"Stille Post – das beredte Schweigen meines Vaters"
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Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Von Barbara Brix
Der Tiefpunkt meiner Nachforschungen wie auch der inneren Auseinandersetzung mit meinem Vater lag, so scheint es mir jetzt, im September 2012. Zweieinhalb Tage lang hatte ich mir die vorbestellten Unterlagen in der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung von NS-Verbrechen angeschaut und mich durch einige hundert Seiten Vernehmungsprotokolle aus den Prozessen gegen SS-Täter in den Einsatzgruppen gelesen.
Eine blutige Spur hatten die Kommandos der Einsatzgruppen C und D vom Sommer 1941 bis zum Frühjahr 1944 durch die Ukraine gezogen. Zusammen mit deutschen Polizeibataillonen und einheimischen Kollaborateuren ermordeten sie, parallel zu den Operationen der Wehrmacht und teilweise mit deren Unterstützung, Hunderttausende galizischer und ukrainischer Juden.
Als ich an dem letzten meiner Archivtage durch die spätsommerlich warme Stadt zu meinem Hotel zurückging, drängten sich in meinem Kopf die Bilder von Massenexekutionen an jüdischen Frauen und Kindern durch deutsche Männer; und gleichzeitig vernahm ich deren Stimmen, wie sie sich gegenseitig die Schuld zuwiesen, Ausflüchte suchten, ihr Alter vorschützten, Gedächtnisausfälle in Anspruch nahmen und offensichtlich auch schamlos logen.
Unter den Papieren waren zwei Zeugenaussagen meines Vaters, in denen er zur Einsatzgruppe C befragt wurde. Aber auch zu seiner eventuellen Beteiligung oder Anwesenheit bei einer oder mehreren Erschießungsaktionen.
Gespräche? Fehlanzeige!
Bis zu meinem 65. Lebensjahr lag – so dachte ich lange – eine Decke des Schweigens über der nationalsozialistischen Vergangenheit und den Kriegsjahren meines Vaters.
Und doch war da immer etwas, was diffus, aber fühlbar durch die Zeiten mitging.
Heute kommt es mir eher wie ein Nebel vor, aus dem hier und da Spitzen, Hinweise heraus- stachen, die ich hätte ergreifen, bedenken, erforschen, erfragen können. Ich tat es nicht wirklich.
Da waren seine Beinprothesen. Irgendwann und irgendwo hatte er im Krieg seine Beine verloren. Da war die Geschichte meines Onkels. Da war die SS-Anstecknadel, die ich als Halbwüchsige auf dem Grunde einer Kleidertruhe auf dem Dachboden fand. Da waren eine gemeinsame Reise und ein Gespräch in der Intimität des Autos, von dem ich nur noch den einen Satz präzise erinnere: “Wir dachten damals: ‚Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne.’“ Auch waren da die hoch erregten Szenen im Wohnzimmer, als meine Schwester und ich im Geist der 68er anklagend auf unsere Eltern eindrangen: “Wo wart ihr damals? Was wusstet ihr?“ und ihre hilflos abwehrenden Reaktionen.
Da war vor allem die mehrfach auftauchende Bemerkung unserer Mutter, bei der noch in ihren späten Jahren die Kränkung der ursprünglichen Situation mitschwang: dass ihr junger Ehemann sich von Lodz aus „freiwillig an die russische Front gemeldet“ hätte, als sie mit mir hochschwanger war und ihr nichts anderes übrig blieb, als in ihr Breslauer Elternhaus zurückzukehren. Als mein Vater 1980 starb, schien dieses Kapitel erledigt, ohne dass ich es jemals wirklich aufgeschlagen hatte.
26 Jahre nach seinem Tod, als ich gerade pensioniert worden war, erhielt ich einen Hinweis von einem befreundeten Historiker, dass er bei seinen Nachforschungen über die Baltendeutschen in der SS auch auf meinen Vater gestoßen war. Er sei Arzt der Einsatzgruppe C gewesen.
Es traf mich wie ein Schock. Aber fast gleichzeitig fiel es mir auch wie Schuppen von den Augen: Er war nicht „an die russische Front gegangen“, sondern mit den Einsatzgruppen im Sommer 1941 in die Sowjetunion eingefallen. Ich hatte erstmalig in den 1990er Jahren auf der Ersten und Zweiten Wehrmachtsausstellung von den Einsatzgruppen erfahren – fassungslos, wie es einem immer wieder ergeht, wenn man sich mit weiteren, bis dato noch unbekannten Gräueltaten des Nationalsozialismus konfrontiert sieht.
Aber eigentlich hätte ich früher Bescheid wissen können; hatte ich doch spätestens seit den 198oger Jahren alles aufgesogen, was allmählich über den Nationalsozialismus ans Licht der Öffentlichkeit gedrungen war, und es in Unterricht umgesetzt. Wie oft war ich in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme gewesen, wie viele Projekte hatte ich mit Schülern dazu gemacht, auch ein Büchlein über einen jüdischen Lehrer meiner Schule verfasst…
Ich schob das Nachdenken über die Verwicklung meines Vaters in die NS-Verbrechen zunächst einfach weg. In der Kindheit und Jugend war er mir geistiger Mentor und maßgebliche moralische Instanz gewesen. Nun war neben das Bild meines zugewandten, inspirierenden, gleichzeitig ernsten und anspruchsvollen Erziehers plötzlich und unverbunden ein neues, schattenhaftes, beängstigende Fantasien freisetzendes getreten, hinter dem sich Abgründe zu öffnen schienen. Ich fühlte mich außerstande, diesen Zwiespalt aufzulösen.
Nachforschungen
Erst ein Jahr später – im Rahmen meiner Bewerbung für ein Freiwilligenjahr mit „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ und deren Bedingung, auch familiengeschichtlich zu forschen – nahm ich den Faden auf.
Vom Bundesarchiv in Berlin erhielt ich ein Kompendium, den Antrag auf „Heiratsgenehmigung“, den mein Vater, Untersturmführer der SS, im Juli 1940 an das „R. u. S. Hauptamt“ (Rasse- und Siedlungshauptamt) gerichtet hatte. Aus Ludwigsburg kamen zwei Vernehmungsprotokolle, in denen er 1966 und 1968 als Zeuge befragt worden war.
Mit der Lektüre dieses Protokolls im Kopf, irritiert und abgestoßen von der darin wiederkehrenden Wendung „Davon ist mir nichts bekannt“, geriet ich 2007 in Paris in die Ausstellung „La Shoa par balles“ („Die Shoah durch Erschießungen“).
Sie dokumentierte hauptsächlich den Weg des Einsatzkommandos 4a durch die westliche Ukraine und listete z. B. exemplarisch ein Kalendarium der Erschießungsaktionen für den Monat August 1941 auf: Alle zwei bis drei Tage zogen Einheiten des Kommandos in die umliegenden Dörfer, trieben die dort lebenden Juden zusammen, brachten sie um und verscharrten sie in Massengräbern. Die kalte Systematik ihres Vorgehens erlebte ich als so ungeheuerlich, dass ich die Ausstellung am Abend wie betäubt verließ. Lange Zeit vermochte ich keinen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn die Rolle meines Vaters in diesem Geschehen gedanklich zu klären. In inneren Bildern sah ich ihn in Strömen von Blut marschieren oder uniformiert mit anderen Uniformierten rauchend an einer mit Leichen gefüllten Grube stehen. Hatte ich ein Ungeheuer zum Vater gehabt? Ich wusste ja, dass nicht selten die brutalsten Täter zu Hause die liebevollsten Väter gewesen waren.
Erneut ließ ich meine Nachforschungen für eine Weile ruhen.
2011 besuchte ich in der Gedenkstätte Neuengamme das Seminar „Ein Täter, Opfer, Zuschauer in der Familie“. Es half mir methodisch weiter und bestärkte mich darin, die
Archive in Freiburg und Ludwigsburg aufzusuchen. Vor allem aber erleichterte es mich zu sehen und zu hören, dass andere Menschen meiner Generation - und auch der nachfolgenden - ebenso, manche sogar noch viel mehr, an dieser familiären Situation zu knacken hatten.
II. Der Werdegang und die Kriegsgeschichte meines Vaters
Mein Vater wurde 1912 in Riga, damals noch eine russische Stadt, als jüngstes von vier Kindern in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren. Er besuchte das Deutsche Klassische Gymnasium und absolvierte ein Medizinstudium an der Universität Riga.
„Seit ihrer Gründung im Januar 1933 gehörte“ er nach eigenem Bekunden „der illegalen Nationalsozialistischen Volksdeutschen Partei in Lettland“ an, die sein ältester Bruder gegründet hatte, und war bis zu seinem Staatsexamen „in ihr tätig, zuletzt als Scharführer“.
Nach dem Examen verließ mein Vater Lettland und machte an verschiedenen deutschen Universitätskliniken seine Ausbildung zum Kinderarzt.
Im September 1939 hatte er sich „als Kriegsfreiwilliger bei der Waffen-SS gemeldet. Im Oktober wurde ich bei der SS Leibstandarte ‚Adolf Hitler’ eingestellt“. „Etwa 4 Wochen vor Beginn des Rußlandfeldzuges wurde ich vom Sanitätsersatzamt der Waffen-SS in Berlin zu einer Einsatzgruppe abkommandiert. Diese Gruppe lag in der Nähe von Torgau“, so liest sich die Aussage meines Vaters 25 Jahre später in einer der Zeugenvernehmungen.
Dieser Aufbruch - oder vielmehr der Anstoß dazu - bleibt widersprüchlich. Meine Mutter beharrte bis zum Ende ihres Lebens darauf, er sei freiwillig gegangen. Es wäre aber auch denkbar, dass sie diesen Akt mit seiner freiwilligen Meldung zur Waffen-SS knapp zwei Jahre zuvor verwechselt. Der „Weggang“ meines Vaters sollte in mehrfacher Hinsicht ein familiäres Schlüsselerlebnis werden.
Meine schwangere Mutter kehrte notgedrungen in ihr Elternhaus zurück. Zwei und ein halb Monate später wurde ich als erstes Kind und älteste Tochter in Breslau geboren.
Da war mein Vater schon mit dem Stab der EG C quer durch die Ukraine über Lemberg, Rowno, Shitomir, Winniza bis Kiew gezogen. Nach seiner Aussage war er medizinisch für die gesamte EG C mit ihren 6 EKs sowie einige nahe gelegene Wehrmachtslazarette zuständig und sagte aus, er sei „mit gewissen Unterbrechungen fast ständig unterwegs zu den einzelnen Kommandos und weiteren abgezweigten Gruppen gewesen (bin), um meiner Aufgabe als Arzt gerecht zu werden.“
Nach bisherigem - und wahrscheinlich auch endgültigem - Kenntnisstand sind im Zusammenhang mit Erschießungsaktionen zwei bis drei Situationen aktenkundig, in denen von der Präsenz „des Arztes“ oder auch „der Ärzte“ der EG die Rede ist, ohne dass Namen fallen.
Mehrere als Zeugen benannte (untergeordnete) Mitglieder der EG C erkennen in der ihnen vorgelegten „Lichtbildmappe“ unter Nr. 51 – 52 „unseren Arzt Dr. K.“ wieder.
In den beiden Aussageprotokollen von 1966 und 1968 bestreitet er, von den Massakern an den ukrainischen Juden gewusst zu haben, geschweige denn bei einem oder mehreren dabei gewesen zu sein: Es sei ihm während seiner Tätigkeit als Arzt bei der Einsatzgruppe „nie voll bewusst oder bekannt geworden (ist), daß es zum Schwerpunkt der Aufgaben des Kommandos gehörte, an der Vernichtung des Judentums mitzuwirken.“
Doch gibt er bei einer weiteren Vernehmung aus dem Jahre 1969 (als Zeuge im Prozess gegen seinen Bruder), auf deren Kopie ich erst kürzlich stieß, immerhin zu, er hätte sich „damals, im Krieg, als ich beim Gruppenstab war, von diesen Dingen, die ich natürlich ahnte und von denen ich gerüchteweise hörte, distanziert, was mir in meiner Stellung auch ohne weiteres möglich war.“
Vieles spricht dafür, dass er noch in Kiew war, als am 28. und 29. September 1941ganz in der Nähe, in Babi Yar, 33. 771 Juden, unter brutalsten Umständen erschossen und in eine Schlucht geworfen wurden.
Laut den Ereignismeldungen, die alle Kommandos regelmäßig nach Berlin zu schicken verpflichtet waren, ermordete die Einsatzgruppe C vom Juni 1941 bis zu ihrem Rückzug aus der Ukraine (1944) 118.314 Menschen.
Mein Vater kehrte im Januar 1943 zur Waffen-SS in die Wehrmacht zurück. In den dann folgenden anderthalb Jahren hat er sich als Arzt des 9. SS-Panzer-Regiments „Hohenstaufen“, vorwiegend im besetzten Frankreich aufgehalten. Bei der alliierten Landung in der Normandie wurde sein Regiment fast vollständig aufgerieben. Am 2.7.1944 traf eine Granate sein Lazarett bei Neuilly und verletzte ihn so schwer, dass man ihm in der Eile des Rückzugs beide Beine amputierte.
Den Rest des Krieges verbrachte er in unterschiedlichen Lazaretten und danach fast zwei Jahre in einem US-amerikanischen Internierungslager, bis die verstreute Familie im Herbst und Winter 1947/48 in einer Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets allmählich wieder zusammenfand.
Am 23. 4.1948 wurde er von dem zuständigen Kreisentnazifizierungsausschuss als „entlastet“ eingestuft.
III. Perspektivenwechsel
Der Archivbesuch in Ludwigsburg 2012 geriet zum Tiefpunkt meiner Nachforschungen wie auch der inneren Auseinandersetzung mit meinem Vater.
Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass mein Vater schrecklich geirrt, ja mehr noch, schrecklich gefehlt hat. Er war ein überzeugter Nationalsozialist. Es gab einen antisemitischen Grundton in seinem Diskurs. Er agierte innerhalb dieses politisch-weltanschaulichen Systems, dem er sich freiwillig zur Verfügung gestellt hatte.
Alles in Allem, seine Aussagen und seine Persönlichkeit betrachtend, fand ich in Ludwigsburg und in der Zeit danach zu der Auffassung, dass eine aktive Verstrickung meines Vaters in die Massenmorde der Einsatzgruppe unwahrscheinlich und eine Rolle als bewusster Zuschauer bei den Exekutionen wenig wahrscheinlich war.
Aber es ist offensichtlich - er selbst deutet es ja auch an - dass er unmöglich „nichts gewusst“ hat. Unübersehbar, unüberhörbar mussten sich die grausigen Aktivitäten und Erlebnisse in den einzelnen Kommandos auch im Stab der Einsatzgruppe vermitteln.
Mehr als das: Auch wenn er als sicher hingebungsvoll arbeitender Arzt nicht zum Mörder wurde, so gehört er doch durch seine hohe Identifikation mit dem Nationalsozialismus und seine 18-monatige Zugehörigkeit zu einer Einsatzgruppe eindeutig auf die Seite der Täter.
Über seine Motive, seine intellektuellen und emotionalen Verarbeitungsprozesse aber kann ich nur spekulieren. Die Protokolle der drei staatsanwaltlichen Zeugenvernehmungen aus späteren Jahren spiegeln wohl eher die Bewusstseinshaltung seiner Epoche und persönliche Verteidigungsstrategien wider als eine belastbare Selbstreflexion.
Erhaltene Briefe und Gedichte meines Vaters aus der Nachkriegszeit sprechen dagegen von depressiven Zuständen, von einem inneren Verlust, von Desillusionierung, von einer Hinwendung zum Christentum, ohne allerdings je konkret oder gar politisch zu werden. In den späteren Jahren – vor allem als Reaktion auf die sich immer mehr Gehör verschaffende 68er Bewegung – schien ein tief verwurzelter Antikommunismus wieder die Oberhand zu gewinnen und sich mit einem zunehmenden Konservativismus zu verbinden.
IV. Und ich?
Seit fast zehn Jahren beschäftige ich mich – immer wieder auch innehaltend – mit der NS-Geschichte meines Vaters und setze mich gedanklich und emotional mit meinen Erinnerungen und den Dokumenten auseinander. Es war – und ist – ein Wechselbad der Gefühle.
Am Anfang stand schieres Entsetzen – aber auch die Enttäuschung darüber, dass die moralische Integrität meines Vaters sich als brüchig erwies; und dass er mich mit diesen furchtbaren Verdächtigungen allein gelassen und nicht den Mut gefunden hatte, mit mir darüber zu sprechen. Am besten hätte dies - so war mein irrationaler Wunsch - in einer reflektierten und selbstkritischen Weise geschehen sollen.
Meine Einschätzungen schwankten je nach Stimmungs- und Dokumentenlage. Aber mit der Zeit, und fast unbeabsichtigt, rückte auch ich selbst immer mehr in den Radius der Betrachtung.
Ich musste - zögernd - zur Kenntnis nehmen, dass er gar nicht in einem so konsequenten Schweigen verharrte, wie ich es mir offensichtlich zurechtgelegt hatte. Es gab – wie eingangs erwähnt – Gelegenheiten, in denen ich hätte nachfragen, nachbohren können – und es nicht tat. Weil der Zeitgeist es nicht hergab? Weil ich zu feige war? Weil ich mich vor der Antwort fürchtete?
Auch meine aggressiven Vorwürfe aus der 68er Zeit sehe ich inzwischen weniger heroisch, als ich es lange empfand. Sie waren zwar von gerechter Empörung getragen, doch lag diese im Zeitgeist. Es war auch viel antiautoritäre Attitüde dabei, eine Portion Triumph, das Familienoberhaupt, die Elterngeneration von ihrem moralischen Sockel herunterholen zu können. Aber es lag ihnen kein wirkliches Erkenntnisinteresse zugrunde und noch weniger der Respekt vor seiner persönlichen Integrität.
Heute wird mir deutlich, dass ich mich – vor allem nach dem Tode meines Vaters - mit einer fast obsessiven Unermüdlichkeit dem Thema Nationalsozialismus gewidmet habe. In meiner Schule war ich d i e Adresse (und auch das Feigenblatt) für alle mit diesem Gebiet zusammenhängenden Mitteilungen und Anfragen. Aber auch privat erlaubte (und erlaube) ich mir nur selten eine andere Lektüre als zu dieser Thematik.
So denke ich, dass darin auch so etwas wie das „kollektive schlechte Gewissen“ der Familie wirksam ist. Nicht zufällig scheinen mir der Weggang meines Vaters zu den Einsatzgruppen, die ohnmächtig empörte Rückkehr meiner Mutter in ihr Elternhaus und meine Geburt zeitlich so nahe beieinander zu liegen. Da es danach - in beiderseitigem Versagen - nie zu einem echten Gespräch zwischen uns kam, ist gewissermaßen die elterliche „Schuld ins familiäre Unterbewusstsein“ gesunken und ich, als Älteste und Betroffene, habe es übernommen sie abzutragen. Natürlich weiß ich, dass ich weder etwas gutmachen kann noch muss, doch ist da ein anhaltend starkes Gefühl des Involviertseins.
Anders als mein Bruder, der sich (und mich) fragt, ob wir das Recht haben, „die unbekannte Geschichte unseres Vaters“ ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen und damit bekannt zu machen, anders als meine Schwester, die meine Haltung zu „defensiv“ findet, verstehe ich mein Nachforschen und Nachdenken darüber vor allem als eine Art Selbstvergewisserung. Denn unbeantwortet und unablässig bohrend erhebt sich die Frage: Wo hätte ich gestanden? Wie viel Distanz hätte ich gewahrt? Wäre es mir möglich gewesen, mein Mitgefühl mit den Ausgegrenzten, Gedemütigten zu erhalten?
Erst kürzlich, auf der Tagung des Studienzentrums von Neuengamme (zum Thema „Der Umgang mit nationalsozialistischer Täterschaft in den Familien von TäterInnen und NS-Verfolgten sowie in der Gesellschaft von 1945 bis heute“) wurde mir klar, dass meine Nachforschungen nicht nur eine private Angelegenheit sind, sondern auch eine gesellschaftliche Dimension besitzen: Sind sie nicht auch ein wichtiger, vielleicht sogar hilfreicher Beitrag zum Verständnis der Fragen wie konnte ein ‚ganz normaler Mensch’ zum Täter werden? Wie konnte eine übergroße Mehrheit der Gesellschaft zu Mittätern werden?
Wäre es nicht sogar notwendig, dass in allen Familien gefragt und geforscht wird, um besser zu verstehen, was in Deutschland nach1933 geschehen ist?
Brücken bauen
Seit Kurzem gibt es Anzeichen, dass mein Vater doch, entgegen seiner Behauptungen als Zeuge in SS-Prozessen, bei mindestens einer der Massenerschießungen 1941 in der Ukraine dabei war. Ich weiß noch nicht, was ich mit dieser neuen Information anfange. Doch weiß ich, dass die in der Gedenkstätte Neuengamme initiierten Gespräche mit Jean-Michel Gaussot und Yvonne Cossu, Sohn bzw. Tochter von in Neuengamme umgekommenen französischen Häftlingen, sowie mit anderen Betroffenen der zweiten und dritten Generation die Chance bieten gemeinsam neue Wege im Umgang mit dieser nicht enden wollenden Vergangenheit zu suchen.
Anmerkung
Das Zitat in der Überschrift stammt aus: Geneviève Hesse, Und wenn Opa und Oma doch Nazis waren? In: Psychologie Heute, Juni 2011, S. 77
Dieser Artikel entspricht in leicht veränderter Form dem Beitrag der Autorin in dem von Oliver von Wrochem herausgegebenen Band "NS-Täterschaften und ihre Weitergabe in Familie und Gesellschaft".
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- 16/02/2017 - 11:56