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Discover Diversity. Politische Bildung mit Geflüchteten

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Von Ingolf Seidel

Bisher sind Publikationen, die sich praktisch mit der Frage nach politischer Bildung mit Geflüchteten befassen, rar gesät. Schon daher ist die Veröffentlichung der Broschüre „Discover Diversity. Politische Bildung mit Geflüchteten“ durch die „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“ (KIgA) begrüßenswert. Die Publikation dokumentiert Beiträge der Fachtagung „Chancen und Herausforderungen politischer Bildung mit, für und von Geflüchteten – zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen und der Lebenswirklichkeit Geflüchteter“ vom Dezember 2016, die aus dem Projekt „Vorurteile abbauen, Vielfalt schätzen“ entstanden ist. Für die Veröffentlichung kamen Aufsätze aus Wissenschaft und Bildungspraxis hinzu. Mit dem Titel der Tagung ist bereits der Anspruch vorgegeben, über Geflüchtete nicht aus einer mehrheitsgesellschaftlichen Perspektive heraus zu sprechen, sondern von einem Miteinander auszugehen. Diese Haltung ist sichtlich ebenfalls die Grundlage von „Discover Diversity“. Dabei werden Problemlagen wie Antisemitismus unter Geflüchteten nicht ausgeblendet.

Die Aufsätze und Interviews der knapp 100-seitigen Broschüre sind in vier Kapitel gegliedert: „Lage: Flüchten und Ankommen?“, „Projekt: Vorurteile abbauen, Vielfalt schätzen“, „Forschung: Weltbilder zwischen alter und neuer Heimat“ und „Praxis: Politische Bildung mit Geflüchteten“. Das erste Kapitel gibt grundlegend Auskunft zur Situation nach der Aufnahme einer hohen Zahl von Geflüchteten in Deutschland vor allem im Jahr 2015. Christian Jakob verweist dabei auf die widersprüchliche Situation, dass die Wirtschaft eine Aufnahme von Geflüchteten durchaus begrüßt, während die Politik eher darauf bedacht ist, die Zuwanderungszahlen zu reduzieren. Derviş Hızarcı bringt seine Erfahrungen als Lehrer in „Willkommensklassen“ ein. Er verweist auf die Problemstellungen, zeigt aber auch deutlich die Perspektiven für eine sinnvolle Arbeit mit Geflüchteten auf. Denn, und daran kann es im Grunde keinen Zweifel geben, Schule und Bildungsarbeit sind derzeit mit vermehrten Kosten und erhöhtem Personalbedarf konfrontiert. In weiteren Beiträgen des Kapitels wird der zunehmende Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, auch seitens etablierter Parteien, aufgegriffen und aus der Perspektive eines freiwilligen Helfers die Lebensrealität Geflüchteter in Berliner Notunterkünften angesprochen.

Wie der Titel bereits suggeriert wird im zweiten Teil ausführlich auf das KIgA-Projekt „Vorurteile abbauen, Vielfalt schätzen“ eingegangen. Melanie Kamp skizziert die Projektstruktur und zeigt auf, wie die KIgA in „Willkommensklassen“, teilnehmenden Beobachtungen von gemischten Projektschultagen und Workshops zur Staatsgründung Israels und zum Nahostkonflikt sowie in drei Workshops mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten eine Bedarfsanalyse zur Notwendigkeit politischer Bildung entwickelt. Ein wichtiges Fazit ist dabei, dass entsprechende Projekte gegebenenfalls mit Sprachmittler_innen und Übersetzer_innen arbeiten müssen, was bedeutet, entsprechend Zeit und Mittel einzuplanen. Diese Botschaft sollten auch potenzielle Förderer wahrnehmen. Im Anschluss an diesen Beitrag schreibt Orkide Ezgimen über die praktische pädagogische Arbeit mit Jugendlichen im Projekt. Es folgen ein Interview mit vier Bildner_innen, teils selbst Geflüchtete, die Workshops begleitet und unterstützt haben, sowie 13 Thesen zur politischen Bildung von Geflüchteten von Aycan Demirel.

Das Kapitel zu Forschung leitet ein Aufsatz von Sina Arnold und Jana König ein. Die beiden Wissenschaftlerinnen haben 25 qualitative Leitfadeninterviews mit Geflüchteten aus Syrien, dem Irak und Afghanistan geführt, in denen die Einstellungen zu Jüdinnen und Juden, dem Holocaust, zu Israel, dem Nahostkonflikt und zu eigenen Diskriminierungserfahrungen sowie Zukunftswünschen abgefragt wurden. Zu den Ergebnissen gehörte unter anderem, dass es nicht die typische geflüchtete Person gibt. Mehrheitlich wurden von den Befragten antisemitische Ressentiments geäußert, ein festes Weltbild war allerdings nur bei einer Person festzustellen. Das Wissen über Juden und Judentum beschreiben Arnold und König als fragmentarisch und überwiegend aus Alltagsgesprächen resultierend. Entscheidend für das Vorkommen antisemitischer Einstellungen sei auch nicht der Grad an Religiosität, sondern eher die religiöse Auslegung; wer eher einem individualisierten Religionsverständnis anhängt, sei auch toleranter gegenüber anderen Glaubenseinstellungen und Lebensentwürfen. Nachvollziehbar ist das Fazit, dass es trotz der notwendigen Sensibilität problematisch wäre, Geflüchtete nicht als politische Subjekte ernst zu nehmen und unangenehme Diskussionen zu scheuen.

Das Thema Antisemitismus behandelt auch Marina Chernivsky. Sie warnt davor das Vorhandensein antisemitischer Ressentiments auf muslimische Geflüchtete zu externalisieren, auch wenn sie bei diesen unbestritten vorhanden seien. Immerhin, so die Autorin, wären judenfeindliche Einstellungen in der Mehrheitsgesellschaft weiterhin stark verbreitet. Ein wesentliches Manko stellt das Fehlen von repräsentativen Untersuchungen dar, die Antisemitismuserfahrungen von Jüdinnen und Juden erforscht. Damit sei die fehlende Deutungsmacht von Jüdinnen und Juden auf das Problem von Antisemitismus gesellschaftlich akzeptiert. Eine erste qualitative Studie in zehn Berliner Synagogengemeinden zeige, dass die Wahrnehmungen und Erfahrungen von Antisemitismus höchst unterschiedlich seien.

Abgerundet wird das Kapitel zur Forschung durch ein Interview mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Basel Allozy. Für ihn steht das Sicherheitsbedürfnis von geflüchteten Kindern und Jugendlichen infolge von posttraumatischen Belastungsstörungen und der Unsicherheit eines Lebens ohne Eltern gerade in der Jugendphase im Mittelpunkt.

Von den sechs Praxisbeiträgen des letzten Kapitels soll hier der Text Daniel Gaedes wegen seiner Relevanz für das historische Lernen hervorgehoben werden. Der Autor korrigiert den aus seiner Sicht bestehenden Eindruck, dass erst seit 2016 Menschen mit Flucht und Gewalterfahrungen in bundesdeutsche Gedenkstätten kämen. Im Weiteren plädiert Gaede dafür, die Zielgruppenorientierung und inklusive Ansätze der Gedenkstättenpädagogik ernst zu nehmen. So würde es sich erübrigen, Geflüchtete als besondere Zielgruppe herauszustellen, die einer besonderen Methodik bedürften. Den Versuch, Geflüchteten Demokratieerziehung mittels der NS-Geschichte zu vermitteln, bezeichnet der Gedenkstättenmitarbeiter vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit Flucht und deutschen Behörden als ignorant und zynisch.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass den Herausgeber_innen mit der vorliegenden Broschüre eine facettenreiche Publikation gelungen ist, die politische Bildner_innen zur Selbstreflexion anregen kann und eine wichtige Basis für die Weiterentwicklung politischer Bildung in der (Post-)Migrationsgesellschaft darstellt.

Die Broschüre kann bei der KIgA bestellt werden. Eine Veröffentlichung als PDF-Dokument ist derzeit in Planung:

KIgA e.V.
Kottbusser Damm 94
10967 Berlin
Tel.: +49 (0)30 - 23 58 82 30
E-Mail: mail [at] kiga-berlin [dot] org
Internet: www.kiga-berlin.org 

 

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