Dialogue

Gemeinschafts-Dialoge am Alexander Haus - ein Überblick zum Projektbeginn

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Julia Haebler, Opernregisseurin und Master in Arts Administration, arbeitet seit Januar 2017 als Programmleiterin des Alexander-Haus e. V. Sie bringt eine langjährige Erfahrung im Bereich der Projektkonzeption und -realisierung, der Arbeit im professionell künstlerischen Setting, der Arbeit unter Einbindung von Laien sowie der Arbeit im therapeutischen Bereich mit.

Von Julia Haebler 

Einleitung

Dr. Alfred Alexander, ein prominenter deutsch-jüdischer Arzt aus Berlin und Präsident der Berliner Ärztekammer, ließ das Alexander Haus 1927 als erstes Wochenendhaus am Groß Glienicker See errichten. 1936 musste die Familie nach London fliehen und von vorne beginnen. Am Beispiel der fünf Familien, die seit seiner Entstehung darin gewohnt haben, macht das Haus die Geschichte des 20. Jahrhunderts erlebbar. Die Berliner Mauer verlief durch den Garten und prägte – die Bewohnenden vom See trennend – deren Alltag. 2013 gründeten Groß Glienicker_innen und Mitglieder der Familie Alexander den Alexander Haus e.V.

Vision

Europa ist wieder Zeuge von Islamismus und Rechtsextremismus sowie Rassismus in all seinen Ausprägungen. Der Alexander-Haus e.V. vertritt die Überzeugung, dass Geschichte und Erinnerung genutzt werden müssen, um gemeinsam aus der Vergangenheit lernend eine tolerante, integrative wie mutige Zukunft zu bauen.

Das Alexander Haus erarbeitet Modelle zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts und ist ein Ort, in dem Kreativität und Vielfalt gedeihen. Als interreligiöses und multigeneratives Drehkreuz strebt der Verein starke, vertrauensvolle Partnerschaften mit öffentlichen und privaten, deutschen und ausländischen Institutionen an, die sich ähnlichen Werten verpflichtet fühlen. Das Alexander Haus arbeitet mit und für den 2003 nach Potsdam eingemeindeten Ortsteil Groß Glienicke. Gleichzeitig wirkt und strahlt es weit über die Ortsgrenzen hinaus. 

Beginn

Eine finanzielle Förderung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ermöglicht dem Alexander Haus e.V. als bundesweit erstem Veranstalter, ein Jahr Erfahrungswerte mit Gemeinschafts-Dialogen zu sammeln, zu experimentieren und zu lernen. Amanda Harding, Projektinitiatorin und im Vereinsvorstand tätig, begleitet die Umsetzung als Mentorin. Programmleiterin Julia Haebler konzipiert und realisiert die Gesprächsreihen vor Ort. Qualitätsgarant ist eine enge Zusammenarbeit mit dem Londoner Träger Three Faiths Forum. Er verfügt über langjährige Erfahrung auf dem Gebiet der interreligiösen Arbeit. 

Konzept

Gemeinschafts-Dialoge sind ein weltweit angewandtes Begegnungskonzept – international unter dem Namen Community Dialogue bekannt. Sie transformieren verschiedenste politische, soziale und religiöse Blickwinkel, fördern gegenseitiges Verständnis und schaffen Vertrauen. Ende der 90er Jahre in Nordirland entwickelt, finden Gemeinschafts-Dialogeinzwischen an unterschiedlichsten Orten gewinnbringend statt: Von der Großstadt bis zur ländlichen Gegend, von der friedlichen Gemeinde bis zum Krisengebiet, bieten sie den Rahmen, in dem erlebte Geschichte innerhalb einer bestimmten Gruppe für ein besseres Miteinander nutzbar wird. 

Das Alexander Haus hat ein genuines Interesse, Geflüchtete willkommen zu heißen und sie in Kontakt mit Alteingesessenen zu bringen. Eine Möglichkeit hierfür bietet die Immobilie: Künftig soll sie einen Schriftsteller mit Fluchterfahrung als „Writer in Residence“ beherbergen oder Ausstellungen von Künstlern im Exil präsentieren.

Die Gesprächs- und Begegnungsreihe Gemeinschafts-Dialoge hat das Potential, langfristig mehr Menschen zu erreichen. Sie unterscheidet sich von vielen bereits bestehenden Initiativen für Geflüchtete und ergänzt sie sinnvoll. Während diese oft Ressourcen sammeln und verteilen, Umzüge organisieren oder Hilfsangebote wie beispielsweise Sprachunterricht erstellen, liegt die Stärke der Gemeinschafts-Dialoge gerade darin, dass sie diese praktischen Aspekte ignorieren. Sie schaffen einen „geschützten Raum“, in welchem die Erfahrungen der Geflüchteten und Alteingesessenen gleichwertig und hierarchiefrei nebeneinanderstehen. Dank dieses „Raumes“ sowie einer gezielten Aufgaben- und Fragestellung kann Rollenverhalten wie beispielsweise das des Helfenden und des Transfer-Empfangenden leicht vermieden und ausgeschlossen werden. Erwartungen nach einer emotionalen Gegenleistung wie „Dank“ entstehen nicht. Der Kontakt findet auf Augenhöhe statt, und eine Reflexion darüber, wer wann warum zum persönlichen „Team“ gehört, kann beginnen. 

Umsetzung

Für Gemeinschafts-Dialoge spielen die Zusammensetzung der Gruppe – also die Rekrutierung der Teilnehmenden – und der geschützte Raum zentrale Rollen. Der „safe space“ besteht aus dem Minimum notwendiger Vereinbarungen, auf die sich die Beteiligten verständigen: „Welche Voraussetzungen brauche ich, um mich hier sicher fühlen und öffnen zu können?“ Bei einigen mag es die ausreichende Beleuchtung oder das richtige Getränk sein, bei anderen wiederum ist die Möglichkeit, sich zu öffnen, an die Bedingung geknüpft, dass alles Gesagte vertraulich behandelt wird. Erst die verbindliche Einigung ermöglicht, sensible und persönliche Themen wie Ankunft, Flucht oder Vertreibung anzusprechen. Eine reflektierte, gewählte Methodik sorgt gleichzeitig für eine schützende Distanz. Teilnehmenden steht es frei zu wählen, was sie teilen möchten. 

Die erste Gesprächsreihe mit dem Titel „Wie ich nach Groß Glienicke kam – Lebensläufe und Lebensgeschichten“ hat im April begonnen. Die Personenkonstellation entspricht, wie beabsichtigt, in etwa der Bevölkerungszusammensetzung des Ortes. Sie besteht aus 1. in der ehemaligen DDR Geborenen, die seit der Kindheit im Ort leben, 2. in der ehemaligen DDR Geborenen, die nach der Wende hinzugezogen sind, 3. ehemaligen West-Berliner_innen und 4. West-Deutschen, die nach der Wende oder erst kürzlich hinzuzogen sind, 5. Leuten die aus anderen Teilen der Welt nach Groß Glienicke gezogen sind, 6. Bewohner_innen des Wohnheims für Geflüchtete in Groß Glienicke und 7. ehemaligen Bewohner_innen dieses Wohnheims, die inzwischen in der Gemeinde oder in Potsdam ansässig geworden sind sowie 8. aus Menschen, die nur in Groß Glienicke arbeiten, aber nicht dort leben. Das Altersspektrum reicht von 23 bis 83 Jahren mit zwei Männern und zwölf Frauen. 

Die Hürden für eine Teilnahme sind niedrig: Es entstehen keine Kosten. Der Aufwand von drei zweistündigen Treffen im Abstand von je einem Monat ist überschaubar. Thematisch kann sich jeder, der in Groß Glienicke war, mit seiner Geschichte einbringen. Vor und nach den Begegnungen bleiben jeweils 30 Minuten zum Ankommen, für Kaffee und Kuchen, Fragen oder Kritik. Ort ist das im Ort bekannte Evangelische Gemeindezentrum. Je nach thematischer Ausrichtung hätte es auch eine Sporthalle oder der Raum einer anderen Institution wie der Flüchtlingsunterkunft sein können. 

Für 2017 plant das Alexander Haus zwei weitere Reihen. Sie wenden sich an fußballbegeisterte, hauptsächlich männliche Jugendliche oder setzen künstlerischen Ausdruck als Brücke zur Begegnung geflüchteter und ortsansässiger Frauen ein. 

Vier Fragen rund um das Thema „Existenz“ strukturieren die Gruppenaktivitäten durch alle Treffen hindurch: Wer bin ich? Wer sind wir? Wo leben wir? Wie leben wir zusammen? 

Reaktionen

Alle Teilnehmer_innen nahmen während des ersten Treffens die Möglichkeit an, ihre Geschichten zu teilen, und spontan kam der Wunsch auf, die Runde aufrechtzuerhalten. Eine Woche nach dem ersten Treffen sagten alle Beteiligten zu, wiederzukommen.

Eine 83-jährige Frau berichtete beispielsweise, wie sie 1945 als Kind nur mit den Kleidern am Leib im Ort angekommen sei. Nach der Wende habe sie ihr Haus verlassen müssen, da der Besitz gerichtlich West-Deutschen zugesprochen worden sei, die ihn direkt weiterverkauft haben. Nun stehe ihr ein neuer Umzug bevor, da der Vermieter Eigenbedarf geltend mache. Eine circa 40-jährige Tschetschenin, Mutter von vier Kindern, berichtete, dass sie wegen einer Lebertransplantation körperlich zu geschwächt sei, um den Ort zu erkunden. 

Bei kontinuierlichen individuellen Gesprächen, in denen das Konzept kommuniziert wird, relevante lokale Themen erfragt und Partner gesucht werden, treffen wir zumeist auf positives Interesse. Natürlich gibt es auch schmerzliche Momente. Sie verdeutlichen die Notwendigkeit einer Dialog-Arbeit. Ein einflussreicher Akteur vor Ort reagierte beispielsweise mit starkem Unverständnis darauf, dass der Verein Geflohene einbinden möchte. Nach der Projektvorstellung erwiderte er, dass das Alexander Haus in seinen Augen ausschließlich der Erinnerung an die NS-Verbrechen diene. Es solle sich dafür einsetzen, dass so etwas nie wieder passiere. Der Verein dürfe diese Aufgabe nicht durch ein Engagement für Flüchtlinge „verwässern“.  

Ausblick

Natürlich wird die Frage der Nachhaltigkeit gestellt. In wie weit inspirieren Gemeinschafts-Dialoge zu inklusivem, toleranten Verhalten? Wie wird das in Groß Glienicke messbar? Entsteht ein auf andere Gemeinden in Deutschland übertragbares Modell? Sorgsame Dokumentation und das Errichten einer virtuellen Plattform erhalten hier eine Schlüsselfunktion und sorgen dafür, dass Erfahrungswerte sinnvoll in die Arbeit zurückfließen. 

Der Alexander Haus e.V. hat sich als langfristig greifende Maßnahme zum sofortigen Aufbau lokaler Kapazitäten und für je einen internen (Groß Glienicker) und einen externen (Umgebung Potsdam/ Berlin) Leitenden entschieden. Am Tag der ersten Gesprächsrunde begann auch das erste einer Serie von Workshop-Leiter-Trainings in Zusammenarbeit mit dem Three Faiths Forum. 

Um die Frage der Nachhaltigkeit umfassend beantworten zu können, beabsichtigt das Alexander Haus, Gemeinschafts-Dialoge, wissenschaftlich flankiert, über einen mehrjährigen Zeitraum über 2018 hinaus fortzusetzen. 

Neben der Sanierung des Sommerhauses steht auch der Bau eines neuen Seminar-Gebäudes an. Das Alexander Haus hat hierzu im August 2016 die Zusammenarbeit mit den Begabtenförderwerken Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk und Avicenna-Studienwerk, der Universität Potsdam, der Landeshauptstadt Potsdam und dem Land Brandenburg vereinbart. Der Verein steht somit vor großen finanziellen Herausforderungen und freut sich über Beträge in jeder Größenordnung. Spenden sind dringend willkommen und unkompliziert über www.alexanderhaus.org möglich.

 

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