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Historisches Lernen mit verschiedenen Zeugnisformen. Ein Sammelband für die pädagogische Praxis

Knellesen, Dagi; Possekel, Ralf (Hg.): Berichte, künstlerische Werke und Erzählungen von NS-Verfolgten. Aus der Publikationsreihe "Bildungsarbeit mit Zeugnissen“ (Band 1). Hrsg. im Auftrag der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ). Berlin 2016, 308 S., € 18,35.

Von Anne Lepper

Mit dem Tod der letzten Überlebenden des Holocaust rückt das Ende der direkten Zeitzeugenschaft immer näher. Die deutsche Erinnerungskultur, in der die Arbeit mit Zeitzeug_innen bislang einen unabdingbaren Platz einnahm, wird sich dadurch in den kommenden Jahren merkbar verändern. Debatten darüber, wie mit diesem Einschnitt gerade in der Bildungsarbeit langfristig umgegangen werden sollte, wurden in den letzten Jahren vielfach und teilweise kontrovers geführt. Während die einen befürchteten, die Perspektive derjenigen, die die nationalsozialistischen Verbrechen selbst erfahren haben, könne im Zuge der Historisierung des Holocaust verloren gehen, beklagten andere im Umgang mit der Geschichte des Holocaust eine Fokussierung auf das bloße Erinnern an die Opfer, bei dem selbstreflexive und selbstkritische Aspekte oft keine Rolle spielen würden.

Tatsache ist, dass persönliche Hinterlassenschaften das sind, was von den Überlebenden auch nach ihrem Tod bleiben und uns auch in Zukunft die Möglichkeit geben wird, ihre Geschichten wieder- und an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Diese Hinterlassenschaften, die in sehr unterschiedlicher haptischer und digitaler Form vorliegen – also Berichte, Bilder, Audio- und Videodokumente, persönliche Gegenstände, usw. – werden es Pädagog_innen und Multiplikator_innen in Zukunft ermöglichen, die Arbeit mit den Zeitzeug_innen zumindest in gewissem Maße und quasi virtuell fortzusetzen. Während Zeugnisse ehemaliger NS-Verfolgter aufgrund ihres individuellen Erfahrungshorizonts sowohl die Heterogenität als auch die Radikalität von Gewalt und Gewalterfahrungen auf besondere Weise widerspiegeln, birgt eben diese Subjektivität auch stets die Gefahr, persönliches Erleben zu verallgemeinern oder miteinander abzugleichen.

Arbeit mit Zeugnissen – ein didaktisches Handbuch

Ein von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) herausgegebener Sammelband gibt nun einen Überblick über die verschiedenen Zeugnisformen sowie die aus ihnen erwachsenden Möglichkeiten und Ansätze für die Bildungsarbeit. Die Publikation, die 2015 online und 2016 in Druckform erschienen ist, ist das Ergebnis einer Seminarreihe, die zwischen 2009 und 2012 von der EVZ in der Bundesrepublik durchgeführt und dokumentiert wurde.

Der Band, der in sechs Kapitel unterteilt ist, bemüht sich um eine begriffliche Definition und Eingrenzung des Zeugnisbegriffes sowie eine Systematisierung und Einordnung der verschiedenen Zeugnisformen und Gattungen. Als inhaltliche Klammer dient dabei ein einführender Text von Susanne Urban, in dem die unterschiedlichen Typologien umrissen und deren spezifische Rezeptionsgeschichten dargestellt und kontextualisiert werden. Bevor die Autorin sich jedoch dem Zeugnis als Produkt individueller Erfahrungen und Erinnerungen zuwendet, schafft sie durch die definitorische Hinführung an den Begriff des Zeugen zunächst eine theoretische Basis. Dies ermöglicht im Folgenden eine strukturierte Deklination und Analyse nicht nur einzelner Zeugnisse, sondern auch des übergeordneten Entstehungs-, Bedeutungs- und Rezeptionskontextes einzelner Quellen.

An die theoretischen Überlegungen und Hinführungen Urbans knüpfen schließlich die einzelnen Kapitel an, die sich jeweils einer einzelnen Gattungsform individueller Zeugnisse widmen, wobei hier zwischen Zeitzeugeninterviews, Schriftzeugnissen, autobiografischer Zeugnisliteratur, Bildzeugnissen, Musik und Quellen aus NS-Prozessen unterschieden wird.

Am Anfang eines jeden Kapitels geben dabei verschiedene Beiträge einen Einblick in den aktuellen Stand der Wissenschaft, der sich sowohl auf die Wahrnehmungsgeschichte als auch auf die Einordnung der jeweiligen Zeugnisform sowohl innerhalb des allgemeinen Quellenpools an Zeugnissen zu NS und Holocaust, als auch in übergeordneten Feldern wie der Oral History und der allgemeinen Geschichtswissenschaft bezieht. Dabei wird deutlich, dass die jeweiligen Rezeptionsräume und Wissenschaftsdisziplinen, in denen die einzelnen Zeugnisformen verhandelt und wiedergegeben werden, zwar teilweise stark voneinander abweichen, Zeugnisse von Überlebenden insgesamt jedoch seit den 1980er Jahren sowohl in der Wissenschaft als auch in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus, Judenverfolgung und Zweitem Weltkrieg stark an Bedeutung gewonnen haben.

Die wissenschaftlichen Exkurse und Einführungen zu Beginn der einzelnen Kapitel werden schließlich ergänzt durch verschiedene Beiträge, die konkrete Bildungsangebote und -konzepte zu der jeweiligen Zeugnisform vorstellen und diese in einen weiter gefassten Kontext – sowohl in historiografischem als auch in didaktischem Sinne – einordnen. Die sowohl in ihrer Methodik als auch in ihrer Thematik sehr unterschiedlichen Beiträge geben fundierte und vielseitige Anregungen für eine zukunftsorientierte pädagogische Praxis und zeigen, welche Möglichkeiten gerade in der Heterogenität und Subjektivität der einzelnen Quellen und Zeugnisformen stecken.

Zusammenfassung

Der von Dagi Knellessen und Ralf Possekel herausgegebene Band, der Teil der Publikationsreihe „Bildungsarbeit mit Zeugnissen“ ist, leistet einen wichtigen Beitrag zur Strukturierung und Didaktisierung von historischem Quellenmaterial in Hinblick auf pädagogische Konzepte und Entwicklungen. Dies ermöglicht eine methodisch sinnvolle Implementierung von individuellen Zeugnissen ehemaliger NS-Verfolgter in bestehende und künftige Bildungsangebote, bei der gleichzeitig mögliche Schnittstellen zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, Kunst- und Darstellungsformen mitgedacht und aufgezeigt werden. Die Zeugnisse, die ohne eine differenzierte und umfassende Vermittlung von gattungsspezifischem und historiografischem Kontextwissen oft in erster Linie einer vorbehaltlosen Identifikation mit den Opfern dienen, werden auf diese Weise zu Bausteinen einer vielschichtigen Pädagogik, die unterschiedliche Aspekte miteinander verbindet und in ein Verhältnis zueinander setzt. Erst eine solche Zusammenführung und theoretische Rahmung ermöglicht schließlich eine fundierte quellenkritische Einordnung der einzelnen Quellen und einen sensiblen Umgang mit den Geschichten derer, die selbst nicht mehr erzählen können. Der Band stellt dadurch eine unumgängliche Basis für die Arbeit mit Zeugnissen von Holocaust-Überlebenden dar und kann gleichermaßen als Anregung für eine übergeordnete theoretische Auseinandersetzung als auch als Handbuch für die Praxis und die Entwicklung eigener Konzepte dienen.

Literatur

Die Publikation kann auf der Website der EVZ kostenlos heruntergeladen werden.

 

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