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Conflict and Memory: Bridging Past and Future in [South East] Europe

Wolfgang Petritsch; Vedran Dzihic (Hrsg.): Conflict and Memory: Bridging Past and Future in [South East] Europe, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2010, 69 €. 

Von Frederik Schetter

Ein Verständnis für historisch-politische Prozesse Osteuropas befindet sich, auch wenn Länder wie beispielsweise Polen oder die Ukraine aufgrund aktueller Konfliktsituationen und politischer Entwicklungen verstärkt im Fokus stehen,  zum heutigen Zeitpunkt in Deutschland noch in der Entwicklungsphase. Dies gilt im besonderen Maße für die Region um die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens. In dieser Region lassen sich – ebenso wie in vielen anderen osteuropäischen Staaten – aktuell verstärkt wissenschaftliche und politische Auseinandersetzungen um die Deutung der Vergangenheit feststellen. Regierungen nehmen vermehrt Einfluss auf Geschichtspolitik; historische Narrative werden dekonstruiert, vereinfacht oder zunehmend nationalistisch geprägt.

Europäische Perspektive 

Ein von Wolfgang Petritscht und Vedran Dzihic im Jahr 2010 herausgegebener Sammelband liefert Analysen und Prognosen hinsichtlich geschichtspolitischer und erinnerungskultureller Prozesse sowohl in Südosteuropa als auch darüber hinaus. Die Beiträge gehen dabei von der Prämisse aus, dass der Umgang mit einer konfliktbeladenen und kontrovers diskutierten Vergangenheit nicht allein eine südosteuropäische, sondern eine gesamteuropäische Herausforderung sei und arbeiten jeweils europäische Perspektiven heraus.

Die insgesamt 23 kompakten Essays des Sammelbandes sind in drei Abschnitte strukturiert. Den besonders lesenswerten theoretischen Einführungen folgen acht Beiträge, welche den Fokus auf Erinnerungskulturen und die Aufarbeitung der Vergangenheit in Staaten der Europäischen Union wie beispielsweise Spanien, Polen oder Deutschland richten. 13 Analysen von unterschiedlichen Aspekten erinnerungskultureller Prozesse in südosteuropäischen Ländern bilden daran anschließend den Hauptteil des Sammelbandes.

Wettstreit von historischen Narrativen und Opfergruppen

Jasna Dragovic-Soso analysiert in ihrem einleitenden Beitrag die Beziehung zwischen Konflikt und Erinnerung. Sie arbeitet den konstruktivistischen Charakter eines kollektiven Gedächtnisses und die Rolle der politischen Eliten dabei heraus. Die Konstruktion von Erinnerungskultur(en) werde nicht allein von den politischen Eliten getragen, sondern sei vielmehr ein Wettbewerb zwischen von Eliten geschaffenen und alternativen, gesellschaftlich geprägten Narrativen. Kollektiven Mythen schreibt Dragovic-Soso eine zentrale Rolle für Angst bei bestimmten Bevölkerungsgruppen bis zur Entwicklung von bewaffneten Konflikten zu. Einmal längere Zeit bei betreffenden Gruppen vorhanden, ließen sich solche Mythen zudem schwer aufbrechen.

Konstanty Gebert setzt sich in seinem Essay mit dem polnischen und jüdischen Blick auf den Holocaust auseinander. Die Verbrechen an den polnischen Jüd_innen habe bei vielen Pol_innen – trotz eigener Gewalterfahrungen – keinesfalls für Empathie gesorgt. Gebert verweist auf unterschiedliche historische Situationen und Zeitzeug_innenberichte und sieht beispielsweise das Geschichtsnarrativ, dass manche jüdische Pol_innen 1939 die sowjetische Okkupation bejubelt und somit „Verrat“ begangen hätten, als Grundlage und Ausdruck eines polnischen Antisemitismus. Auf Basis unterschiedlicher Vergangenheitserfahrungen sei es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwischen den Opfergruppen zu einem Wettstreit bzgl. Deutungshoheiten und Anerkennung gekommen. Gebert plädiert für eine höhere Akzeptanz des jeweils anderen Narrativs – ohne das eigene Geschichtsbild aufzugeben.

Aufbrechen sozialistischer Geschichtsbilder

Vergangenen und aktuellen geschichtspolitischen Prozessen in Bosnien und Herzegowina widmet sich Edin Hajdarpasic. Er blickt dabei vor allem auf die Geschichte des Landes innerhalb des jugoslawischen Staates und arbeitet frühere und aktuelle Geschichtsbilder heraus. So habe die sozialistische Regierungspartei während und nach dem Zweiten Weltkrieg ein Geschichtsbild geprägt, welches Serben, Kroaten und Muslime zum einen als Opfer des Faschismus und zum anderen als siegreiche kommunistische Revolutionäre stilisierte. Hajdarpasic hebt hervor, dass speziell nach dem Ende Jugoslawiens diese konstruierte Einheit aufgebrochen wurde. Stattdessen seien in Bosnien und Herzegowina zunehmend Serben und Kroaten dem Vorwurf ausgesetzt, Faschisten zu sein –  und somit das Gegenteil dessen, als was sie der Geschichtsnarrativ jahrzehntelang festgeschrieben habe. 

Peter Vodopivec nimmt sich der historisch-politischen Auseinandersetzungen in Slowenien seit Anfang der 1990er Jahre an. Er zeichnet ein von kontroversen, oftmals polemisch und teils ohne Sachkenntnis geführten Debatten geprägtes Bild und arbeitet Defizite speziell bei der wissenschaftlichen Erforschung von geschichtsdidaktischen und -pädagogischen Elementen heraus. Gleichzeitig zeigt er auf, wie Historiker_innen  kommunistisch geprägte Narrative seit dem Ende der Sowjetunion zunehmend dekonstruieren und eindimensionale Geschichtsbilder mehr und mehr in Frage stellen.

Der abschließende Beitrag von Florence Hartmann geht auf die historisch-politische und strafrechtliche Aufarbeitung in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens ein und setzt sie in Beziehung zum Umgang mit der NS-Vergangenheit im Deutschland der Nachkriegszeit. Im Gegensatz zur Situation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die politischen Eliten im ehemaligen Jugoslawien das Gefühl, für jene in den 1990er Jahren begangenen kollektiven Gewaltverbrechen nicht verantwortlich zu sein. Die Gründe dafür sieht Hartmann bei der internationalen Gemeinschaft, speziell dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. Dieser habe es trotz einer transparenten strafrechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen nicht geschafft, eine lokale und individuelle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anzustoßen. Stattdessen werde im persönlichen Umgang ein Mantel des Schweigens über die Verbrechen gelegt. Diesen aufzulösen und sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen, arbeitet Hartmann als zwingend notwendig heraus. 

Zusammenfassung

Der Sammelband analysiert aktuelle historisch-politische Prozesse und Probleme in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens aus einer gesamteuropäischen Perspektive. Die kurzen, länderspezifischen Beiträge arbeiten historische Narrative und weitere geschichtspolitische Aspekte einzelner Staaten heraus und stellen sie in den Kontext der europäischen Erinnerungskulturen, speziell in den Kontext der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Dadurch entsteht ein differenziertes, ausgewogenes Bild der südosteuropäischen Erinnerungslandschaft und Geschichtspolitik. Besonders Leser_innen, welche einen ersten Eindruck über Erinnerungskulturen spezifischer südosteuropäischer Länder erhalten wollen, kommen auf diese Weise auf ihre Kosten.

 

 

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