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Täter, Opfer oder beides? Suizid eines jüdischen SS-Manns

Von Christian Schmitt

Geschichte nicht ausschließlich aus der Sicht von Opfern und Beherrschten beziehungsweise von Tätern und Herrschenden nachzuvollziehen, gehört zu den Grundvoraussetzungen eines multiperspektivischen Geschichtsunterrichts. Das Einbeziehen mehrerer Perspektiven ist für ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein unerlässlich. Besondere Ansprüche an das Reflexionsvermögen und die narrative Kompetenz der Schüler_innen werden dann gestellt, wenn sich der Perspektive keine dieser Rollen eindeutig zuordnen lässt.

Das ist der Fall bei dem Unterrichtsmaterial zum Suizid des jüdischen SS-Mannes Walter Müller, der sich im Juni 1933 im schwäbischen Waiblingen ereignete. Die Materialien eignen sich für die Sekundarstufe II und sollen „einen problemorientierten und gegenwartsbezogenen Zugang zur Frage nach der Erinnerung an Täter und Opfer des Nationalsozialismus“ bieten. Sie umfassen ein Arbeitsblatt und zwei weitere Blätter mit der Biografie sowie Quellen zum „Fall Walter Müller“. Autor ist Dr. Christoph Pallaske, Studienrat im Hochschuldienst in der Abteilung Didaktik der Geschichte der Universität zu Köln.

„Eine Tragödie im klassischen Sinne“

Die historischen Ereignisse beschreibt der Waiblinger Stadthistoriker Hans Schultheiß Jahrzehnte später als „eine Tragödie im klassischen Sinne“: Walter Müller, geboren 1901, ist 1933 leitender Klinikarzt in Waiblingen sowie SS-Sturmarzt. Im Mai wird der überzeugte Nationalsozialist angezeigt; bei den anschließenden Ermittlungen finden die Behörden heraus, dass Müllers Vater Jude ist. Müller selbst ist bei Adoptiveltern aufgewachsen und weiß nichts über seinen biologischen Vater. Am 27. Juni wird der Arzt über seine „jüdische Abstammung“ und seine bevorstehende Entlassung aus der Klinik auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ informiert und nimmt sich noch am selben Abend das Leben.

Im Arbeitsmaterial enthalten sind Fotos von Müller in Gesellschaft seiner SS-Kameraden, aus dem Hochzeitsurlaub sowie von seinem Grab. Eine Infobox beinhaltet die Biografie Müllers, von seiner Geburt und Jugend über Studium und Eintritt in die SS bis zu besagten Ereignissen des Jahres 1933 und seinem darauf folgenden Tod.

Erinnerungskulturelle Diskussion zum Grab Walter Müllers

Was für ein überzeugter Antisemit und Nationalsozialist Walter Müller gewesen ist, bezeugen die vorliegenden schriftlichen Quellen. So berichtet etwa sein Nachfolger, wie Müller Ausschreitungen gegen einen jüdischen Assistenzarzt initiierte, bei denen dieser von einem Mob Fackeln tragender SS- und SA-Leute aus dem Krankenhaus und schließlich aus der Stadt gejagt wurde. Auch der Abschiedsbrief an Müllers Ehefrau Marianne zeigt, in welcher Identitätskrise sich der Mann urplötzlich befand. Unerträglich schien ihm der Gedanke, „nicht mehr in der NSDAP [und SS] mittun zu dürfen“ (S. 3). Er hoffte, dass nach seiner Auferstehung seine „Atome sich glücklicher zusammenf[ä]nden als dieses Mal“ (ebd.). Sein letzter Wunsch an sie: „Sei in all deinem Tun und Handeln Nationalsozialistin, so wie ich trotz allem als SS-Mann sterbe“ (ebd.).

Der Aufgabenzettel regt eine erinnerungskulturelle Diskussion an. Dabei sollen die Schüler_innen drei Fragen beantworten: Was sollte mit dem Grab Walter Müllers passieren? Soll für den ehemaligen Arzt ein Stolperstein gesetzt werden? Soll für ihn eine erklärende Mahnstätte errichtet werden? Als Grundlage dient auch ein Artikel des „Stern“ aus dem Jahr 2008, der von einer entsprechenden Debatte in Waiblingen berichtet. Die Schüler_innen sollen als unabhängige Historiker_innen ein Gutachten für den Waiblinger Stadtrat erstellen und zu jeder dieser Fragen Stellung beziehen.

Der didaktisch-methodische Kommentar empfiehlt, die Schüler_innen anhand ihrer Antwort auf die erste Frage in drei Gruppen aufzuteilen (1. Grab einebnen, 2. Grab überwuchern, 3. Grab weiterhin von der Stadt pflegen) und sich ihre Argumente gegenseitig vortragen zu lassen. Im Anschluss ist zu fragen, ob manche der Schüler_innen im Laufe der Diskussion ihren Standpunkt geändert haben.

Zusammenfassung

Der paradoxe und doch bezeichnende Fall des SS-Arztes Walter Müller eignet sich hervorragend, um Schüler_innen Abstand zu historischem Schwarz-Weiß-Denken gewinnen zu lassen. Eine anspruchsvolle und widersprüchliche Perspektive fordert ihre Urteilskompetenz heraus und garantiert eine kontroverse Diskussion im Klassenzimmer. Anhand der Waiblinger Debatte um die Form des Erinnerns an Müller erfahren die Schüler_innen darüber hinaus die Aktualität zeithistorischer Fragestellungen.

Das Unterrichtsmaterial „Täter, Opfer oder beides? Suizid eines jüdischen SS-Manns“ ist auf lehrer-online.de zu finden. Der Download erfordert eine Registrierung, ist aber kostenlos.

 

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