Dialogue

„Warum ist die Erinnerung an den Gulag so schwierig?“

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Dr. Christian Wevelsiep studierte Sonderpädagogik und Philosophie in Dortmund. Er ist Privatdozent für Politische Soziologie und arbeitet als Lehrer in Bochum.

Von Christian Wevelsiep

Woran liegt es, dass die Erinnerung an den Gulag so schwierig ist? Es gibt eine Reihe von historischen Faktoren, die einem sofort in den Sinn kommen und auf naheliegende historische Umstände zielen: Während das Naziregime der NS-Zeit lediglich 12 Jahre existiert hatte, bestand das Sowjetregime mehr als 70 Jahre und allein dieser Umstand beeinflusste die Wahrnehmung des Regimes, die Wahrnehmung der von ihm begangenen Verbrechen und somit auch die historische Forschung. Zu den naheliegenden Faktoren zählt des Weiteren, dass offizielle Propaganda und Geschichtsschreibung alles unternahmen, um die Geschichte des Landes, die Geschichte der Leiderfahrungen, der Geschichten in- und außerhalb der Lager in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Die Erinnerung an den Gulag ist also primär deshalb erschwert, weil die Möglichkeiten zur Erforschung der eigenen Geschichte zunächst schlichtweg nicht gegeben waren und sich erst zögernd – und weiterhin mühsam – unter posttotalitären Bedingungen ein Bewusstsein für die eigene Geschichte entwickeln konnte. Man kann zwar auf einzelne Leuchttürme der Memoria verweisen, denken wir etwa an die 1987 entstandene Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich neben der Fürsorge für Repressionsopfer und Menschenrechtsarbeit für die Aufrechterhaltung des Gedenkens einsetzt. In Moskau oder Perm vermitteln einzelne Museen Einblicke in die grausame Realität der Zwangsarbeit und es lassen sich auch Denkmale und Mahnmale im Gedenken an die Opfer der sowjetischen Gewaltpraktiken finden.

Es gibt freilich verschiedene Gründe dafür, dass die Beschäftigung und Vergegenwärtigung der Ereignisse um den Gulag so schwierig ist, die im vorliegenden Beitrag schrittweise dargelegt werden sollen. Naheliegende psychologische und politische Gründe lassen sich vergleichsweise leicht benennen: In Erinnerungskulturen schwingt nicht selten ein gewisses Unbehagen mit, wenn es um die Vergegenwärtigung des Vergangenen geht. Erinnerungen haben des Weiteren etwas durchaus Egoistisches und gleichsam Ausschließendes, dies betrifft die individualpsychologische Ebene im gleichen Maße wie die kollektive. Diese vordergründigen Aspekte der kollektiven Bewältigungsmöglichkeiten sind in einem ersten Schritt aufzuklären. Im Weiteren ist aber eine tiefer reichende Problematik der Erinnerung zu beschreiben: es ist zu fragen, kraft welcher theoretischen Zugänge die Tradition des negativen Gedächtnisses überhaupt fassbar wird. Ist jeder Versuch einer „Sinnstiftung“, der rückwirkend die Totalität der Verbrechen einzuholen versucht, im Grunde zum Scheitern verurteilt? Oder lassen sich Dimensionen historischen Denkens freilegen, die die Vergangenheit in ihrer historischen Bedeutung für die Gegenwart lebendig werden lassen? Die hier vorliegenden Reflexionen plädieren für die zweite Möglichkeit und betonen die Orientierungsfunktion historischen Wissens auch und gerade angesichts der Gewalterfahrungen in diktatorischen Systemen.

Die Last der Erinnerung

Wie lässt sich das menschliche Leiden angemessen beschreiben, das sich mit dem Begriff des Gulags verbindet? Historiker versuchen im Allgemeinen, eine notwendige Distanz zum historischen Geschehen einzunehmen und die Dinge so darzustellen, wie sie waren. Das führt freilich im Zusammenhang des stalinistischen Terrors zu Beschreibungen auf einer Grenze. Das System des Gulags, das von den Sowjets praktiziert wurde, umfasste eine Menge von Lagern, die parallel zur Kollektivierung der Landwirtschaft aufgebaut und systematisch verbreitet wurden. In einfachen Zahlen ausgedrückt: in insgesamt 476 Lagerkomplexe wurden bis 1958 rund 18 Millionen Menschen geschickt (Snyder 2013, S. 48). Die Anschauung dessen, was in diesen Lagern vor sich ging, fällt jedoch um einiges schwerer. Wie stellt man sich Lagerkomplexe vor, in denen Hunderttausende beispielsweise mit Hacken und Schaufeln, mit Tonscherben oder mit bloßen Händen in gefrorenem Boden gruben? Wie kann man das Leiden ermessen, das der tausendfache Tod aufgrund von Erschöpfung oder Krankheit mit sich brachte? Man kann es nicht. Es gehört zu den Verdiensten des Historikers Timothy Snyder, dass er nicht nur versuchte, die Gewalträume in Europa zwischen Hitler und Stalin nicht nur (wiederholt) zu vermessen. Sondern: dass er sich dabei auf die Ebene unmittelbarer Gewalterfahrung begab: die gewaltsame Deportation der Kulaken aus der Ukraine 1930 zum Beispiel bedeutete, „dass sich etwa 30.000 Bauerhütten nach und nach leerten, wobei ihre überraschten Bewohner wenig oder gar keine Zeit hatten, sich auf das Unbekannte vorzubereiten.“ Es bedeutet ferner, „dass Tausende von eiskalten Güterwaggons mit verängstigter und kranker Fracht“ in die Ferne rollten, „es bedeutete Schüsse und Schreckensschreie an dem letzten Morgen, den die Bauern zuhause erlebten; es bedeutete Erfrierungen und Demütigungen in den Zügen und Furcht und Resignation.“ (Ders. S. 47 f.).

Ein Einblick in die Situation eines Lagers ist immer schwer. Die Herrschenden der Gulags verfolgten die Strategie, die Starken auf Kosten der Schwachen zu ernähren. Der Hungertod griff um sich und ungezählte Menschen starben bereits auf den langen Wegen in die Lager. Die Anonymität des Sterbens gehörte wohl zu den vorrangigen Grausamkeiten dieser Situation.

Das Unbehagen der Erinnerung

Mit den Worten von Aleida Assmann gibt es ein Unbehagen an der Erinnerungskultur (Assmann 2013; dies. 2013a). Solches Unbehagen ist logisch, ja natürlich, wenn man versucht, die Erfahrungen der Gewalt im Gulag nachzuvollziehen. Unbehagen meint aber auch viel allgemeinere Probleme mit der Gedächtnisforschung. Um diesen Aspekt der Geschichte soll es im Folgenden gehen. Einer der schwierigsten Punkte des Gedenkens an die Opfer des Stalinismus ist die Frage, ob die kognitiven Tätigkeiten des Erinnerns und Vergessens lediglich für Individuen oder auch für Großgruppen möglich sind. So sehr unsere Kultur von Symbolen, Orten und Riten der Memoria umgeben ist, so ist doch in der Theorie die Frage umstritten, was unter dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses eigentlich zu verstehen ist. Reinhard Koselleck, der berühmte deutsche Historiker, hat hier eine recht deutliche Position bezogen: jeder Versuch einer kollektiven Erinnerung sei in bestimmten Fällen zum Scheitern verurteilt, wenn dabei übergroße Ansprüche verfolgt werden. Weder die nachträgliche Einholung einer Gerechtigkeit, noch die Ausweisung eines normativen Maßstabs könne von der historischen Vergewisserung eingeholt werden. Warum? Das Ausmaß, die Abgründigkeit und die Unerträglichkeit der (in diesem Falle nationalsozialistischen) Verbrechen führten zur Verdrängung und zur Abstoßung des Negativen. Aber noch darüber hinaus sei kollektive Erinnerung ein Trugschluss, weil es keine Überführung der einmaligen individuellen Erfahrungen aus dem Gedächtnis der Betroffenen in ein kollektives Gedächtnis oder eine kollektive Erinnerung geben könne: „Die in den Leib gebrannte Erfahrung der absurden Sinnlosigkeit lässt sich, als Primärerfahrung, nicht in das Gedächtnis anderer oder in die Erinnerung nicht Betroffener übertragen. Mit dieser negativen Botschaft müssen wir Zeitgenossen oder Nachgeborenen umzugehen lernen.“ (Koselleck 2002, S. 25).

Gilt diese Überzeugung? Zwei Ebenen müssen wohl unterschieden werden. Worauf Koselleck berechtigterweise Bezug nimmt, ist wohl die fundamentale Ebene der einmaligen Erfahrung, deren Erinnerung niemand uns abnehmen kann und die wortwörtlich gemeint nicht übertragbar sind. Solche Erinnerungen brennen sich in den Leib ein und können nur mühsam nacherzählt werden, seien es Erfahrungen in den Lagern selbst, seien es die damit verbundenen Emotionen der Angst, des Schmerzes, der Ausweglosigkeit und Ohnmacht in den rigorosen Lagerhierarchien. Gleichwohl: Eine zweite Ebene der Memoria ist zu betonen. Der Weg des Erinnerns führt nicht über die Zusammenführung individueller Erzählungen, sondern über rekonstruierte Geschichte. In ihr wird ein Rahmen abgesteckt, für die Wiedererkennung eigener Geschichten, für Zurechnungen und Repräsentationen, aber nicht zuletzt im Sinne einer Überlieferung im Gruppengedächtnis. Mit anderen Worten: Es ist notwendig und geboten, das Unbehagen an einer Erinnerungskultur zu überwinden und den negativen Erfahrungen Spielräume kritischen Geschichtsbewusstseins entgegen zu stellen. Mit einem solchen Plädoyer ist allerdings eine weitere Frage verbunden, die abschließend zu diskutieren ist: Gibt es sinnvolle Rahmenbedingungen für ein transnationales, gleichsam universelles Geschichtsbewusstsein?

Die „Gegenmacht“ der Erinnerung

Die Gefahren im Kontext der Memoria der Gewaltgeschichte und des Gulags im Besonderen liegen auf der Hand. Die Instrumentalisierung der vergangenen Geschichte – sie kann in verschiedenen Richtungen ungute Wirkungen entfalten. Die Wahrnehmung des eigenen Leidens kann in eine Überhöhung umschlagen. Erinnerung ist immer auch mit Aspekten der Identitätssuche verknüpft und somit auch Ausdruck eines spezifischen Selbstwertgefühls. Sie ist realistisch betrachtet ein zutiefst egozentrisches Verfahren, insofern etwa in der Erinnerung an das eigene Opfer oder an das eigene Leiden etwas Ausschließendes mitschwingt (Krzeminski 2002). Der Historiker Jörn Rüsen betont in diesem Zusammenhang, dass historisches Wissen trotz seiner Manipulierbarkeit eine wichtige Orientierungsfunktion besitzt. Das, was geschehen ist, gewinnt den Status einer erzählbaren Geschichte für die Gegenwart. Solche Arten von Geschichten orientieren menschliches Handeln und Leiden in jeweils aktuellen zeitlichen Bezügen der Gegenwart (Rüsen 2003, ders. 2012). Das heißt, der erdrückenden Negativität der Gewaltgeschichte wird ein Sinn entnommen. Den Erfahrungen von Leid, Unterdrückung, Verfolgung und Gewalt werden identitätsstärkende Orientierungen entgegen gehalten; die „negative historische Erfahrung drückt die Betroffenen nicht nieder, sondern richtet sie auf.“ (Rüsen 2003, S. 31)

Wie lässt sich also abschließend die Aufgabe der Erinnerungspolitik angesichts der Erfahrungen der Gewalt definieren? Zu betonen ist, dass es nicht darum gehen kann, im Blick auf die Gewaltgeschichte die eigenen „Erfolge“ zu rühmen, also beispielsweise Kerneuropa als Hort des Friedens und des zivilisatorischen Fortschritts zu rühmen und gleichsam alles abzuwerten, was sich nicht unter dieser (eurozentrischen) Erfolgsgeschichte versammeln lässt. Der eigentliche Wert der historischen Erkenntnis liegt im Kriterium der Negativität. Erst die Integration negativer Erfahrungen in das eigene Selbstbild bringt die Fülle zwischen Geschichte und Gegenwart zum Ausdruck. Ein solches, nicht festgelegtes Geschichtsbewusstsein ist zu tiefgreifenden Anerkennungsleistungen in der Lage. 

Literatur

Assmann, A.: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013

Dies.: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München 2013a;

Koselleck, R.: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses. In: Knigge, V./Frei, V. (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München 2002, S. 21-33

Ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. (Hg. v. C. Dutt) Frankfurt a. M. 2014

Krzeminski, A.: Polen. In: Knigge, V./Frei, V. (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München 2002, S. 262-272;

Rüsen, J.: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens. Frankfurt a. M. 2012 (Neuausgabe)

Rüsen, J.: Europäisches Geschichtsbewusstsein. In: Ders.: Kann gestern besser werden? Zum Bedenken der Geschichte. Berlin 2003

Snyder, T.: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München 2013

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