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Flucht, Vertreibung und Umsiedlung im Umfeld des Zweiten Weltkrieges

Von Gerit-Jan Stecker

Das Kursheft „Flucht, Vertreibung und Umsiedlung im Umfeld des Zweiten Weltkrieges“ unterstützt Lehrkräfte im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe II mit Anregungen für einen methoden-, handlungs- und gegenwartsorientierten Geschichtsunterricht. Es ergänzt eine umfangreiche Quellensammlung mit Aufgaben für die Schüler_innen.

Didaktische Konzeption und Struktur

Die Handreichung beschäftigt sich mit den Hintergründen, Formen und Folgen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung verschiedener Bevölkerungsgruppen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Eine verkürzte Betrachtung des Themas soll vermieden werden. Dabei geht das Heft von der Feststellung aus, dass Migrationsprozesse ein konstitutiver Teil der Menschheitsgeschichte und ein zentrales Element gesellschaftlichen Wandels sind. Im 20. Jahrhundert geschahen Wanderungsbewegungen meist nicht freiwillig. Vor allem die nationalsozialistische Herrschaft und der Zweite Weltkrieg lösten Flucht- und Vertreibungsprozesse in bis dahin nicht bekanntem Ausmaß aus.
Das erste Kapitel führt in den Komplex „Migration im 20. Jahrhundert“ ein. Es geht auf Definitionen, Formen und die spezifischen historischen Bedingungen von Migration ein. Dabei beziehen sich die Materialien stark auf die Gegenwart. Als vorherrschende Form von Wanderungsbewegungen im 20. Jahrhundert tritt Zwangsmigration im Umfeld gewaltsamer Konflikte heraus.
Der zweite Schwerpunkt untersucht zunächst die Vorgeschichte der Zwangsmigrationen des Zweiten Weltkriegs und verweist dabei auf die Rolle der im 19. Jahrhundert entstandenen Vorstellung einer ethnisch homogenen Nation. Weiter werden die vom Deutschen Reich in Polen betriebenen Vertreibungen, Deportationen und Umsiedlungen dargestellt sowie die nationalsozialistischen Pläne einer rassistischen Neuordnung Osteuropas und die Deportationen aus dem Osten des aufgeteilten Polens unter Stalin.
Die Verschleppung von Zwangsarbeitenden im Nationalsozialismus ist Gegenstand des dritten Kapitels: Es beschreibt Ausmaß und Bedeutung, beschäftigt sich mit der Herkunft der Betroffenen, beleuchtet Lebens- und Arbeitsbedingungen und verweist auf den Zusammenhang mit der Hierarchisierung gemäß der NS-Rassentheorie. Ein Vertiefungsteil thematisiert das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück: Er dokumentiert Aufbau, Lageralltag und die Hierarchisierung der Gefangenen. Abschließend wird eine Reflexion des Gedenkens an die Zwangsarbeitenden angeregt.
Die verschiedenen Wellen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung in Osteuropa insbesondere ab 1944 sind Thema im vierten Kapitel. Der Sammelbegriff „Flucht und Vertreibung“ wird problematisiert und Definitionen werden abgeleitet. Die Phasen sogenannter wilder Vertreibungen und Umsiedlungen von Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei werden nachgezeichnet sowie weitere Prozesse der Zwangsmigration, von denen polnische, ukrainische, litauische und weißrussische Bevölkerungsgruppen betroffen waren. Dabei helfen verschiedene Materialien, die Zwangsmigration der Deutschen in die permanenten Zwangsumsiedlungen in Polen seit 1939 einzuordnen und die Position der Alliierten zu erarbeiten. Unterschiedliche Sichtweisen und Beurteilungen sollen eine differenzierte Urteilsbildung seitens der Schüler_innen fördern. Dieses Kapitel bietet eine interessante Vertiefung an: Eine Beschäftigung mit der Völkerwanderung soll eine Reflexion über den historischen Charakter des modernen Nationenkonzepts anregen, das mit seinem Ideal einer ethnisch homogenen Gemeinschaft eine maßgebliche Voraussetzung der Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert lieferte. Diese Idealvorstellung wird dekonstruiert.
Kapitel fünf fragt nach individuellen Erfahrungen der Betroffenen und ihren Verarbeitungsmustern. Selbstzeugnisse und biografische Texte werden als Quellenarten eingeführt und die Vorteile und Risiken ihrer Rezeption kritisch beleuchtet.
Die Entwicklungen in der Bundesrepublik und der DDR nach der Ankunft der Flüchtlinge und Vertriebenen, die Hemmnisse und Erfolge der Integration vergleicht der sechste Schwerpunkt. Es geht um die Lebenssituation, die Reaktionen der Einheimischen und der Umgang mit der Vertriebenenproblematik in der Politik. Vertiefend stellt das Kapitel Zusammenhänge zu ökonomisch beeinflussten Wanderungsbewegungen her: Einerseits werden Migrationen im Zusammenhang mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert untersucht. Andererseits thematisiert das Kapitel die Arbeits- und Lebenssituation von „Gastarbeiter_innen“ sowie Einstellungen und Vorurteile in der Mehrheitsgesellschaft. So wird ein Bogen zur Migrationsgeschichte in der Bundesrepublik bis zur Gegenwart geschlagen – und zu aktuellen Diskussionen um Integration und den Formen einer Einwanderungsgesellschaft.
Das letzte Kapitel setzt sich mit Formen der kollektiven Erinnerung auseinander. Mit Bezug auf die Kontroversen um das geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ zeichnet es Entwicklungen und Diskussionen in der Bundesrepublik und Polen vor und nach 1989/90 nach.
Das Ende jedes Kapitels kommentiert die Übungen zu Sach-, Urteils- und Methodenkompetenzen, die innerhalb des Kapitels erarbeitet werden. Nicht zuletzt ist die Handreichung übersichtlich gestaltet und erlaubt einen gezielten Zugriff auf die benötigten Informationen. Zusätzlich enthält das Kursheft einen Semesterverlaufsplan, zahlreiche Visualisierungen und Tafelbilder, Arbeitsblätter sowie Literatur- und Internethinweise. Auf seiner Website bietet der Verlag einen Aktualitätendienst.

Fazit

In der Tat leistet das Kursheft „Flucht, Vertreibung und Umsiedlung im Umfeld des Zweiten Weltkrieges“, das Thema umfassend in historische Prozesse einzuordnen und ermöglicht eine differenzierte Beurteilung. In Anbetracht der Tatsache, dass „Flucht und Vertreibung“ historische Narrative hervorgebracht haben, die über (familiäre) Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik mehr Schüler_innen erreichen als andere Geschichtsthemen, ist dies notwendig und nützlich. Die Kombination von ereignis-, ideen-, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Dokumenten mit ausgewählten Theorieansätzen für ihre Deutung ist daher gelungen. Insbesondere die kritische Beschäftigung mit der Methode der Oral History erweist sich als sinnvoll. Allerdings überwiegen im Teil zu den Biografien Lebenswege von deutschen Zwangsmigrierten. Zwar gibt es biografische Skizzen von in Ravensbrück inhaftierten Frauen. Dennoch würde z.B. die individuelle Erfahrung von ehemaligen Zwangsarbeitenden, die sich im heutigen Westpolen niederließen, ein differenzierteres Bild zeichnen. Die Diskussionen um ein Zentrum gegen Vertreibungen könnten nochmals eine Brücke zu Zwangsmigrationen der Gegenwart schlagen. Da das Thema jedoch im ersten Schwerpunkt behandelt wird, ist das kein starker Kritikpunkt. Dafür ist schließlich das gute Lektorat hervorzuheben, das Fachbegriffe bzw. Fremdwörter mit verständlicheren Entsprechungen ergänzt und damit auch indirekt den Unterricht unterstützt.

Literatur:

Martin Grohmann: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung im Umfeld des Zweiten Weltkrieges: Handreichungen für den Unterricht, Reihe Kurshefte Geschichte, (2014) Cornelsen Verlag Berlin, 88 S., 10,00 €
Auch als E-Book erhältlich.

 

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