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„Wer Sturm sät...“ Eine essayistische Streitschrift zur Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung in der deutschen Erinnerungskultur

Von  Anne Lepper 

Im Herbst 2000 gründete sich im Fahrtwind langjähriger geschichts- und medienpolitischer Auseinandersetzungen die dem „Bund der Vertriebenen“ (BdV) nahestehende Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ (ZgV). Deren erklärtes Ziel war und ist es auch heute noch, in Berlin eine zentrale Einrichtung zum Gedenken an die „Opfer von Vertreibung und Genozid“ und zur Verhinderung von „Völkervertreibungen weltweit“ zu errichten. In dem wissenschaftlichen Beirat, den die Stiftung kurz nach ihrer Gründung einberief, versammelten sich bald zahlreiche bekannte Persönlichkeiten aus dem breiten politischen, gesellschaftlichen und publizistischen Spektrum der Bundesrepublik – darunter auch einige jüdische Intellektuelle, die, teilweise unter Vorbehalt, ihre Unterstützung für die Umsetzung eines solchen Zentrums zugesagt hatten. Auch Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler und Publizist (in dieser Ausgabe mit einem Beitrag zu Schuld und Opfer-Empfinden der Deutschen im Kontext des Zweiten Weltkriegs vertreten), wurde von der Stiftung ersucht, im wissenschaftlichen Beirat des Zentrums mitzuwirken. Brumlik entschied sich jedoch nach anfänglichem Zögern gegen eine Mitarbeit und legte im Rahmen seiner 2005 im Aufbau-Verlag erschienenen Publikation „Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen“ eine ausführliche und öffentliche Stellungnahme zu dieser Entscheidung ab.

Das „Zentrum gegen Vertreibungen“ als Kristallisationspunkt einer erinnerungspolitischen Debatte

Die Diskussion um die Errichtung eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ in Berlin vergegenständlicht eine Debatte, die in der deutschen Nachkriegsgesellschaft von Beginn an kontrovers, jedoch dabei oft einseitig geführt wurde: die Frage nach dem erinnerungskulturellen und gedenkpolitischen Platz von Flucht und Vertreibung und damit von deutschen Opfernarrativen im Kontext von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Holocaust. Mit seiner Stellungnahme greift Brumlik aktiv in die Debatte um das Thema „Flucht und Vertreibung“ ein und fordert dadurch eine Neuausrichtung des Standes der Auseinandersetzung sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene. In seiner Arbeit, die der Autor selbst als essayistische Streitschrift verstanden sehen will, setzt er sich auf moralphilosophischer, völkerrechtlicher, historischer und psychologischer Ebene mit den die Debatte bestimmenden Fragen – nach den historischen Ursachen und Gründen von Flucht und Vertreibung, nach der politischen und moralischen Vertretbarkeit der Forderungen der Vertriebenenverbände, aber eben auch nach dem grundsätzlichen „Verhältnis von Holocaust und Vertreibung im kollektiven Gedächtnis der gegenwärtigen deutschen Nation“ (S. 15) – auseinander.

Annäherung an die Kernaspekte des Themas aus verschiedenen Richtungen

Jedes der sechs Kapitel, deren inhaltliche Verknüpfung sich dem/der Leser_in erst in der Gesamtschau entfaltet, eröffnet dabei den Blick auf die Thematik aus einer eigenen Perspektive. Dadurch entsteht eine Art Prisma, das das insbesondere vonseiten der Vertriebenenverbände oft einseitig und starr behandelte Thema aus einem multiperspektivischen Blickwinkel darzustellen vermag. Dadurch wird deutlich, dass es sowohl in der Analyse der Ursachen und Gründe für Flucht und Vertreibung als auch in der Positionierung des historischen Komplexes im kollektiven und kulturellen Gedächtnis Deutschlands eines gesellschaftlichen Diskurskorrektivs bedarf.
Das erste Kapitel dient dementsprechend zunächst einer historiografischen Hinführung und damit gleichzeitig einer persönlichen Standortbestimmung. Wenngleich die gewählte Form eines Essays als schriftlicher Beitrag zu einer öffentlichen Debatte nicht den Anforderungen einer klassischen zeithistorischen Studie gerecht werden kann, so nutzt der Autor das erste Kapitel doch zu einer geschichtswissenschaftlichen Neuausrichtung des historischen Gegenstandes. In seinem Versuch, die realgeschichtlichen Abläufe von Flucht und Vertreibung zu rekonstruieren und diese in den Gesamtkontext von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Nachkriegsgeschehen einzubauen, weist Brumlik immer wieder darauf hin, dass es ihm nicht um eine Nivellierung oder gar eine Negierung des Leides der (deutschen) Opfer geht. Es wird jedoch deutlich, dass die Ursachen und Gründe für deren Vertreibungen – bei denen es sich vielfach, das wird dank der definitorischen Differenzierungen des Autors noch einmal deutlich, um eine mehr oder minder selbst gewählte Flucht handelte (S.30ff) – nicht allein in den tatsächlichen nationalstaatlich und rassistisch motivierten Bemühungen der betreffenden Regierungen und einer Siegerjustiz der westlichen Alliierten zu suchen sind, sondern dass die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges zuallererst als Konsequenz einer das Jahrhundert durchziehenden völkisch-nationalistischen Um- und Aussiedlungspolitik gesehen werden muss. Diese, so vermag der Autor zu zeigen, wurde vom nationalsozialistischen Deutschland von Beginn an in besonderer Form vertreten und aktiv betrieben. Die Aussiedlungen der deutschen Minderheiten aus Pommern, Schlesien, Ostpreußen und dem Sudetenland müssen dementsprechend in einem „Tun-Ergehens-Zusammenhang“ (u.a. S. 66) eingeordnet werden, in dem also die Ursachen für Flucht und Vertreibung als unmittelbares Resultat der nationalsozialistischen „Umvolkungspolitik“, dem von Deutschland geführten Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug sowie der Illoyalität der deutschen Minderheiten gegenüber ihren Regierungen – insbesondere im Sudetenland – gesehen werden müssen.

Das Zweite Kapitel widmet sich schließlich der aktuellen politischen Debatte um das von Erika Steinbach und dem BdV geforderte „Zentrum gegen Vertreibungen“. Dabei verfolgt der Autor nicht allein die ausführlich und differenziert begründete Gegenrede gegen eine „auf nationalistischem Ressentiment aufbauende[...] Gedenkstätte“ (S. 160) sondern auch gegen die Unterstützung des Vorhabens sowohl auf politischer Ebene in Gestalt von CDU/CSU als auch auf gesellschaftlicher Ebene.
Unter anderem mit Blick auf die bereits 1950 verabschiedete und nach wie vor gültige „Charta der Heimatvertriebenen“, die, so zeigen die Ausführungen Brumliks, von zahlreichen ehemaligen Nationalsozialisten verfasst und unterzeichnet wurde, werden die unverhohlen revisionistischen und revanchistischen Absichten des BdV und des ZgV deutlich. Der in der Charta in jovialer Selbstgefälligkeit dargebrachte Verzicht auf „Rache und Vergeltung“ dient der Vorgabe einer vermeintlichen Versöhnlichkeit, wird jedoch von Brumlik zurecht als „Ungeheuerlichkeit“ entlarvt (S. 95). In dem Angebot eines Verzichts steckt grundsätzlich die Annahme eines (rechtlichen oder moralischen) Anspruchs, der jedoch im Falle der Vertriebenen als höchst problematisch gesehen werden muss. Die Annahme eines grundsätzlichen Anspruchs auf Rache und Vergeltung entspricht allerdings deren traditionellem Selbstbild als „der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen“ (S.93). Brumlik fordert auch an dieser Stelle eine Verhältnismäßigkeit, die zwar nicht das Leid der Vertriebenen relativieren, aber eben doch die Tatsache anerkennen soll, dass die Züge, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Richtung Westen unterwegs waren, in die „von britischen oder US-amerikanischen Truppen verwaltete Besatzungszone und eben nicht – wie nur knapp ein Jahr vorher aus Ungarn – in das Vernichtungslager und die Gaskammern von Auschwitz“ fuhren (S.88).

Die folgenden vier Kapitel dienen schließlich dazu, den Blickwinkel zu erweitern und „Flucht und Vertreibung“ in einem weiteren Kontext einzuordnen. Diesen Kontext bildet im dritten Kapitel die literarische Verarbeitung des Themas in der deutschen Nachkriegs-Belletristik, unter anderem in der Novelle „Im Krebsgang“ von Günther Grass. Dabei analysiert Brumlik die verschiedenen literarischen Werke unter den Aspekten von „Verantwortung und Verdrängung“ und zeigt dabei, dass sich die erlittenen Traumata nicht durch eine rückwirkende Erinnerungskultur bearbeiten lassen.
Im vierten Kapitel wird dann die Vertreibung der Deutschen in den Gesamtkontext eines 'Jahrhunderts der Vertreibungen' – vom jungtürkischen Genozid an den Armeniern zu den Verbrechen der Roten Khmer und den gewaltvollen Vorfällen in Jugoslawien – eingeordnet. Dabei geht es dem Autor insbesondere um eine definitorische Einordnung und Differenzierung der Begrifflichkeiten von Vertreibung und Genozid im Allgemeinen und im Speziellen.
Das fünfte Kapitel erscheint darauf aufbauend als eine moralphilosophische Auseinandersetzung mit den historischen Vertreibungsvorgängen sowie mit den politischen und gesellschaftlichen Diskursen um kollektive Schuld, Verantwortung, Sühne und Versöhnung.
Das sechste und letzte Kapitel bildet schließlich eine Brücke von den Vertreibungserfahrungen des 20. zu jenen des 21. Jahrhunderts. Dabei sollen vor allem die politischen Konsequenzen und gesellschaftlichen Reaktionen analysiert und kontextualisiert werden. Im Zentrum steht hier die Frage nach den Ursachen und der Entwicklung des palästinensischen Flüchtlingsproblems sowie die kritische Auseinandersetzung mit dem übergeordneten Projekt der Nationalstaaten.

Wo stehen wir heute?

Auf der Website der Stiftung ZgV findet sich auch heute, fast sechzehn Jahre nach seiner Gründung, immer noch die vage Information, man habe eine Stiftung ins Leben gerufen, um „nicht im eigenen Leide, in persönlichen traumatischen Erinnerungen zu verharren, sondern ein Instrument zu schaffen, das dazu beiträgt, Vertreibung und Genozid grundsätzlich als Mittel von Politik zu ächten.“ Spätestens 2008, als als Konsequenz aus der auf nationaler und internationaler Ebene kontrovers geführten Debatte um das ZgV die Bundesstiftung „Flucht Vertreibung Versöhnung“ gegründet wurde, wurde eine tatsächliche Realisierung des Projektes durch den BdV immer zweifelhafter. Stattdessen sah man sich nun auf Bundesebene mit dem Thema betraut und entwickelte verschiedene Konzepte für eine Dauerausstellung, die sich dem Thema „Flucht und Vertreibung“ auf differenzierte und diskurssensible Weise annehmen sollte. Als Ort für das geplante Vorhaben wählte man das im ehemaligen 'Zentrum der Macht' in unmittelbarer Nähe zur Berliner Wilhelmstraße gelegene Deutschlandhaus, das zu diesem Zwecke seit 2013 aufwändig renoviert und umgebaut wurde und noch immer wird.

Die Stiftung ZgV und der BdV, und dabei allen voran dessen Vorsitzende Erika Steinbach, arbeiten indes mit anhaltender Beharrlichkeit an der Verbreitung ihrer Thesen und der Realisierung ihrer Vorhaben. Drei von der Stiftung ZgV in den letzten Jahren konzipierte Ausstellungen wandern derzeit einzeln und als Trilogie unter dem Titel „HeimatWEH“ durch die Bundesrepublik. Es zeigt sich also, dass, auch wenn der Errichtung eines Gedenkortes an zentraler Stelle durch den BdV durch die Stiftung „Flucht Vertreibung Versöhnung“ in den letzten Jahren der Wind aus den Segeln genommen wurde, die Diskussion um den Platz von „Flucht und Vertreibung“ und damit dem gesamten Opferdiskurs in der deutschen Erinnerungskultur nach wie vor von größter Bedeutung ist.

Die Publikation Brumliks, die vom Autor als dem Kontext jener Zeit entsprungene „Streitschrift“ gedacht war, hat also an Aktualität nicht verloren. Aufgrund ihrer sowohl differenzierten und ausführlichen Überlegungen und Darstellungen als auch ihrer provokativen Thesen und Argumente, muss sie als eines der wichtigsten Beiträge zu der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Thema überhaupt betrachtet werden. Anders als viele andere Publikationen, die sich in den letzten Jahren der historischen Debatte um Verantwortung und Opferstatus der Deutschen angenommen haben, eröffnet die Arbeit Brumliks tatsächlich eine neue Perspektive auf die historischen Abläufe und die historiografische Einordnung dieser. Sie sollte deshalb als unabdingbare Grundlage für eine weitere, sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene geführten Debatte dienen.

 

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