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Idomeni – Die Katastrophe der EU-Flüchtlingspolitik

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Johannes Spohr lebt als Historiker und freier Journalist in Berlin. Er verbrachte im März zwei Wochen an der griechisch-mazedonischen Grenze.

Von Johannes Spohr

Nach und nach ziehen die Reporter_innen aus Idomeni ab, und so verblassen die Bilder der unerträglichen Zustände dort für den größten Teil der internationalen Öffentlichkeit. Ab dem Zeitpunkt, an dem sich die Elendsbilder zu wiederholen scheinen, werden sie für die Presse irrelevant. Für die Menschen vor Ort bleiben die Realitäten fatal – dazu gehören die konkreten Umstände ebenso wie die Neuigkeiten über politische Entscheidungen auf EU-Ebene. Das zentrale Problem der über 10.000 Menschen an der griechisch-mazedonischen Grenze und der ca. 48.000 in Griechenland festsitzenden ist jedoch schlichtweg, nicht weiter reisen zu können. Bisher ist ihr Wunsch, Zuflucht in Europa zu finden mit Zäunen, Schlägen, Tritten, Stempeln und bürokratischer Verwaltung, unterlassender Hilfeleistung in einer humanitären Katastrophe und neuen Verschärfungen im Asylrecht beantwortet worden. Das gilt für diejenigen, die es lebendig über die Ägäis bis nach Griechenland geschafft haben. Wer von ihnen es nach Deutschland schaffen wird, wird nicht selten mit weiteren Problemen zu kämpfen haben, mit rassistischen Angriffen verschiedener Art, Leben in Lagern, fehlendem Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt und immer wieder auch mit Ausweisung und Abschiebung. In Idomeni kulminieren die fatalen Folgen der EU-Flüchtlingspolitik. Nicht das seit sechs Jahren in einer tiefen Krise steckende Griechenland, noch das seine Grenze schließende Mazedonien sind das zentrale Problem: Die Katastrophe von Idomeni ist vor allem EU-gemacht.

Gestrandet in Idomeni

Die politischen Entwicklungen und Entscheidungen dieser Tage schlagen sich immer auch direkt darauf nieder, was sich entlang der Fluchtrouten beobachten lässt, so auch in Idomeni. Etwa die Hälfte der dort Anwesenden sollen inzwischen Frauen und Kinder sein. Nachdem im Januar die Aussetzung der Familienzusammenführung von den deutschen Regierungsparteien beschlossen wurde, sollen bereits wenige Tage später verhältnismäßig deutlich mehr Frauen und Kinder auf den griechischen Inseln angekommen sein. Viele derer, die bis dahin in der Türkei auf Entscheidungen warteten und die gefährliche Überfahrt mieden, machten sich nun dennoch auf. In Idomeni berichten viele davon, Familienmitglieder in Deutschland zu haben. Für eine Zusammenführung müssen sie sich dennoch in Lebensgefahr begeben und meist große Geldsummen investieren. Vor Ort trafen wir einen Syrer, der einen Aufenthaltstitel in England besitzt und dort arbeitet. Als er davon mitbekam, dass seine Frau in Idomeni gestrandet war, machte er sich sofort mit seinem PKW auf den Weg, um sie abzuholen. Da es keine legale Möglichkeit gibt, zusammen mit seiner Frau zurück nach Großbritannien zu fahren, sitzen die beiden nun zusammen dort fest.

Die Bilder, die von Idomeni um die Welt gingen, zeigen Menschen vor einem Zaun, die nicht weiter kommen, die „gestrandet“ sind. Den EU-Regierungen dürften diese Bilder zumindest nicht missfallen. Das Signal, das durch die Situation in Idomeni geschaffen und durch die aktuellen Beschlüsse gestärkt wird, ist klar und deutlich: »Macht euch nicht auf eigene Faust auf, sondern wartet, bis wir euch herreinbitten!« So wird die Aussage, die Balkanroute sei »geschlossen«, faktisch untermauert. Der sogenannte „Türkei-Deal“ zwischen den EU-Ländern und der Türkei bedeutet eine riesige Menschenschieberei, die allein der Propagierung dieser Botschaft dient. Die 1:1-Lösung soll nur für die unmittelbare Zukunft gedacht sein und dazu dienen, die Route über die Ostägäis unattraktiv zu machen. Wenn für jede_n Syrer_in, der_die von der Türkei aus Griechenland zurückgenommen wird, ein_e andere_r potentiell von der EU aufgenommen wird, bedeutet das für alle, die sich auf eigene Faust aufgemacht haben, dass ihre Strapazen umsonst waren. Ihnen bleibt im Grunde nur der Weg in die Illegalität, gleichzeitig werden die Preise der Schlepper weiter in die Höhe getrieben. Viel ist davon die Rede, man wollte den Schleppern das Handwerk legen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass das Geschäft mit der irregulären Einreise erst durch die restriktive Grenzpolitik entsteht, und das seit vielen Jahren.

Das Unverständnis, das einem in Gesprächen über diese Beschlüsse in Idomeni begegnet, ist groß. Einige wollen ihre Inhalte einfach nicht glauben, immer weniger jedoch glauben nach wie vor daran, die Grenze zu Mazedonien werde sich wieder öffnen. Auch denjenigen, die sich noch in der Türkei befinden und eine Überfahrt nach Griechenland erwägen, soll die Entscheidung genommen werden, die mit der geplanten Rückführung als sinnlos dargestellt wird.

In Deutschland gibt man sich bereits seit den Debatten des letzten Jahres Allmachtsphantasien hin, wenn man immer wieder sogenannte „Obergrenzen“ fordert. Die jüngsten Ereignisse haben eines deutlicher denn je gemacht: Die Autonomie der Migration ist Realität. Diese »Autonomie der Migration«, so Yann Moulier Boutang, »zeigt sich in ihrer Selbstständigkeit gegenüber den politischen Maßnahmen, die darauf zielen, sie zu kontrollieren. Migration unter dem Gesichtspunkt ihrer Autonomie zu betrachten, bedeutet, die sozialen und subjektiven Dimensionen der Migrationsbewegungen zu betonen.«[1] Menschen sind also nicht durch Zäune und Mauern davon abzuhalten, sich frei zu bewegen. Die Konsequenz jedoch, die sich aus dem Versuch der Abschottung ergibt, ist ein Anstieg der Todesfälle entlang der immer gefährlicheren und teureren Routen. Auch in Idomeni starben vor wenigen Tagen drei Menschen aus Afghanistan bei dem Versuch, einen Fluss zu überqueren.

Abschottung und Dominoeffekte

Das Vorgehen des mazedonischen Staates gegenüber den Geflüchteten in Idomeni ist von offener Brutalität geprägt. Der Einsatz von Knüppeln und Tränengas gegen den Versuch, die Grenze zu öffnen, Fälle von Folter, von denen Geflüchtete immer wieder berichteten, der Ausschluss bestimmter Herkunftsstädte und Regionen in Syrien und Irak als Fluchtgrund, und schließlich die vollständige Schließung der Grenze. Auch der Regierung in Mazedonien dürfte klar sein, dass die Menschen nicht im Mazedonien bleiben, sondern weiter Richtung Norden reisen wollen. Der Dominoeffekt jedoch, bei dem Stück für Stück die Slowakei, Österreich, Ungarn und Serbien ihre Grenzen schlossen, ließen auch in Mazedonien die Befürchtung entstehen, die Situation von Idomeni könne sich in Mazedonien wiederholen. Fragwürdig erscheint es daher, wenn seitens der deutschen Regierung und Presse das Vorgehen gegen Geflüchtete in Mazedonien oder etwa Ungarn kritisiert wird, während die Vorgänge lediglich ein Mosaikstein der Auswirkungen von Flüchtlingspolitik in ganz Europa ist. Bilder der Brutalität zu vermeiden, ist das Privileg Deutschlands, das über keine EU-Außengrenze verfügt. Es kann  jedoch keinesfalls von einem eigenen Anteil an der Entstehung dieser Brutalität freigesprochen werden. Das Schließen der Grenzen wird immer wieder bestärkt und wird nun auch von Albanien eingefordert.

Derweil feiern rechte Parteien in Deutschland wie in vielen europäischen Ländern ein Erfolg nach dem anderen, wie jüngst die Alternative für Deutschland in drei Bundesländern. Die rassistische Stimmung, die sich in den Wahlergebnissen ablesen lässt, findet ihren Ausdruck auch in den sozialen Medien. Dort kursieren während der Tage, in denen die mediale Aufmerksamkeit auf Idomeni gelenkt wird, zahlreiche Phantasmen über Geflüchtete, die immer wieder auch mit Forderungen nach Gewalt gespickt sind. Die grundlegende Tendenz besteht hier darin, Geflüchteten ihre Gründe für die Flucht abzusprechen und diese als »Invasoren« zu bezeichnen. Hass bricht vor allem dann los, wenn Geflüchtete sich wie in Idomeni auf eigene Faust aufmachen und versuchen, die Grenzen zu überwinden. Dieser ist immer auch und besonders auf diejenigen gerichtet, die sie dabei unterstützen. Es wird immer wieder behauptet, es müsste »Hintermänner« der Aktionen geben, als könne es den Geflüchteten keinesfalls zugestanden werden, autonom und eigenverantwortlich zu handeln. Es wird sich beispielsweise echauffiert über das von Aktivist_innen unterstützte Überwinden der Grenze zu Mazedonien am 14. März, weil dabei Menschenleben auf dem Spiel stünden, ohne zu berücksichtigen, dass bereits seit Wochen und Monaten Menschenleben auf dem Spiel stehen und auch faktisch immer wieder Menschen auf den Fluchtrouten sterben.

Dagegen stehen die zahlreichen Geschichten der Menschen vor Ort. Viele berichten sehr direkt über die Zustände und Ereignisse, die sie zur Flucht gebracht haben. Immer wieder ist dabei auch von einer direkten Bedrohung durch Daesh, den Islamischen Staat die Rede.

Es ist schwer abzuschätzen, wie die Situation in Idomeni sich ohne die vielen Freiwilligen und Aktivist_innen entwickelt hätte, die sich in NGOs und unabhängigen Strukturen wie der Aid Delivery Mission, die täglich viele tausend Portionen Essen austeilt, engagieren. Im geordneten Chaos ist häufig vor allem die unmittelbare Versorgung mit den Nötigsten ihre Aufgabe. Während im Camp ein vorrangig äußerst positives Bild Deutschlands dominiert, finden sich unter ihnen vor allem Kritiker_innen und Gegner_innen der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik wider. Ein Umstand, mit dem Umzugehen nicht immer einfach ist. Denn der Spielraum für die Artikulation politischer Forderungen ist durch die Dringlichkeit der Lage äußerst erschwert. Man befindet sich in dem Dilemma, das Bleiben erträglicher zu machen, obwohl das Hauptanliegen für alle ist, weiter reisen zu können. Die Grausamkeit der Verhältnisse wird abgefedert und weniger sichtbar. Jedoch würde konsequenter Weise niemand in Kauf nehmen, die Versorgung in Idomeni bewusst noch weiter zu verschlechtern. Die unterlassene Hilfeleistung der europäischen Gemeinschaft kann nicht durch die hier Aktiven fortgeführt werden.

Weitere Artikel von Johannes Spohr finden Sie auf seinem Blog preposition.de


[1]    Moulier Boutang, Yann, Nicht länger Reservearmee. Thesen zur Autonomie der Migration und zum notwendigen Ende des Regimes der Arbeitsmigration. In: Subtropen 04/2002.

 

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