Antiziganismus. Soziale und historische Dimensionen von „Zigeuner“-Stereotypen
Von Frederik Schetter
Die Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas im Oktober 2012 bot für viele Organisationen einen Anlass, sich mit dem Ist-Zustand der Antiziganismusforschung genauer auseinanderzusetzen. Begriffsdefinitionen, die Erforschung von gesellschaftlichen Ressentiments sowie die Frage nach der aktuellen Integration von Sinti und Roma, beispielsweise im Bereich der Bildung, standen im Mittelpunkt von erinnerungskulturellen Debatten und wissenschaftlichen Studien. In diesem Rahmen veranstaltete auch das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma im November 2012 eine interdisziplinäre Tagung, um „solche Aspekte zu diskutieren und den Austausch zwischen Experten unterschiedlicher Fachrichtungen anzuregen“ (S. 15).
Die Diskussionen und Referate dieser Tagung bilden – komplettiert durch weitere Beiträge – den Kern eines im Jahr 2015 veröffentlichten Sammelbands. Herausgegeben von dem im aktuellen LaG-Magazins näher vorgestellten Veranstalter der Tagung und gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien zeigen insgesamt 12 thematische Beiträge soziale sowie historische Dimensionen des Antiziganismus auf. Alle Autor_innen untermauern dabei ihre Argumentation jeweils durch eine Reihe von detaillierten Beispielen.
Historische Wurzeln von Antiziganismus
So beleuchtet Benedikt Wolf in seinem einleitenden Beitrag die historischen Ursprünge von Ressentiments gegenüber als „Zigeuner“ Stigmatisierten. Er führt an, dass die deutschsprachige Antiziganismusforschung in den meisten Fällen erst Mitte des 15. Jahrhunderts und somit zu spät ansetze. Wolf plädiert stattdessen für eine genauere Erforschung der Frühgeschichte des Antiziganismus seit dem frühen 9. Jahrhundert, was auch das Einbeziehen von „georgischen, armenischen und griechischen Quellen“ (S. 31) beinhalte.
Die historischen Wurzeln des modernen Antiziganismusbegriffs analysiert Martin Holler. Er geht dabei auf „drei Grundannahmen der bisherigen (deutschen) Antiziganismusforschung“ (S. 51) ein, welche den Begriff als einen Neologismus aus den 1980er Jahren sehen, der im Kontext von wissenschaftlichen Diskursen entstanden sei und dem somit – im Gegensatz zum Antisemitismusbegriff – die Historizität fehle. Holler stellt dem entgegen, dass das russisch- bzw. englischsprachige Äquivalent des Antiziganismusbegriffs schon seit Anfang der 1930er Jahre in der sowjetischen Behördensprache bzw. im englischen Sprachgebrauch genutzt wurde. Der Begriff müsse daher um eine historische Perspektive erweitert werden.
Politischer Antiziganismus – sichtbar beim Blick hinter die Kulissen
Der Frage, wie sich politischer Antiziganismus in der heutigen Zeit zeigt und erkennen lässt, widmet sich der kämpferisch formulierte Beitrag von Wilhelm Solms. Mittels Zitaten von unterschiedlichen Politiker_innen der ehemaligen Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP (2009-2013) zeigt er auf, dass Ressentiments kaum noch offen formuliert werden, sondern vielmehr erst beim Blick hinter die Kulissen sichtbar werden. Als Beleg führt er unter anderem Reden der ehemaligen CDU-Abgeordneten Erika Steinbach an. Die jahrelange Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe hob in zwei Reden hervor, dass keine staatliche Diskriminierung der Roma stattfände – nur um gleich darauf zu konstatieren, dass es in der Gesellschaft aber „,nicht nur freundliche Gefühle für diese Menschen‘“ (S. 81) gebe und um in einer weiteren Rede den Vorwurf zu äußern, Roma würden sich der Integration in das Schulsystem verweigern.
Dass Steinbach mit diesen Ansichten keinesfalls allein dasteht, belegt Solms anhand von weiteren Beispielen. Dabei bemängelt er vor allem, dass die politische Bewertung der Integration von Sinti und Roma sehr eindimensional zu ihren Lasten ausfalle und Gründe wie „das unflexible Schulsystem oder die ablehnende Haltung von Lehrern und Mitschülern“ (S. 82) keine Rolle spielten. In den letzten Abschnitten seines Beitrags weist Solms zudem eklatante Unterschiede zwischen den politischen Ankündigungen und den darauf folgenden Maßnahmen auf. Werde durch Politiker_innen zwar anerkannt, dass in der Gesellschaft Ressentiments gegenüber Sinti und Roma verbreitet seien und bei Reden zu Gedenktagen immer wieder auf die besondere Verantwortung angesichts der deutschen Geschichte verwiesen, so habe beispielsweise die Bundesregierung 2011 im Rahmen einer Großen Anfrage „keine einzige Maßnahme gegen Antiziganismus“ (S. 84) nennen können.
Europäische und postkoloniale Perspektiven
Den Blick auf die Situation von als „Zigeuner“ Stigmatisierten in anderen Ländern richtet Wolfgang Aschauer und untersucht am Beispiel Ungarns die „Art von Handlungen […] gegen ,Zigeuner‘“ (S. 114) und vor allem, welche „gesellschaftliche Funktionen […] diese Handlungen haben“ (Ebd.). Er kommt zu dem Schluss, dass der aktuell in Ungarn existierende Antiziganismus durch ethnokulturelle und rassistische Prägungen komplexer und strukturell deutlich aufwendiger konzipiert sei als die ältere, „rein an Alltagsphänomenen“ (S. 127) orientierte Version. Dies habe zur Folge, dass die ungarischen Roma eine Reihe von gesellschaftlich stabilisierenden Funktionen übernähmen. Durch die Nutzung der Roma als Sündenböcke, als Legitimation für Armutspolitik und gesellschaftliche Schichtung oder auch ganz unmittelbar als verfügbare und wehrlose Arbeitskräfte auf dem grauen oder schwarzen Arbeitsmarkt sei der Antiziganismus in Ungarn daher ein „zentraler Stabilitätsfaktor innerhalb einer gravierenden gesamtgesellschaftlichen Krise“ (S. 129).
Weitere Beiträge des Bandes fügen der Debatte unter anderem eine postkoloniale Perspektive hinzu, schauen zurück auf die jüngste Antiziganismusforschung oder richten den Blick auf Diskussionen um die wissenschaftliche Definition des Antiziganismusbegriffs. Besonders hervorzuheben sind die Beiträge von Peter Bell und Dirk Suckow, die sich mit unterschiedlichen Aspekten von antiziganistischen Stereotypen in Bildern beschäftigen und detaillierte Analysen zu einer Vielzahl von Beispielen liefern.
Zusammenfassung
Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma liefert mit dem Tagungsband eine interdisziplinäre und informative Bestandsaufnahme der aktuellen Antiziganismusforschung. Die Beiträge werfen Fragen sowohl an die Wissenschaft als auch an die Politik auf und sensibilisieren für den Umgang mit antiziganistischen Stereotypen, Ressentiments und Rassismus. Die große Menge an aufgeführten Quellen, Zitaten oder Bildern bildet zudem ein großes, zeitlich mehrere Jahrhunderte umfassendes Reservoir für all jene, die auf der Suche nach konkreten Beispielen für offenen oder latenten Antiziganismus sind.
Literatur
Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma (Hg.): Antiziganismus. Soziale und historische Dimensionen von „Zigeuner“-Stereotypen, Heidelberg 2015.
Der Tagungsband kann in Buchform für 14,80 zzgl. Porto beim Sekretariat des Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma bestellt oder hier kostenfrei als PDF heruntergeladen werden.
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- 26/04/2017 - 03:49