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Weggesperrt. Erinnerungen von Frauen im Gulag

Von Gerit-Jan Stecker

Ein individuelles Denkmal für jede Mitgefangene setzen, jedes Verbrechen, aber auch jede Gerechtigkeit bezeugen – die Erinnerungen von Olga Adamowa-Sliosberg machen deutlich, was ein Lebensbericht bedeuten kann. Sie überlebte über zwanzig Jahre in Gefängnissen, Zwangsarbeitslagern und der Verbannung. Wenn Adamowa-Sliosberg nicht mehr wusste, ob sie ihre Kinder jemals wiedersehen würde, hielt sie sich an dem Ziel aufrecht, ihre Begegnungen und Erlebnisse nicht dem Vergessen zu überlassen.

Semjon Wilenski überlebte ebenfalls Stalins Gefängnisse und Lager. Auf dem 20. Parteitag der KpdSU 1956 wurden Stalins Verbrechen, drei Jahre nach seinem Tod, teilweise öffentlich gemacht und verurteilt. Nach und nach rehabilitierte die sowjetische Justiz viele politische Häftlinge. 1963 versuchte Wilenski in Magadan einen Sammelband herauszugeben, der wenigstens teilweise Aufzeichnungen von Repressionsopfern enthalten sollte. Allerdings ohne Erfolg. Die Zensur zog sich auf einen Kniff zurück: Alle Aufzeichnungen jener Autor_innen mussten herausgestrichen werden, die nicht behördlich in der Provinz Kolyma gemeldet waren. Da viele Gefangene noch in den Lagern verstorben waren, blieben nicht viele Zeugnisse für den Sammelband übrig.

Doch während der Perestroika 1989 konnte die russische Erstausgabe schließlich publiziert werden. 2009 gab Nina Kamm schließlich eine deutsche Ausgabe in der Reihe Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung heraus, die sie auch übersetzt hat.

Darin zeichnen insgesamt 19 Erinnerungen ein "Bild von der fließbandmäßigen Produktion von 'Volksfeinden' (...), von den Gefängnissen, den Lagern, der Verbannung" (S. 9). Sie zeigen, wie umfassend und effektiv die sowjetische Polizei und Geheimdienste den Terror gegen "Trotzkisten" und "Kulaken", also angebliche Großbauern, aufbauten. Damit deutlich wurde: Es darf keine politische Abweichung von Stalins Linie geben, und Schuld an Hunger und Knappheit trügen gierige Klassenfeinde. Der Klappentext formuliert eine Leitfrage für den Band: "Wie aber übersteht man 10, 15, 20 oder 25 Jahre in einer Umgebung, die systematisch darauf ausgerichtet ist, die Gefangenen zu erniedrigen, zu verhöhnen, zu zerbrechen? Die Antwort, die Botschaft dieser Erinnerungen ist von zeitloser Gültigkeit und Notwendigkeit, denn sie lautet: Man kann unmenschliche Situationen durchleben und trotzdem Mensch bleiben." Der letzte Satz klingt vielleicht weniger pathetisch, wenn Mensch zu bleiben bedeutet, unter widrigsten Bedingungen trotzdem das eigene Handeln nicht dem unmittelbaren, egoistischen Vorteil zu unterwerfen, sondern an Empathie, gegenseitiger Hilfe und normativen Prinzipien auszurichten.

Die Verhaftung

Die meisten Autor_innen des Buches fielen der ersten großen Verhaftungswelle der Jahre 1936-37 zum Opfer. Oft waren sie selbst überzeugte Bolschewiki, kaum eine zweifelte an Stalins Genialität. Die Anklagen und Ermittlungsverfahren waren willkürlich, im Zweifel wurden die Beschuldigten verurteilt, weil sie die Anklage geleugnet hatten. Diese Ohnmachtserfahrungen verarbeiteten die Frauen im Tagebuch wie Julia Sokolowa, in Briefen wie Ariadna Efron an Boris Pasternak, oder in Lebensberichten wie von Olga Adamowa-Sliosberg. Oft selbstkritisch ringen sie dabei um eine Erklärung für das Sinnlose.

... da fallen Späne

Alle Aufzeichnungen sind in der vorliegenden Ausgabe in Auszügen abgedruckt, diejenigen von Adamowa-Sliosberg davon am umfangreichsten. Nach Jahren in verschiedenen Gefängnissen und Zwangsarbeitslagern beschloss sie, sich alle Geschichten ihrer Mitgefangenen, jede Begegnung und jedes Ereignis genau einzuprägen. Eines Tages wollte sie alles der Öffentlichkeit enthüllen. Während einige alles in der Gefangenschaft Erlebte vergessen wollten, gab Adamowa-Sliosberg ihrem Leben ein neues, selbstbestimmtes Ziel.

Es dauerte lange, bis Adamowa-Sliosberg und viele andere Häftlinge den verbrecherischen Charakter der Verhaftungen anerkannten. Sie berichtet, wie sie selbst anfänglich die willkürlichen Repressionen gegen sogenannte "Volksfeinde", die unter anderem auch ihre Haushälterin trafen, für gerechtfertigt gehalten hatte, oder es sich zumindest einzureden versuchte: Die Haushälterin sei eine Kulakin, also eine Großbäuerin gewesen (wer als Kulak_in galt, war dabei auch eine Frage der Willkür). Es müsse doch Gründe geben, wenn jemand verhaftet würde, und beim Holzhacken, so dass russische Sprichwort, fallen Späne. Eben auch bei einer Revolution. Noch im Moskauer Gefängnis unterstellte Adamowa-Sliosberg mitgefangenen Frauen, echte Spioninnen gewesen zu sein und nun ihre gerechte Strafe zu erhalten. Andere Zellengenossinnen wiederum forderten sie auf, die Kommissare während der Verhöre mit möglichst detaillierten Angaben zu unterstützen, damit diese der furchtbaren Verschwörung auf die Spur kommen. Selbst mit Urteilen von zehn Jahren Haft folgerten die Gefangenen, es müsse diese Konspiration geben, sonst handele sich ja die ganze Situation um eine schreckliche Ungerechtigkeit. Aus einem Organismus müsse die kranke Stelle herausgeschnitten werden, und dabei werde zwangsläufig auch etwas gesundes Gewebe entfernt. Am Ende fielen die Frauen als politische Gefangene einem Terror zum Opfer, der allein die Möglichkeit der Abweichung von Stalins Linie ausmerzen wollte – und wem kann man schon trauen, nicht etwa doch "Trotzkistin" oder "Zionistin" zu sein?

Entsolidarisierung und patriarchale Gewalt

Ein wiederkehrendes Motiv in den Aufzeichnungen ist Abgrenzung von "der großen Menge demoralisierter und zynischer Krimineller", die keine Rücksicht auf Mitgefangene kannten. In der Lagerhierarchie konnten diese als Brigadiere und "Natschalniks" Aufseher und Vorgesetzte werden. Meist handelte es sich dabei um Männer. Oft waren sie selbst Opfer der sogenannten Entkulakisierung. Sie wendeten sich nicht direkt gegen die Sowjetmacht und rächten sich stellvertretend an gefangenen Parteimitgliedern durch besonders harte, unmöglich zu bewältigende Zwangsarbeit. Andere Aufseher bäuerlicher Herkunft bestraften politische Gefangene eigenmächtig dafür, dass diese es vermeintlich besser gehabt hätten, weil sie meist höhere Bildung genossen hätten und aus dem städtischen Bürgertum stammen würden.

Bei der Zwangsarbeit musste ein bestimmtes Soll erfüllt werden. Dabei wollte niemand mit den "Abkratzern" zusammenarbeiten, Gefangenen, die schon so krank und verhungert waren, dass es unmöglich schien, den Soll zu erfüllen – und zu riskieren, zur Strafe weniger Essen zu erhalten.

Frauen waren zusätzlich alltäglichen sexualisierten Übergriffen und Gewalttaten männlicher Vorgesetzter ausgesetzt. Diese drohten, die Gefangene in Isolierhaft zu stecken, wenn sie nicht die Leibesvisitationen über sich ergehen lässt, im Badehaus, bei nächtlichen Apellen, bis hin zu organisierten Gruppenvergewaltigungen durch Wachsoldaten, mit denen einige Vorgesetzte (vor allem männliche, aber auch weibliche) Geld und Vorteile verdienten.

Zweite Verhaftung und Rehabilitierung

War das offizielle Strafmaß abgesessen, erfolgte oft keine Entlassung. Wurden sie schließlich entlassen, mussten die ehemaligen Häftlinge unterschreiben, "für immer" in Kolyma zu bleiben (82). Die Ausbeutungsverhältnisse und Hierarchien blieben dabei weiterbestehen, höhere Posten wurden jedoch etwas besser bezahlt.

1949 folgte eine weitere Verhaftungswelle. Diesmal traf es neben ehemaligen Häftlingen wie Soja Martschenko und Olga Adamowa-Sliosberg vor allem Frauen, die Verbindungen zu Deutschen gehabt hatten, ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Baltinnen. Auch die Kinder der Verhafteten von 1936/37 kamen in die Arbeitslager. Sie waren jetzt volljährig und wurden nur deswegen verhaftet, weil sie die Kinder ihrer Eltern waren.

"Könnte es nicht sein, dass Stalin und die Revolution nicht ein und dasselbe sind?"

Sliosberg kam in die Verbannung nach Karaganda. Sie berichtet, wie sie in dieser Zeit Erklärungen für die Repressionen zu finden begann. In Gesprächen äußerte sich sie sich vorsichtig systemkritsch: "Könnte es nicht sein, dass Stalin und die Revolution nicht ein und dasselbe sind?" (S. 103). Kurz zuvor hatte sie ihren zweiten Ehemann kennengelernt, Nikolai Adamow. Ihr erster überlebte die Zwangsarbeit in den Goldminen Sibiriens nicht. Adamows Geschichte ist unter anderem interessant, da sie Handlungsmöglichkeiten und Werteorientierungen in einem äußerst repressiven System aufzeigt: Adamow kritisierte Stalin ebenfalls von links und agitierte für den Kampf gegen den Diktator. Mehrmals entkam er einer Hinrichtung, indem er bei Verhören den Beamten drohte, umgekehrt ihnen etwas anzuhängen. Darauf ließ es tatsächlich kein Polizist ankommen.

1954, im Jahr nach Stalins Tod, wurde die "ewige Verbannung" abgeschafft. Die Rehabilitierung der politischen Gefangenen zog sich jedoch bis 1956. Adamow-Sliosbergs Urteil wurde schließlich aufgehoben mit der Begründung, dass kein Tatbestand eines Verbrechens vorliege.

Fazit

"Weggesperrt. Frauen im Gulag" ist ein fesselndes Dokument, das anhand individueller Biographien einerseits zum Geschichtslernen über den Stalinismus beiträgt, zum anderen der Opfer dieser Jahrzehnte gedenkt. Dabei geht es um die individuellen Schicksale; ohne diese durch eine politische Funktion, etwa im Rahmen nationaler Identitätsstiftung, zu überformen. Zugleich gelingt es dem Band, die Rolle der Schauprozesse, der "Säuberungen" und der Zwangsarbeit in dieser Periode in der sowjetischen Geschichte aus der Perspektive von Protagonistinnen zu erhellen, die dem Regime – zum Teil bis zuletzt – nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden. Das verleiht den Dokumenten besondere Authentizität.

Insgesamt von der Herausgeberin Nina Kamm durchdacht und glaubwürdig übersetzt (bis auf wenige Ausnahmen wie der Ausdruck "Hooligan" auf S. 93) bietet der Band außerdem eine Zeittafel, ein umfangreiches Glossar, biographische Angaben zu ausgewählten Personen und eine Karte der UdSSR. Es gibt Fußnoten zu jeder Person, jedem Ort und speziellen Begriffen, sobald sie erstmals auftauchen, sowie zu Fragen der Übersetzung.

Zu wünschen bleibt vielleicht ein Vorwort der deutschen Herausgeberin, das eine Einordnung 20 Jahre nach dem Erscheinen der russischen Erstausgabe vornimmt und erläutert, warum sie die Aufzeichnungen einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen möchte – und warum es sich ausschließlich um Erinnerungen von Frauen handelt. Beim Lesen wird zwar klar, dass es spezifische Erfahrungen waren, die von denen männlicher Gefangener abwichen. Es stellt sich jedoch auch die Frage, inwiefern hier vermeintliche weibliche Eigenschaften zugeschrieben und reproduziert werden. So betont das russische Vorwort die Empathie und die Opferbereitschaft der Frauen. Heißt das, Männer seien dazu weniger in der Lage? Dessen ungeachtet ist der Band sehr lesenswert; und es lässt sich schwer nachvollziehen, warum dieser bisher wenig Aufmerksamkeit bekommen hat.

Literatur:

Nina Kamm (Hrsg.): Weggesperrt. Frauen im Gulag. Erinnerungen (Reihe: Texte / Rosa-Luxemburg-Stiftung; Bd. 56), Karl Dietz Verlag Berlin (2009), 316 S.

 

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