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Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive

Von Gerit-Jan Stecker

Von der nationalen Opferperspektive bezüglich „Flucht und Vertreibung“ abgerückt sind zahlreiche Publikationen in Deutschland, Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Doch die öffentlichen Debatten zu Flucht und Vertreibung spiegeln die geschichtswissenschaftlichen Fortschritte zu diesem Thema noch immer nur unzureichend wieder. Diese Tendenz schlägt sich auch in den Debatten um die Errichtung eines „Zentrum gegen Vertreibungen“ (ZgV) in Berlin nieder. Aus diesem Grund, und da nach dem Kalten Krieg die Diskurse zur „Erinnerung“ in vielen Ländern Europas sich gegenseitig beeinflusst haben, möchten das „Zentrum für Zeithistorische Forschung“ in Potsdam und das „Zentrum für vergleichende Geschichte Europas“ an der FU Berlin die Historiker_innen zu Wort kommen lassen, darunter Vertreter_innen einer jüngeren Generation, die in die Beratungen zum geplanten „Zentrum gegen Vertreibung“ bisher nicht einbezogen wurden.

Herausgegeben von Jürgen Danyel und Phillip Ther geht es in der 1. Ausgabe der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ von 2003 nicht nur um den Forschungsstand, sondern auch um die Frage, warum das Thema Zwangsmigration immer noch für internationale Konflikte sorgt. Die Beiträge bilanzieren die öffentlichen Diskurse, weisen auf Defizite und offene Fragen. Dabei konzentrieren sie sich auf Deutschland und Ostmitteleuropa, periodisch werden die Vertreibungen auf den Zeitraum zwischen 1938 und 1948 begrenzt.

Elemente eines sinnvollen Zentrums gegen Vertreibungen

Den Rahmen bildet die Debatte um ein europäisches Dokumentationszentrum über die Vertreibung. , Dass Vertreibung und Neuansiedlung, d. h. die Aneignung einer neuen Heimat, kollektive, transnationale Bestandteile eines europäischen „Erfahrungszusammenhangs“ (9) darstellen, argumentiert Karl Schlögel im Einstiegstext. Aufgrund der Bedeutung für die deutschen und polnischen Vertreibungsdiskurse und aufgrund der deutschen Tendenz, Verbrechen gegenüber Tschech_innen und Pol_innen im Diskurs zu ignorieren, plädiert Naimark für ein Dokumentationszentrum in Wrocław/Breslau. Ein solches Zentrum sollte zudem historische Bezüge zu vorangehenden und nachfolgenden Zwangsumsiedlungen herstellen (22). Nach dem Vorbild des Holocaust Museum in Washington D.C. wäre es sinnvollerweise ein Ort sowohl für Forschung als auch Gedenken. Weiter müsste ein ZgV auf die Bevölkerungsplanung moderner Staaten eingehen, auf die Beteiligung von Spezialist_innen (wie z. B. Architekt_innen, Agrarwissenschaftler_innen usw. beim deutschen „Generalplan Ost“) und auf die Millionen Opfer von Deportationen und Zwangsmigration im 20. Jahrhundert.

Christoph Klessmann und der Mitherausgeber Jürgen Danyel kritisieren ein ZgV in Berlin und mit mehrheitlich deutschem Beirat, wie es der Bund der Vertriebenen jedoch bisher vorsieht. Das aber werde der Forschung und den Debatten in anderen, vor allem ostmitteleuropäischen Ländern, nicht gerecht. Letztlich müsste ein europäisches Zentrum gegen Vertreibung als Wanderausstellung konzipiert sein, um regionale Projekte einzubinden und Diskussionen auszulösen – wie es die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ vermochte. Nicht zuletzt könnte ein gemeinsames, multiethnisches Erbe aus Zeiten vor der gewaltsamen Homogenisierung durch dieses Zentrum bewahrt werden.

Philipp Ther weist auf Schwierigkeiten dabei hin, Erinnern und Aufklären als gegensätzliche Motive für ein ZgV zu vereinen. Er kritisiert, dass noch immer die meisten deutschen Abhandlungen über die Vertreibung erst im Jahr 1945 ansetzen. Sie vermitteln eine Deutsche Opferperspektive, in der Pol_innen, Russ_innen und Tschech_innen vor allem als Täter_innen auftauchen, unterschlagen somit nicht nur die deutsche Aggression und das Besatzungsregime, das mit massenhaften Deportationen in Tschechien und Polen einherging. Schon mit der preußischen Ansiedlungspolitik im polnischen Teilungsgebiet wirkte das Deutsche Reich als treibende Kraft in der Entwicklung und Verbreitung eines ethnischen Nationenverständnisses. Und als sich postkoloniale Nationalstaaten gründeten, wie z. B. Pakistan 1947, wurde gewaltsame nationale Homogenisierungen globalisiert. Dementsprechend muss ein europäisches ZgV globale Ursachenforschung betreiben (S. 37). Ther betont außerdem – zusammen mit Naimark – die Differenz zwischen Vertreibung und Genozid: Während erstere auf die Entfernung einer Bevölkerungsgruppe aus einem bestimmten Gebiet zielt, ist der Genozid auf die Vernichtung von Menschen gerichtet. Aber auch der Kontext von Erinnerung muss berücksichtigt werden, wie etwa der Kalte Krieg.

Zeitgeschichtsforschung vs. Politik

Claudia Kraft erinnert an die Bedeutung von zeithistorischer Forschung im gesellschaftlichen Verständigungsprozess: Sie kann bei politisch strittigen Themen Interessenlagen und Diskurse mit abweichenden Ergebnissen konfrontieren, insbesondere nach der Öffnung zahlreicher Archive nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Wenn etwa Zeitzeug_innenberichte wie der monumentalen „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ von Theodor Schieder und Werner Conze von 1954“ besondere Authentizität unterstellt wird, müssen diese transnational kontextualisiert und methodisch reflektiert werden. Das erschwert die Instrumentalisierung durch politische Akteure wie dem Bund der Vertriebenen. Und es öffnet den Blick für andere Opfer. Last but not least lassen sich so geschlechtsspezifische Besonderheiten in der Erfahrung zurück ins Blickfeld holen.
K. Erik Franzen geht auf die erinnerungspolitischen Funktionen des massenmedial inszenierten Opferdiskurses in der Bundesrepublik nach 1990 ein. Diese bestehen – trotz aller Universalisierungen – noch immer im Versuch, Flucht und Vertreibung von der Deportations- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zu entkoppeln (52). Das geschieht allerdings nicht mehr mit dem Ziel, innenpolitisch die Integration der Umgesiedelten zu fördern, sondern auch, um außenpolitisches Gewicht zu erzeugen und konkret auf die Diskussionen um den EU-Beitritt Polens und Tschechiens 2004 einzuwirken.

Monika Flacke und Ulrike Schmiegelt benennen einige Schwierigkeiten der Musealisierung europäischer Zwangsmigration, wie sie eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums mit dem Titel „Mythen der Nationen. Arena der Erinnerungen“ vornahm. Schon die Begriffe Flucht, Vertreibung, Deportation, Emigration oder Evakuierung weisen auf Probleme hin. Zum einen sind sie unscharf, zum anderen beschreiben sie ähnliche Phänomene: Beispielsweise „Flucht und Vertreibung“ haben sich in der Bundesrepublik als Sammelbegriff für die Zwangsmigration von Deutschen etabliert. Sie werden beispielsweise in Bezug auf die deutschsprachige Bevölkerung des ehemaligen Ostpreußens nicht unterschieden – allerdings beschreibt die „Emigration“ politisch und rassistisch Verfolgter aus Deutschland ab 1933 ebenso Phänomene der Flucht und Vertreibung. Diese deutschen Schwierigkeiten, Zwangsmigration auch forschungspraktisch zu kontextualisieren und einen neuen Blickwinkel auf „Flucht und Vertreibung“ einzunehmen, zeichnet Mathias Beer ideengeschichtlich nach.
Auf den Kampf der polnischen Umsiedler um Entschädigungen wirft Jerzy Kochanowski ein Licht. Deren Forderungen richten sich nicht an die heutige Ukraine oder Litauen, sondern an die polnischen Behörden, die jedoch diese Kosten vermeiden wollen. Eine gesellschaftliche Mehrheit betrachtet die ehemaligen polnischen Ostgebiete, die „Kresy“ ohnehin als „sentimentalen Mythos“ und Vergangenheit, die abgeschlossen werden sollte (73). Die Hauptursachen für die Zwangsmigration von Deutschen aus Tschechien und Jugoslawien 1944 – 1948 vergleicht Arnold Suppan. Sie erweisen sich als ähnlich und überwiegend reaktiv auf deutsche Politik und Verbrechen seit dem Münchner Abkommen von 1938.
Miloš Havelka stellt Konfliktlinien im tschechischen und (sudeten-)deutschen Kollektivgedächtnis dar und beklagt, dass geteilte Geschichte einer ideologisch-politischen Formierung von Gedächtnis vergessen wird. Zudem zeigt er eine tschechische Perspektive, die Zwangsmigration totalitarismustheoretisch als ethnische und soziale Homogenisierung begreift sowie NS und Kommunismus als Abfolge von Fremdherrschaft wahrnimmt. Diese Darstellung fällt allerdings etwas unkritisch aus.
Den Zugang zur Vertriebenenpolitik in der DDR wählt Michael Schwartz über die Literatur. Er beschäftigt sich mit der Tabuisierung von Vertreibung ab 1953, dem Euphemismus der „Umsiedlung“, die es zur Vertriebenen-Problematik gab, und dem Umgang damit in der ostdeutschen Politik und Literatur bis 1990. Seine Auseinandersetzung mit u. a. Anna Seghers, Christa Wolf und Heiner Müller bietet eine Anregung auch für den Deutschunterricht.

Die Erklärung zum internationalen Wissenschaftlichen Kolloquium „Ein europäisches Zentrum gegen Vertreibungen. Historische Erfahrungen – Erinnerungspolitik – Zukunftskonzeptionen“, die 2002 in Darmstadt stattfand, bildet den Abschluss des gut 100 Seiten starken Heftes. Konsens war unter anderem: Eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur muss den zukunftsorientierten, pädagogischen „Aspekt der wissenschaftlichen und mehrdimensionalen Vermittlung der historischen, politischen, sozialen und psychologischen Mechanismen, die zu den … Ereignissen und Verbrechen geführt haben“ und der Prävention von ethnischen Säuberungen zum Ziel haben (103).

Fazit und historisches Lernen

Den eigenen Ansprüchen wird die 1. Ausgabe der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ von 2003 gerecht. Nicht nur stellt sie den Forschungsstand sowie öffentliche Debatten zu Zwangsumsiedelungen im Kontext des Zweiten Weltkriegs dar und weist auf Defizite und offene Fragen hin. Zwar dominieren leicht die deutschen Forschungsperspektiven. Doch diese sind kritisch und im besten Sinne konstruktiv bezüglich eines sinnvollen, europäischen „Zentrums gegen Vertreibungen“.
Die einzelnen Beiträge liefern pointierte Zugänge zu den verschiedenen Dimensionen zwischen historiografischer Forschung, Gedächtnis und Erinnerungspolitik. Sie sind daher zu empfehlen für die Weiterbildung von Multiplikator_innen des historischen Lernens ebenso wie für die Anwendung in der Sekundarstufe II in den Fächern Geschichte, Sozialkunde, Politik und Deutsch.

Literatur:

Jürgen Danyel, Phillip Ther (Hg.): „Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive“: 1. Ausgabe der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“, Jahrgang Nr. 53, (2003) Metropol Berlin, 103 S.

Web-Download: http://www.metropol-verlag.de/_ftp/zfg_01_2003.pdf

 

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