„Leistet nichts. Zu schwach. Nicht einsatzfähig.“ Hintergründe zu den Gräbern ausländischer Patientinnen und Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg
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Content-Author: Ingolf Seidel You have to be logged in to view the profile
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Von Nadja Grintzewitsch
Ausländische Patient_innen in nationalsozialistischen Heil- und Pflegeanstalten wurden gleich doppelt diskriminiert: Neben einer vermuteten oder tatsächlichen psychischen Krankheit war es auch ihre Herkunft, die den Ärzten ein willkommener Anlass war, neben der gezielten Vernachlässigung ihrer Schutzbefohlenen auch vor Mord nicht zurückzuschrecken.
Carola S. Rudnick hat sich in ihrer neuen Studie den über 80 Gräbern der Kriegsgräberstätte auf dem Lüneburger Friedhof Nord-West gewidmet. Grundlage bildeten Materialien aus dem Niedersächsischen Landesarchiv und dem Stadtarchiv Lüneburg, hauptsächlich Krankenakten und Begräbnislisten des Friedhofs. Gemeinsam mit 46 Auszubildenden der Pflegeberufe recherchierte sie in mehrtägigen Seminaren 45 fragmentarische Lebensgeschichten von Menschen, die in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg ums Leben kamen. Unter den Verstorbenen befanden sich unter anderem Zwangsarbeiter_innen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung von ihren Arbeitgeber_innen gemeldet und nach Lüneburg verlegt worden waren. Die Patient_innen kamen aus 13 verschiedenen Ländern und starben vergleichsweise jung: Das Durchschnittsalter der Frauen lag bei ca. 30 Jahren, das der Männer bei 35 Jahren. Etwa ein Drittel der Patientenakten blieb erhalten.
Aufbau
Ausführlich beschreibt die Autorin zunächst die Geschichte der Kriegsgräberstätte Lüneburg und geht auch auf die Schwierigkeiten der verschiedenen Namensschreibweisen der Opfer ein. Letzteres ist vor allem auf menschliches Versagen zurückzuführen: Gleich mehrfach passierten Übertragungsfehler in den vorhandenen Namenslisten, Sterbedatum und Tag des Begräbnisses wurden gleichgesetzt. Wo es ihr möglich war, rekonstruierte Carola S. Rudnick die Schreibweisen und Lebensdaten der Opfer. Im weiteren Verlauf der Studie sind Fallbeispiele nachzulesen, die in Zusammenarbeit mit den Jugendlichen entstanden. Hierbei wurde nach Todesumständen unterteilt. Im Folgenden sollen einige Beispiele aus der Studie genannt werden.
Todesursache: Gezielte Vernachlässigung
Es waren, wie bereits bekannt, vor allem Mangelernährung und Medikamentenüberdosierungen, mit denen Patient_innen der nationalsozialistischen Heil- und Pflegeanstalten in der sogenannten zweiten Phase der Krankenmordaktionen ab Sommer 1941 getötet wurden. Aber auch das Desinteresse der Ärzte an den Kranken führte zu zahlreichen Todesfällen. In mindestens einem nachgewiesenen Fall aus Lüneburg war dem Arzt Dr. Rudolf Redepenning seine Weihnachtspause offenbar wichtiger als ein Menschenleben. So wurde der sowjetische Landarbeiter Stephan Lapikow gemeinsam mit 33 anderen Patient_innen Mitte Dezember 1944 in Lüneburg eingewiesen. Die erste Aufnahmeuntersuchung durch Redepenning fand jedoch erst am 3. Januar 1945 statt, also gut drei Wochen später. Zu diesem Zeitpunkt war der 37-jährige Patient bereits zwei Wochen tot. Die angebliche Todesursache: Erschöpfung „ohne besondere Krankheitserscheinungen“ (S. 67).
Der Handlungsspielraum der Ärzte wird an diesem Beispiel deutlich. Die weiblichen Neuankömmlinge wurden zwar zum selben Zeitpunkt im Dezember 1944 eingeliefert, jedoch in einem anderen Haus untergebracht und unterstanden einem anderen Arzt. In ihrem Fall hielt der namentlich unbekannte Arzt alle Formalien ein. Die erste Untersuchung fand einen Tag nach Ankunft der Patientinnen unter Anwesenheit eines Dolmetschers statt. Aus den Akten ist zu entnehmen, dass dementsprechend auch die Überlebensrate der eingelieferten Frauen vom Dezember 1944 geringfügig höher war als die der Männer.
Diskriminierung bis zum Tod und darüber hinaus
Erschreckend oft ist in den Krankenakten vermerkt, in welch schlechtem Zustand die Patient_innen bereits in der Heil-und Pflegeanstalt Lüneburg ankamen. Häufig waren sie völlig abgemagert und mit Ungeziefer übersät. Dies ist ein sicherer Hinweis darauf, dass die vorsätzliche Unterversorgung und Vernachlässigung bereits in den Zwangsarbeiterlagern begann. In Lüneburg setzte sich diese Behandlung fort. Blutuntersuchungen wurden bei den ausländischen Erkrankten meist nicht angeordnet, auch Fieberkurven oder Wiegetabellen suchten die Forscher_innen in den Krankenakten oft vergeblich. Carola S. Rudnick merkt an, dass die behandelnden Ärzte im Vergleich auch viel ausführlichere Einträge zu deutschen Patient_innen machten. Zudem wurden im Todesfall die Eltern ausländischer Patient_innen eher nicht benachrichtigt (S.29), obwohl die Kontaktdaten in vielen Fällen bekannt waren. Und nicht zuletzt: Dass bestimmte Krankheitsbilder möglicherweise durch Kriegserlebnisse, Zwangsarbeit oder Trennung von der Familie ausgelöst wurden, spielte für die behandelnden Ärzte keine Rolle. Gleich mehrfach wird in den Artikeln der Studie auf diesen Umstand hingewiesen.
Mordaktionen an Kindern
Ein besonderes Augenmerk der Studie liegt auf der Gruppe von Kindern mit Behinderungen, die entweder als Kinder von Zwangsarbeiterinnen geboren wurden oder als Kinder ausländischer Flüchtlinge im Zuge des Vorrückens alliierter Truppen nach Deutschland kamen. Von den einstmals 305 Kindergräbern der Kinderfachabteilung Lüneburg sind heute nur vier erhalten, auch weil minderjährige Tote nicht explizit unter die Fassung des Kriegsgräbergesetzes von 1952 fielen. Carola S. Rudnick kommt zu dem Schluss, dass die Schwelle zur Ermordung bei ausländischen Kindern mit Behinderungen besonders niedrig lag (S. 119). Zum einen ließen sich die Morde besonders gut vertuschen. Waren die Eltern nämlich in Zwangsarbeiterlagern untergebracht, so war mit Besuch nicht zu rechnen. Zum anderen bedeuteten die Kinder aufgrund der Sprachbarriere für das Klinikpersonal offenbar eine zusätzliche Belastung. Und nicht zuletzt verursachte die Pflege der ausländischen Kinder auch Kosten, welche die Heil- und Pflegeanstalt nicht auf die Eltern umlegen konnte und nur unter Mühe vom Staat zurückerstattet bekam.
Es macht einen stutzig, dass in einigen Krankenakten gleich mehrfach Besuche der Eltern zu erkennen sind, die jedoch nicht dem Kind, sondern dem behandelnden Arzt galten. Meist verstarben die Kinder anschließend innerhalb weniger Wochen. Was genau die Eltern mit den Ärzten im mündlichen Gespräch vereinbarten, kann man nur mutmaßen. In den Aktenauszügen und der schriftlichen Korrespondenz mit den Eltern – beides dankenswerterweise oft gleich im Original mit abgedruckt – lassen sich keine Hinweise auf Mordabsprachen finden. Ausgeschlossen ist dies jedoch nicht.
Auseinandersetzung mit der Nachkriegsgeschichte
Ein besonderer Verdienst der Studie von Carola S. Rudnick ist, dass sie sich auch der Nachkriegspsychiatrie widmet. In den dreitägigen Seminaren in der Gedenkstätte Lüneburg stellten die Jugendlichen fest, dass die Sterberate in den Anstalten nach Mai 1945 fast unverändert hoch war. Die Tatsache, dass 1945 und 1946 noch zahlreiche Patient_innen starben, wird auf die schlechte allgemeine Versorgungslage im Nachkriegsdeutschland zurückgeführt. Jedoch bleibt nicht unerwähnt, dass die behandelnden Ärzte und Krankenpfleger_innen, die sich an Krankenmorden beteiligt hatten, noch monate-, teilweise jahrelang in den Kliniken beschäftigt blieben. Einige Fälle jedoch machen stutzig. So starb die 47-jährige Thekla Horeczka im September 1945 angeblich an „Typhus abdominales“, dies wurde auch so in ihre Todesurkunde eingetragen. Aus der gleichen Krankenakte geht jedoch hervor, dass in ihrem Stuhl keinerlei Typhuserreger nachgewiesen worden waren. Behandelnder Arzt war Dr. Gustav Marx, NSDAP-Mitglied seit 1933 und seit 1936 in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg tätig.
Aufgelockert werden die Texte durch Fotos, die die Auszubildenden während der Seminare in der Gedenkstätte Lüneburg offenbar als „Erinnerungszeichen“ aufnahmen. Ein Infusionsbeutel mit Kochsalzlösung, kombiniert mit den Worten „Das hätte gereicht!“; eine altertümliche Spritze auf einer Bettdecke; eine Tonmaske, der Mund wie zu einem Schrei verzerrt, umgeben von Immergrün. Nicht immer sprechen die Bilder für sich, an manchen Stellen hätte man sich eine ausführlichere Bildunterschrift oder einen Kommentar eines oder einer Teilnehmer_in gewünscht. Dies tut der verdienstvollen Regionalstudie insgesamt jedoch keinen Abbruch. Es wäre wünschenswert, wenn sie in Zukunft Nachahmer_innen findet, die sich mit der doppelt stigmatisierten Opfergruppe der ausländischen Patient_innen, insbesondere aber auch mit der deutschen Nachkriegspsychiatrie auseinandersetzen.
Dr. phil. Carola S. Rudnick, Studium der Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg, 2004 Magisterabschluss, 2005-2009 Graduierten-Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2009-2011 Leitung des Pädagogischen Zentrums der Gedenkstätte Bergen-Belsen, 2011 Promotion in Geschichte zum Thema „Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989“, seit 2011 freiberuflich tätig, 2012-2015 Projektleitung des aus ESF-Mitteln geförderten Projektes „Vielfalt achten, Teilhabe stärken. Lüneburger Inklusionsschulung“, wissenschaftliche und pädagogische Leitung der „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg.
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- 27/01/2016 - 07:28