemeinsamen ‚historischen Gedächtnis‘“ zum Holocaust gearbeitet werden. Das schließt auch etwaige Diskriminierungserfahrungen der Teilnehmenden mit ein, wobei die Differenz zwischen ihren eigenen Erfahrungen und denen von Menschengruppen im Nationalsozialismus sichtbar gemacht werden soll.

Drei Globalisierungsprozesse an NS-Gedenkstätten

Vorgestellt wird außerdem der Dokumentenkoffer „Geschichten teilen“, der in Zusammenarbeit des Vereins Miphgasch/Bewegung e.V. und der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz entstanden ist. Die Materialien bedienen den oft wahrgenommenen Wunsch der an den Projekten dieser Institutionen teilnehmenden Jugendlichen, sich mit den deutsch-türkischen Beziehungen in der Zeit des Nationalsozialismus und mit der Rolle der Türkei im Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen, wobei Werker die Multiperspektivität der Dokumente als herausragende Stärke des Projekts betont.

Das abschließende Kapitel des Buches stellt zunächst einige grundlegende didaktische Überlegungen an und stellt daran anknüpfend eine empirische Analyse einiger NS-Gedenkstätten im Hinblick auf Spuren der Globalisierung in ihren pädagogischen Angeboten an. In der Arbeit der Gedenkstätten macht Werker drei Globalisierungsprozesse aus: „Universalisierung [in der] Bearbeitung der Geschichte des Holocaust im Kontext der Menschenrechtsbildung[,] Europäisierung [in der] Bearbeitung […] aus unterschiedlichen Länderperspektiven Europas [und] Pluralisierung [in der] Bearbeitung […] mit einer multiperspektivisch-interkulturellen Didaktik“ (S.274). Insgesamt habe – so Werkers Einschätzung – die Gedenkstättenpädagogik in Deutschland bereits damit begonnen, die Geschichte des Holocaust pädagogisch in einen globalen Kontext einzubetten, ohne sie aus ihrem nationalen Kontext herauszulösen.

Zusammenfassung

Bünyamin Werker stellt in seinem Buch „Gedenkstättenpädagogik im Zeitalter der Globalisierung“ eine komplexe Untersuchung über Fragen des interkulturellen Lernens an deutschen NS-Gedenkstätten an. Das Werk widmet sich relevanten Entwicklungen, Problemlagen und Potentialen und bietet darüber hinaus eine umfangreiche Zusammenfassung des Forschungsstandes. Mit der abschließenden empirischen Analyse werden die vorangegangenen Überlegungen einem Praxistest unterzogen, der dem Buch zusätzliche Relevanz verleiht.

Literatur

Bünyamin Werker: Gedenkstättenpädagogik im Zeitalter der Globalisierung. Forschung Konzepte, Angebote, Waxmann Verlag, Münster 2016. 309 Seiten, 39,90 Euro.

 

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