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Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Von Silas B. R. Kropf
Die nationale Minderheit der Sinti und Roma ist in Deutschland staatlich anerkannt und genießt einen besonderen Schutz. Dennoch sind die schätzungsweise 70.000 bis 200.000 Mitglieder der Minderheit in Deutschland (Open Society Institute 2002: 82) tagtäglich mit Stereotypen, Vorurteilen und Diffamierungen konfrontiert. Wie gestaltet sich also die Lebensrealität der Minderheit in Deutschland?
Aufenthaltsstatus als Kennzeichen
Einen wesentlichen Aspekt, der das Leben von Sinti_zze und Rom_nja in Deutschland kennzeichnet und unterscheidet, stellt die Frage nach dem aufenthaltsrechtlichen Status der betroffenen Personen dar. Zu nennen sind hier zunächst Sinti_zze, die seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland leben. Sie haben nicht nur die deutsche Staatsangehörigkeit, sondern verstehen sich primär auch als Deutsche. Dies steht jedoch in keinem Widerspruch zu der besonderen Rolle, welche ihre Kultur im alltäglichen Leben einnimmt. Insbesondere diese Gruppe war von dem Völkermord im Zweiten Weltkrieg betroffen. Dasselbe gilt weiterhin für die Gruppe der seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland lebenden Rom_nja. In den 1960er und 1970er Jahren sind viele Rom_nja als Gastarbeiter_innen nach Deutschland gekommen und zumindest die nachfolgende Generation hat heute ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit. Rom_nja, die nach dem Zerfall Jugoslawiens nach Deutschland geflüchtet oder seit den EU-Erweiterungen in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, haben im Gegensatz dazu meist keine deutsche Staatsangehörigkeit und je nach Herkunftsland und persönlicher Situation einen unsicheren Aufenthaltsstatus, der konkrete Auswirkungen auf das alltägliche Leben hat. Insbesondere im Bereich des Arbeitsmarktzuganges, dem Zugang zu Transferleistungen und Gesundheitsversorgung sowie der oft daraus resultierenden Armut ist dies spürbar.
Antiziganismus und Teilhabe
Oftmals ist die Rede davon, dass Sinti_zze und Rom_nja integriert werden müssten bzw. sich integrieren sollten. Bei Menschen, die seit Jahrhunderten in Deutschland leben, deutsche Muttersprachler_innen sind und die deutsche Staatsangehörigkeit haben, ist dies paradox. Vielmehr ist das Konzept der Inklusion zu betrachten und zu schauen, weshalb bis heute nicht eine vollständige gesellschaftliche Teilhabe sichergestellt werden konnte. Gründe hierfür sind auf beiden Seiten zu finden: einerseits auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft, in welcher antiziganistische Vorurteile, Klischees und Ressentiments vorherrschen und welche die Minderheit, wenn auch zum Teil unbewusst, ausgrenzt; andererseits tragen auch die traumatischen Erfahrungen, die Sinti_zze und Rom_nja aufgrund von Verfolgung, Ausgrenzung, Diskriminierung und Stigmatisierung gemacht haben zu diesem Zustand bei. In vielen Familien wurden diese Traumata über Generationen weitergegeben und haben die Bildung eines Schutzmechanismus zur Folge gehabt. Dieser besteht darin, dass in vielen Familien ein Grundmisstrauen gegenüber staatlichen Institutionen jeglicher Art herrscht und die Familie als Schutzraum eine besonders große Bedeutung hat.
Vor allem der Antiziganismus, der Sinti_zze und Rom_nja als Geschöpfe darstellt, die nicht gesellschaftsfähig sind und auf Kosten ihrer Mitmenschen leben, ist allgegenwärtig.
In den Medien ist negative Berichterstattung vorherrschend, positive Vorbilder aus der Minderheit sind kaum sichtbar. Anhand vieler Beispiele lässt sich zeigen, wie auch in Presse und Politik Antiziganismus geschürt wird. So titelte die schweizerische Weltwoche 2012 auf der Titelseite „Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz“. Veranschaulicht wurde das Ganze mit einem Foto eines kleinen Jungen, der eine Spielzeugpistole in die Kamera hält (Die Weltwoche 2012: 1). Auch die NPD sorgte im Bundestagswahlkampf 2013 für Aufsehen. Vielerorts waren Plakate mit der Aufschrift „Lieber Geld für die Oma statt für Sinti & Roma“ aufgehängt worden. Ein aktuelleres Beispiel stellen die „Mitte“-Studien der Universität Leipzig aus dem vergangenen Jahr dar. 58,5% der Deutschen stimmten folgender Aussage „eher“ oder „voll und ganz“ zu: „Sinti und Roma neigen zur Kriminalität“ (Decker et al. 2016: 50). Zu diesem Thema hat das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma im Jahr 2014 eine Studie veröffentlicht, die sich mit der multimedialen Kommunikation auseinandersetzt und an dieser Stelle für die weitere Lektüre zu empfehlen ist (End 2014).
Aber auch romantisierende Klischees sind Teil des Antiziganismus. So werden Romnja und Sintizze oftmals als singende und tanzende Esmeralda am Lagerfeuer dargestellt, die im besten Fall noch hellsehen kann, sämtlichen Männern den Kopf verdreht und aufgrund ihrer vermeintlichen Freiheit ein beneidenswertes Leben führt.
Die Rolle der Jugendlichen und Projekte
Die Folgen für das alltägliche Leben und die Einstellung zur Mehrheitsbevölkerung sind immens. Viele Mitglieder der Minderheit trauen sich aus Angst vor Nachteilen nach wie vor nicht, zu ihrem Hintergrund zu stehen.
Insbesondere bei Kindern mit Migrationshintergrund werden diese Ängste bestärkt. Durch eine anhaltende Segregation in besonderen Schulklassen, sog. „Willkommens-“ oder „Seiteneinsteigerklassen“, in welchen vielerorts nur Rom_nja beschult werden, wird den Kindern jegliche Grundlage für eine erfolgreiche Integration genommen und der Umgang mit Gleichaltrigen der Mehrheitsgesellschaft stark eingeschränkt.
Immer mehr Jugendliche aus der Minderheit möchten eine aktive Rolle in der Gestaltung der Gesellschaft und ihres eigenen Lebensweges einnehmen. Aus diesem Grund organisieren sie sich in Vereinen und Gruppen, um gemeinsam als positives Vorbild voran zu gehen, mehr über sich und ihre Geschichte zu erfahren und um perspektivisch selbst andere Jugendliche zu bestärken und über die Minderheit aufzuklären. Im Rahmen des Projektes „Dikhen Amen! Seht uns!“, welches Amaro Drom e.V. bundesweit durchführt, soll eben dies gewährleistet werden.
Um jedoch alle zu erreichen, muss bereits bei den Kleinsten begonnen werden. In den meisten Schulen steht die Geschichte der Sinti_zze und Rom_nja nicht auf dem Lehrplan. Das einzige Wissen über die Minderheit erfahren die Schüler_innen zu Hause oder in den Medien und werden somit von klein auf antiziganistisch geprägt. Das Netzwerk für Demokratie und Courage Saar e.V. führt deshalb aktuell ein Projekt mit dem Namen „ZusammenWachsen“ durch. Ein wesentlicher Bestandteil ist die Jugendbildung. So soll in diesem Jahr ein Projekttag für weiterführende Schulen gestaltet werden, der interessierten Schulklassen angeboten werden soll.
Wie geht es weiter?
Es lässt sich also feststellen, dass noch viel zu tun ist. Immer wieder werden die unterschiedlichen Lebensrealitäten der Mitglieder der Minderheit außer Acht gelassen; sei es aus Unwissenheit oder aus bewusstem Rassismus. Sinti_zze und Rom_nja in Deutschland und Europa setzen sich dafür ein, die Vorurteile zu entkräften. Der Dialog zwischen Minderheit und Mehrheitsgesellschaft ist hierfür unabdingbar. Berührungsängste der Mehrheitsgesellschaft verhindern dies oft. In unserer multikulturellen Welt ist genau das aber der falsche Weg. Durch den Kampf gegen den Antiziganismus und die Förderung von positiven Lebensrealitäten können alle nur profitieren und zusammenwachsen. Dazu gehört es, sich auf Augenhöhe zu begegnen und zu respektieren. In dem Moment, in welchem mit Respekt und Wertschätzung aufeinandergetroffen wird, wird dem Rassismus gegen Sinti_zze und Rom_nja bereits die größte Grundlage entzogen.
Literatur
Decker, Oliver et al. (2016). Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger Mitte-Studie 2016. Gießen: Psychosozial-Verlag. S. 49-58.
Die Weltwoche (2012): Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz, Ausgabe vom 05.04.2012.
End, Markus (2014): Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation. Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg.
Open Society Institute (2002): Monitoring des Minderheitenschutzes in der Europäischen Union: Die Lage der Sinti und Roma in Deutschland. Göttingen.
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- 26/04/2017 - 03:49