Dialogue

„Machen Sie auch etwas mit Flüchtlingen?“ – Zur Ausrichtung des Arbeitskreises „Räume Öffnen“

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Jennifer Farber und Jens Hecker für den Arbeitskreis "Räume Öffnen" Arbeiten beide an Erinnerungs- und Gedenkorten in NRW (J.F.: Akademie Vogelsang IP; J.H.: Dokumentationsstätte Stalag 326 (VI K) Senne, Erinnerungs- und Gedenkstätte Wewelsburg) und beschäftigen sich mit rassismuskritischer Vermittlung und barriereärmeren Zugängen der historisch politischen Bildung. Kontakt: Jennifer [dot] Farber [at] vogelsang-ip [dot] de

Von Jennifer Farber und Jens Hecker 

Der Arbeitskreis „Räume Öffnen“ versteht sich als ein Netzwerk unterschiedlicher (Lern-)Orte zum Nationalsozialismus, die zu rassismuskritischer Erinnerungskultur arbeiten möchten. Aus den anfänglichen Treffen wurde der AK „Räume Öffnen“ gegründet. Wir alle sind Praktiker_innen aus Gedenkstätten und Erinnerungsorten, die in den Feldern Pädagogik, Kuratieren und Projektmanagement unterwegs sind. Dieser Artikel bildet den bisherigen Stand unserer Reflexionen ab und basiert auf grafischen Protokollen, die bei jedem Treffen angefertigt wurden.

Die Netzwerktreffen fanden 2016 im Rahmen des von der Bundeszentrale für politische Bildung geförderten Modellprojektes „Dialog und Begegnung am Internationalen Platz Vogelsang IP“ statt. 

Kaum eine „Zielgruppe“ erfährt in den letzten Jahren mehr (geförderte) Aufmerksamkeit in der Bildungsarbeit an Gedenkstätten und Erinnerungsorten als geflüchtete Menschen. In Zeiten, in denen Förderprojekte nach wie vor wichtig für die Personalstruktur sind, wollen wir uns (als Personen, die in den Bildungsbereichen dieser Orte tätig sind) darüber gar nicht aufregen, aber interessant finden wir das schon. Grund genug, einmal genauer hinzuschauen, auch was die Zielsetzungen und Ausrichtungen unserer eigenen Projekte angeht. Zu diesem Zweck haben uns im letzten Jahr zwei Mal in der Akademie Vogelsang IP getroffen, haben viel diskutiert und sind häufig mit vielen Fragen, aber auch neuen Ideen an unsere Arbeitsplätze zurückgekehrt.

Wie(so) machen wir das eigentlich? Unterschiedliche Orte mit ähnlichen Fragen

Der Arbeitskreis setzt sich aus Personen zusammen, die Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus an unterschiedlichen historischen Orten konzipieren und durchführen. Hierbei handelt es sich um Institutionen mit unterschiedlichen Selbstbezeichnungen und Schwerpunkten – Dokumentation, Gedenkstätte, Denkort oder mehrere gleichzeitig: Der Erinnerungsort Vogelsang IP in der Eifel, der Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster, die Erinnerungs- und Gedenkstätte Wewelsburg bei Paderborn, die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache Dortmund und der Dokumentationsstätte Stalag 326 Senne bei Bielefeld. Allen Orten ist gemeinsam, dass sie gerne (im Rahmen besagter Projekte oder auch nicht) Bildungsangebote für Menschen entwickeln möchten, die in Deutschland Asyl suchen. 

Wiederholt trafen wir uns 2016 auf einigen der zahlreichen Fachveranstaltungen zum Thema und kamen in ersten Gesprächen zu ähnlichen Fragestellungen: Wen wollen wir überhaupt ansprechen und wie? Welche strukturellen Hindernisse müssen wir beachten? Welche Themen eignen sich gut und welche sind weniger geeignet? Wie ist das mit unterschiedlichem Vorwissen? Wie gehen wir mit Sprachbarrieren um? Usw. usw.

„Menschen mit XYZ-Hintergrund“ ist keine Zielgruppe

Neben den genannten Fragen bestand auch ein gemeinsames, aber schwer greifbares Unbehagen dabei, von Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, als „Zielgruppe“ zu sprechen und zu denken. Da außerdem alle Teilnehmer_innen der Runde einen deutschen Pass haben und im Sinne der Critical Whiteness „weiß“ sind, fanden wir ein „Glaskugellesen“ wenig zielführend. 

Anstatt aus den vielschichtigen Bedürfnissen, Interessen und Voraussetzung der Geflüchteten einheitliche Zielgruppen zu generieren, wollten wir uns lieber darüber austauschen, warum die Tatsache, dass Menschen in Deutschland Zuflucht suchen, die Gedenk- und Erinnerungsorte und deren Mitarbeiter_innen vor vermeintliche Unsicherheiten stellt.

Die Bedürfnisse von Menschen sind im Einzelfall sicher speziell und sollen in diesem Denkprozess auch weder nivelliert noch negiert werden. Allerdings fragen wir uns, ob viele Bedürfnisse ­– wie z.B. Wertschätzung, Sich-Willkommen-Fühlen und körperliche sowie seelische Nicht-Überforderung ­– nicht eigentlich so universell sind, dass sie generell in der Erinnerungsarbeit berücksichtigt werden sollten. An die Stelle der Konzeption aufwendiger „Spezialprogramme“ trat für uns deshalb die Suche nach Möglichkeiten für tiefer greifende Veränderungen innerhalb unserer alltäglichen praktischen Arbeit, die unsere Orte als Lernräume weiter öffnen.

Räume öffnen“ heißt die eigene Praxis reflektieren

Dabei entstand ein fruchtbarer Diskurs über etwas, für das wir uns mehr als Expert_innen verstehen: Die Innensicht der Gedenkstätten und Erinnerungsorte sowie unsere eigenen Arbeitspraxen. Anstatt uns über unbekannte hypothetische Besucher_innen den Kopf zu zerbrechen, sprechen wir nun über Herausforderungen für unsere Institutionen und über ihre gesellschaftlichen Rollen: als Gedenkstätten/Dokumentationsorte, Lernorte und als Orte politischer Repräsentation.

Das derzeitige gesellschaftliche Klima nehmen wir als sehr polarisiert wahr. Neben dem hohen zivilgesellschaftlichen, meist ehrenamtlichen Engagement, das allgemein als „Willkommenskultur“ bezeichnet wird, sind auch Vorbehalte und offene Ablehnung eine Reaktion. Diskurse, die lange Zeit nur innerhalb des rechten Spektrums und an (rassistischen) Stammtischen vermutet wurden, werden nun auch im Mainstream häufiger hörbar. Offene Ablehnung bleibt dabei nicht bei sprachlicher Gewalt, sondern schlägt sich auch in Übergriffen und Anschlägen gegen Menschen und Einrichtungen wieder. Soweit sich die Gedenkstätten und Erinnerungsorte als gesellschaftsrelevante (Lern-)Orte verstehen, stehen sie also vor der Herausforderung, sich gegen das Klima der Gewalt zu positionieren und sich mit denjenigen, die als „Andere“ markiert werden, solidarisch zu zeigen. Nicht zuletzt auch wegen der geografischen Nähe mancher Sammelunterkunft (Vogelsang) und Erstaufnahmelager (Stukenbrock - momentan leerstehend) auf historischem Gelände und in Sichtweite der Institutionen. 

Sich selber den Spiegel vorhalten (lassen) – Beispiel: Zuschreibungen von Antisemitismus

Beim zweiten Netzwerktreffen beschlossen wir, uns etwas intensiver mit einem Thema zu befassen, das an mehrere von uns herangetragen worden war: Die Frage nach etwaigen antisemitischen Äußerungen, die von Teilnehmenden kommen könnten. Im Hinblick auf erinnerungskulturelle Bildung zu NS und Holocaust ist und war das Thema Antisemitismus von jeher zentral. Die meisten Teamenden an Gedenkstätten und Erinnerungsorten haben bereits Erfahrung im Umgang mit antisemitischen Äußerungen (aus unterschiedlichsten Richtungen), ein souveräner Umgang damit ist somit ein „alter Hut“. Kommt diese Frage in Bezug auf Menschen, die als Migrationsandere markiert werden auf, so unsere Schlussfolgerung, sollten wir uns deshalb zunächst selber den Spiegel vorhalten. 

Diese Idee ist keine neue, bereits 2013 stellte Elke Grygleswki die Frage danach, ob nicht „die Defizite der Mehrheitsgesellschaft im Hinblick auf den Antisemitismus und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf Jugendliche nicht-deutscher Herkunft projiziert werden.“(Gryglewski 2013: S. 72). Es gilt demnach auch hier wieder die Maxime a) nicht zu pauschalisieren, b) zu differenzieren, welche Motivation einer eventuellen Äußerung zugrunde liegen könnte und c) gesprächsbereit zu sein. Anknüpfend an Nora Sternfeld, den Lernort zu einer Kontaktzone werden zu lassen, in dem Themen zur Sprache kommen können und sollen, so lange sie einem menschenfreundlichen Grundkonsens unterliegen (Sternfeld 2013). 

Wir als Arbeitskreis verstehen uns nun nach zwei Treffen am Anfang eines Prozesses, den wir kontinuierlich weiterführen möchten. Statt einfacher Antworten entstehen immer weitere Fragen. Und gleichzeitig stellen wir fest, dass wir vor weitaus weniger „neuen Herausforderungen“ stehen, als wir zu Anfang dachten. Unsere eigentliche Aufgabe ist vielmehr, eine konsequente rassismus- und herrschaftskritische Perspektive einzunehmen und beizubehalten.

Dafür möchten wir Räume des Diskurses öffnen und sowohl die schon vielfältige Expertise von „Betroffenen“ als auch die bereits seit langem existierende Theorie zum Thema (Paul Mecheril, Astrid Messerschmidt, uvm.) kritisch auf unsere Arbeit anwenden und uns auf „die Suche nach einer inklusiven Erinnerungskultur“ begeben (Lücke 2016: S.53). 

Im nächsten Schritt soll die Runde für weitere Interessierte (Vertreter_innen von Selbstorganisationen und Willkommensinitiativen, Bildungsarbeiter_innen aus weiteren Institutionen, etc.) geöffnet werden.

Das nächste Treffen findet voraussichtlich Mitte dieses Jahres in der Akademie Vogelsang IP statt. Haben Sie Interesse?

Mail an: Jennifer [dot] Farber [at] Vogelsang-ip [dot] de 

Literatur

Als erste Orientierungshilfen dienen uns bislang u.a. die folgenden zwei Publikationen:

Der Aufruf: „Für solidarische Bildung in der globalen Migrationsgesellschaft. Ein Aufruf aus Erziehungswissenschaft, Pädagogik und Sozialer Arbeit.“ http://www.aufruf-fuer-solidarische-bildung.de/ (27.04.2017) 

Und die Erklärung von RISE (Refugees, Survivors & Ex-Detainees, Australien):

„10 things you need to consider if you are an artist – not of the refugee and asylum seeker community- looking to work with our community.“ http://riserefugee.org/10-things-you-need-to-consider-if-you-are-an-artist-not-of-the-refugee-and-asylum-seeker-community-looking-to-work-with-our-community/ (27.04.2017) 

Brüning, Christina; Deile, Lars; Lücke, Martin (Hrsg.): Historisches Lernen als Rassismuskritik. Schwalbach 2016. 

Fava, Rosa:  Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse, Berlin 2015. 

Goldenbogen, Anne: „Wer spricht? Worüber? Warum?“ In: A.Drücker/S.Seng/S.Töbel (Hrsg.): Geflüchtete, Flucht und Asyl. Texte zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Flucht – und Lebensrealitäten, rassistischen Mobilsierungen, Selbstorganisation, Empowerment und Jugendarbeit, Düsseldorf 2016, S.61-63. 

Gryglewski, Elke: Anerkennung und Erinnerung. Zugänge arabisch-palästinensischer und türkischer Berliner Jugendlicher zum Holocaust, Berlin 2013. 

Lücke, Martin: „Auf der Suche nach einer inklusiven Erinnerungskultur“. In: B.Alavi/M. Lücke (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts. 2016, S.58-67. 

Mecheril, Paul: Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim/Basel 2004. 

Messerschmidt, Astrid:  Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte. Frankfurt a.M. 2009. 

Sternfeld, Nora: Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung. Transnationales Lernen über den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft. Wien 2013. 

Ziese, Maren; Gritschke, Caroline (Hrsg.): Geflüchtete und kulturelle Bildung. Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld, Bielfeld 2016.

Redaktionelle Anmerkung

Die grafischen Protokolle in der Bildstrecke visualisieren die im Text vorgestellten Diskussionen.

 

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