Damit es die ganze Welt erfährt. Von Saloniki nach Auschwitz und zurück.
Von Anne Lepper
„Fünfzig Jahre danach ist noch alles lebendig in mir. Obwohl der Schmerz abgestumpft ist, mein Erstaunen und meine Überraschung werden jedes Mal größer, angesichts des Unverständlichen, was die menschliche Seele mit keiner Rechtfertigung, mit keiner Erklärung akzeptieren kann […]. So viele Jahre sind vergangen, und ich konnte nicht erzählen, konnte nicht sprechen über die zweieinhalb Jahre, die ich im Konzentrationslager verbrachte, ohne etwas getan zu haben, um dieses Schicksal zu verdienen. Ich bin als Jüdin geboren, nur deshalb. Und plötzlich war es, als wäre eine Tür in meinem Gehirn geöffnet worden.“
Nachdem sich diese Tür in ihrem Gehirn geöffnet hatte, holte Erika Kounio-Amariglio alles heraus, was sie dort noch finden konnte. Es war keine leichte Aufgabe für sie, denn was sie dort fand, waren traumatische Erinnerungen an die Verfolgung, das Lager und den Tod. Doch es waren auch die Erinnerungen an Freundschaft, Solidarität und Hoffnung – jene Erfahrungen, die sie damals überleben ließen und die sie fünfzig Jahre später dazu ermutigten, weiter in ihrem Gedächtnis zu forschen und alles aufzuschreiben.
Eine multikulturelle jüdische Familie in Saloniki
Erika Kounio-Amariglio wuchs in bürgerlichen Verhältnissen am Rande der nordgriechischen Stadt Saloniki auf. Ihr griechischer Vater betrieb in der Stadt, in der vor dem Holocaust die größte sephardische Gemeinde Europas lebte, ein namhaftes Fotogeschäft. Ihre Mutter, Tochter des renommierten jüdischen Architekten Ernst Löwy aus Österreich, wuchs in Wien und Karlsbad in gut situierten Verhältnissen auf und brach 1925 ihr Medizinstudium in Leipzig ab, um in Saloniki mit ihrem Mann ein neues Leben zu beginnen. Mit der Hilfe Ernst Löwys baute das junge Paar ein Haus direkt am Meer, in dem sie sich niederließen und zwei Kinder bekamen – 1926 Erika und ein Jahr später Heinz. Erika und ihr Bruder erlebten im Saloniki der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre eine glückliche und unbeschwerte Kindheit, frei von materiellen Sorgen und Ängsten. Sie verbrachten im Sommer jedes Jahr mehrere Wochen bei ihren österreichischen Großeltern und hatten in Saloniki einen weitreichenden Freundes- und Bekanntenkreis, der sowohl jüdische als auch nicht jüdische Familien umschloss. Zwar war sich die Familie Kounio ihrer jüdischen Herkunft durchaus bewusst und pflegte die verschiedenen, vonseiten des Vaters sephardisch, vonseiten der Mutter aschkenasisch geprägten Traditionen, doch waren den Kindern bis Ende der 1930er Jahre Diskriminierungen aufgrund ihres Jüdischseins vollkommen fremd.
Erste Erfahrungen von Antisemitismus
1939 beschloss die Familie unter den Eindrücken der Novemberpogrome von 1938 und der Zerschlagung der Tschechoslowakei im März 1939, im Sommer zum ersten Mal nicht nach Karlsbad in die Ferien zu fahren. Stattdessen kamen die Großeltern nach Griechenland, nicht in den Urlaub, sondern um dort zu bleiben. Was das bedeutete, darüber waren sich die Kinder Erika und Heinz nicht bewusst, sie freuten sich zunächst noch recht unbekümmert über die dauerhafte Anwesenheit ihrer Großeltern. Anders als die Großmutter war der Großvater, Ernst Löwy, mit gemischten Gefühlen aus seiner Heimat fortgegangen. Er hatte im Ersten Weltkrieg als Hauptmann auf deutscher Seite gekämpft und glaubte aus voller Überzeugung an die Rechtschaffenheit und die zivilisatorischen Grundsätze des deutschen Volkes – ein Glaube, der ihm einige Jahre später zum Verhängnis werden sollte, als er freiwillig sein Versteck bei einer christlichen Familie aufgab und sich mit all seinen Auszeichnungen und Diplomen selbst bei der Gestapo meldete, die ihn daraufhin geradewegs in die Gaskammern von Auschwitz führte.
Ausgrenzung, Verfolgung und Deportation
In ihren Erinnerungen schildert Erika Kounio-Amariglio, in welch rasendem Tempo die Radikalisierung im Rahmen der Verfolgungsmaßnahmen gegen die Juden Salonikis von den deutschen Besatzern im Frühjahr 1943 betrieben wurde. Am 8. Februar 1943 informierte man die jüdische Bevölkerung darüber, dass von nun an auch in Griechenland die Nürnberger Gesetze Anwendung finden würden. Juden und Jüdinnen war es damit verboten, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen und das Tragen des gelben Sterns wurde zur Pflicht. Parallel dazu wurde mit der Zentralisierung der jüdischen Bevölkerung in Ghettos begonnen, die bereits am 25. Februar ihren Abschluss fand. Das Leben der Ghettobewohner_innen wurde jedoch schon kurze Zeit später erneut auf den Kopf gestellt, als am 20. März die Deportationen nach Auschwitz begannen. In ihren Erinnerungen beschreibt Erika Kounio-Amariglio, wie die Verordnungen, Verbote und Bekanntmachungen im Frühjahr 1943 auf die jüdische Bevölkerung geradezu einprasselten. Verunsichert, eingeschüchtert und überfordert konnten die meisten nur reagieren, ein selbstbestimmtes Handeln und Versuche zur eigenen Rettung waren unter diesen Umständen praktisch nicht möglich.
Die Kounios, völlig verzweifelt ob der neuen Lebensumstände im Ghetto, entschieden sich dazu, freiwillig den ersten Transport nach Auschwitz – von dem sie damals noch nicht wussten, was es bedeutete – zu besteigen. Dieser Umstand stellte sich für die Familie als „glücklicher Zufall“ heraus, da sie die einzigen in dem 2800 Personen umfassenden Transport waren, die deutsch sprachen. In Auschwitz angekommen, wurden sie daher direkt von der Gruppe abgesondert und – die beiden männlichen Familienangehörigen von den weiblichen getrennt – als Dolmetscher_innen für die nun stetig eintreffenden griechischen Gefangenen eingesetzt. Erika und ihre Mutter kamen kurze Zeit später in die „Politische Abteilung“, die Gestapo-Dienststelle von Birkenau, wo sie als „Schreiberinnen des Todes“ all die Verbrechen dokumentierten und archivierten, die die Deutschen später zu vertuschen versuchten. Beide arbeiteten bis zum Schluss für die „Politische Abteilung“, ab Juni 1943 als zwei der wenigen Frauen im Stammlager von Auschwitz.
Erika Kounio-Amariglio versuchte sich all das, was sie während ihrer Arbeit für die „Politische Abteilung“ sah und las, so gut sie konnte zu merken. Sie wollte später, sollte sie das Lager überleben, Zeugnis ablegen von dem, was sie gesehen hatte, „damit es die ganze Welt erfährt“.
Im Januar 1945 trieb man Erika und ihre Mutter auf einen der Todesmärsche. Sie erreichen nach einigen schrecklichen, eisigen Tagen das KZ Ravensbrück, von dem sie zwei Wochen später in ein Außenlager, das Arbeitslager Malchow, gebracht wurden. Am 1. Mai mussten sich die Frauen jedoch erneut auf einen Todesmarsch begeben. Die Straßen waren gesäumt von toten KZ-Häftlingen, die vor Entkräftung gestorben oder bei dem Versuch zu fliehen erschossen worden waren. Dennoch entschieden sich Erika und ihre Mutter gemeinsam mit drei anderen Griechinnen für die Flucht. Sie konnten entkommen, und die Frauen verstecken sich in einer alten Scheune, wo sie die Ankunft der Roten Armee erwarteten.
Befreiung – und dann?
Nach der Befreiung verbrachten Erika und ihre Mutter einige Zeit in einem sogenannten DP-Camp (Displaced Persons), bevor sie mit einigen Bekannten nach Belgrad reisten in der Hoffnung, von dort aus leichter nach Griechenland gelangen zu können. Dort erfuhren sie von einem in der Schweiz lebenden Verwandten, dass wie durch ein Wunder auch der Vater und der Bruder Auschwitz und den Todesmarsch überlebt hatten und in Saloniki bereits sehnsüchtig die Ankunft der beiden Frauen erwarteten. Mehr als zwei Jahre nach ihrer Deportation war die Familie im Sommer 1945 vereint und konnte in ihrer Heimatstadt ihr altes, neues Leben wieder aufnehmen. In ihren Erinnerungen schildert Erika Kounio-Amariglio jedoch auch die Schwierigkeiten, mit denen die wenigen Heimkehrenden zu kämpfen hatten. Ohne die traumatischen Erfahrungen des Krieges und der Verfolgung verarbeitet zu haben, fanden sie sich in einer Stadt wieder, die nicht mehr viel gemein hatte mit der, die sie 1943 verlassen hatten. Ganze Familien waren ausgelöscht worden, ihre Häuser waren entweder verwahrlost oder von nicht jüdischen Familien bewohnt, das Eigentum zum Großteil verloren bzw. geraubt und in Griechenland tobte ein Bürgerkrieg. Dennoch war die Zeit geprägt von Hoffnung und Neuanfang, wie viele der Überlebenden heiratete auch Erika Kounio-Amariglio bereits kurze Zeit nach ihrer Rückkehr und gründete eine eigene Familie.
Damit die ganze Welt es erfährt
Das Buch von Erika Kounio-Amariglio, das 1996 im Hartung-Gorre Verlag erschienen ist, ist ein bewegendes Zeugnis einer jungen Frau, die trotz der entmutigenden und traumatischen Erfahrungen, die sie in ihrer über zwei Jahre andauernden Gefangenschaft erleben musste, nie die Hoffnung aufgab. Gemeinsam mit ihrer Mutter kämpfte sie um das Überleben, um ihre Angehörigen wiederzusehen und von dem Erlebten zu berichten. In ihren Aufzeichnungen synchronisiert sie ihre eigenen Erinnerungen mit dem von Danuta Czech herausgegebenen „Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau“. Durch die von ihr so hergestellte Kontextualisierung, basiert ihr Zeugnis auf einer historisch-wissenschaftlichen Genauigkeit, die das Erzählte leicht in die übergeordneten Vorgänge und Geschehnisse einordnen lässt. Nicht nur deshalb, sondern auch, weil das Buch Erika Kounio-Amariglios eines der sehr wenigen Zeugnisse griechisch-jüdischer Überlebender darstellt, ist die Lektüre daher sehr zu empfehlen.
Literatur
Lore Shelley: Schreiberinnen des Todes. Lebenserinnerungen von Frauen, die in der Verwaltung des Vernichtungslagers Auschwitz arbeiten mussten. AJZ Verlag, Bielefeld 1992. 382 Seiten.
Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945. Rowohlt Verlag, 1989 (2. Auflage). 1060 Seiten.
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- 27/01/2016 - 07:28